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Produktdetails
  • Verlag: GB Gardners Books / W&N
  • Seitenzahl: 190
  • Englisch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 349g
  • ISBN-13: 9780297642992
  • Artikelnr.: 56877318
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2000

Wer hat an der Uhr gedreht?
Ist es wirklich schon zu spät? Stewart Brand denkt an das Jahr 12000

Kurzfristige Planung liegt bei einem Tag, mittelfristige bereitet das nächste Quartal vor, längerfristige das kommende Jahr. Alles, was an Zeit über ein Jahr hinausreicht, bleibt für die Alltagsgegenwart aus Eigenzeit und Arbeitszeit üblicherweise Fernzeit. Langzeitprojekte, die in besonderem Maße der Kontinuitätssicherung bedürfen, sind daher auf institutionelle Organisationen angewiesen. Die Organisation unterstreicht zwecks Legitimationsgewinn nicht selten die zeitliche Größe ihres Projekts. Da nun aber, wie die klassische Ästhetik lehrt, die Idee der Größe das Gefühl des Erhabenen erweckt, stellt sich die Frage, ob sich Erhabeneres empfinden läßt als eine Projektidee, die nicht zehn, nicht hundert, nicht tausend Jahre umfaßt, sondern deren zehntausend.

Zehntausend Jahre. Magie der runden Zahl, Magie der Zahlensymmetrie. Denn vor zehntausend Jahren, am Ende der letzten Eiszeit, gewann die menschliche Kultur jene Eigendynamik, durch die sie auf die Höhe der heutigen Informations-, Gen- und Nanotechnik, der Teilchen- und Astrophysik geführt wurde. 1996 haben sich in den Vereinigten Staaten namhafte Informatiker, Zukunftsforscher, Vordenker der globalen Vernetzung und Künstler getroffen und im Bewußtsein der Zukunftsrelevanz des wissenschaftlich Erreichten die "Long Now Foundation" gegründet. Stewart Brand, neben Daniel Hillis und Brian Eno eines der Gründungsmitglieder, stellt die Projektidee dieser Stiftung in einem Buch vor, dessen locker gefügte Kapitel flott zu lesen sind und das ausdrücklich zum Besuch der Homepage einlädt, aus der es in Teilen selbst hervorgegangen ist (www.longnow.org).

Das Projekt beruht auf dem Grundgedanken, daß die Verantwortung für die Zukunft um so weitreichender sei, je rascher und höher das technische Leistungswachstum steige. "Verantwortung bedeutet heute nichts anderes", erklärt Brand, "als sich der Folgen langer Entwicklungszeiten und zeitversetzter verborgener Auswirkungen bewußt zu werden." Anhand des Begriffspaares kairos und chronos umreißt er den Gegensatz von kurzfristigem und langfristigem Denken und Handeln. Sicherlich kein ganz neuer Gegensatz und sicherlich keiner, der durch die Wahl des begriffsgeschichtlichen Bezugs an Genauigkeit gewinnt. Denn kairos bezeichnet gerade nicht eine Art beständige Gegenwartsausrichtung, sondern den unverfügbaren, gleichsam gewährten Moment erfüllten Erlebens. Sei es, wie es ist. Am berechtigten Einsetzen für das Prinzip Verantwortung ändert dies nichts. Mit zwei geplanten Einrichtungen möchte die "Foundation" dieses Prinzip weltkulturell festschreiben: Uhr und Bibliothek.

Bei der Uhr, deren Prototyp Daniel Hillis entwickelt hat, wird das Ziffernblatt mit feststehendem Zeiger von mehreren Ringen umlaufen, von denen sich das Jahr nach dem Gregorianischen Kalender, die Stunde anhand der Position zur Sonne, die Mondposition sowie die Position des Sternenhimmels ablesen lassen. Ihre Ganggenauigkeit, so Stewart Brand, ist auf zehntausend Jahre exakt. Die Zeitanzeige der Millenniumsuhr stellt den größtmöglichen Gegensatz zur Messung in Nanosekunden dar und folgt darin der vierten Richtlinie der Stiftung: "Auf mythische Tiefe achten." Auf mythische Tiefe achtet Brand auch beim Vorstellen des Bibliothekprojekts. Pate steht die Bibliothek von Alexandria, das Projekt selbst hat die Dimension jenes Unterfangens in einer Erzählung von Borges, bei der alles Land im Maßstab eins zu eins kartiert wird.

So unbedingt erforderlich eine Verantwortungsethik ist, die über Legislaturperioden und Zeitarbeitsverträge hinausdenkt, die "Long Now Foundation" bietet in dieser Hinsicht wenig mehr als Schauder vor der Erhabenheit der eigenen Sache und das selbstbegeisterte Vertrauen darauf, daß es Verdinglichung schon richten wird. In den Worten Stewart Brands: "Das ambitionierte und ,irrationale' Ziel des Projekts Uhr/Bibliothek ist es, dem Denken einen neuen Orientierungsrahmen zu geben, und zwar nicht in Form einer Theorie, sondern eines Dings - dessen einzige Fähigkeit darin besteht, Denken in großen Zeiträumen zu ermöglichen." Ein solches Ding darf rundum und zuinnerst ein Ding der Theorie genannt werden, und einer verstiegenen obendrein.

RALF DROST

Stewart Brand: "Das Ticken des langen Jetzt". Zeit und Verantwortung am Beginn des neuen Jahrtausends. Aus dem Amerikanischen von Martin A. Baltes. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 196 S., br., 32,- DM.

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