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Spätestens seit seinem Weltbestseller "Middlesex" wissen wir, dass Jeffrey Eugenides über Liebe, Ehe und Identitätskrisen wie kaum ein Zweiter schreiben kann. Die Sammlung von Erzählungen, in Amerika seine erste überhaupt, zeigt ihn nun wieder auf der Höhe seiner Kunst. "Das große Experiment " handelt von Menschen, die in Schwierigkeiten stecken - meist sind es Ehepaare, Paare. Da ist ein Familienvater, der im Garten an der Feuerstelle sitzt und auf sein Haus schaut, das er nach einem Seitensprung nicht mehr betreten darf. Da ist ein junges Mädchen, das von den indischen Eltern an einen…mehr

Produktbeschreibung
Spätestens seit seinem Weltbestseller "Middlesex" wissen wir, dass Jeffrey Eugenides über Liebe, Ehe und Identitätskrisen wie kaum ein Zweiter schreiben kann. Die Sammlung von Erzählungen, in Amerika seine erste überhaupt, zeigt ihn nun wieder auf der Höhe seiner Kunst.
"Das große Experiment " handelt von Menschen, die in Schwierigkeiten stecken - meist sind es Ehepaare, Paare. Da ist ein Familienvater, der im Garten an der Feuerstelle sitzt und auf sein Haus schaut, das er nach einem Seitensprung nicht mehr betreten darf. Da ist ein junges Mädchen, das von den indischen Eltern an einen Unbekannten verheiratet werden soll; um dem zu entgehen, verführt sie einen Mann, der nicht weiß, dass sie noch minderjährig ist, und wirft ihn dadurch aus der Bahn. Da ist ein Lektor, der viel arbeitet und trotzdem so wenig verdient, dass seine beiden Kinder oft woanders übernachten müssen, weil zu Hause das Geld fürs Heizen fehlt; also beschließt er, sich das dringend Benötigte selbst zu beschaffen, und veruntreut das Vermögen seines Chefs. Da ist die 88-jährige Della, die mit einer Demenz-Diagnose in ein Pflegeheim kommt; ihre langjährige Freundin entführt sie trotz Schneesturm-Warnung aus der Stadt. Und schließlich ist da noch die junge Frau, die sich per Bratenspritze ihren Kinderwunsch erfüllen will.
Verkappte Romane oder doch eher nicht? Jeffrey Eugenides, der "Epiker" unter den amerikanischen Romanautoren, ist auch ein Meister der kleineren Form - das zeigen diese virtuos komponierten und mit großer Menschenkenntnis erzählten Geschichten.
Autorenporträt
Eugenides, JeffreyJeffrey Eugenides, geboren 1960 in Detroit/Michigan, bekam 2003 für seinen weltweit gefeierten Roman "Middlesex" den Pulitzer-Preis und den "Welt"-Literaturpreis verliehen. Sein erster Roman "Die Selbstmord-Schwestern" wurde 1999 von Sofia Coppola verfilmt. Außerdem veröffentlichte er die Anthologie "Der Spatz meiner Herrin ist tot. Große Liebesgeschichten der Weltliteratur" und den Roman "Die Liebeshandlung", für den er den Prix Fitzgerald und den Madame Figaro Literary Prize erhielt. Er lehrt als Lewis and Loretta Glucksman Professor Amerikanische Literatur an der New York University in New York.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

"Das große Experiment" ist die perfekte Überschrift. Obgleich vom Originaltitel ("Fresh Complaint") weit entfernt, bringt sie jede von Jeffrey Eugenides' zehn Kurzgeschichten auf den Punkt. Denn in jeder Erzählung stellen die Charaktere ihren Alltag auf den Kopf, probieren etwas Neues. Mit weitreichenden Konsequenzen. Der Wissenschaftler Matthew, sonst Gravitationswellen und Galaxien zugetan, schläft mit einer 16-Jährigen. Die Journalistin Tomasina geht auf Sperma-Jagd und befruchtet sich selbst, mithilfe einer Bratenspritze. Cathy wiederum entführt ihre demenzkranke Freundin, als diese in ein Pflegeheim soll. Mitchell, eine Figur aus Eugenides' früherem Buch "Die Liebeshandlung", experimentiert dagegen auf seiner Indienreise eher harmlos mit Lebensmitteln. Aber auch das hat unschöne Folgen. Alle Geschichten lesen sich fein. Obgleich Eugenides manche von ihnen in den 1990ern und andere erst letztes Jahr geschrieben hat, bringen sie ihre Leser gleichermaßen zum Schmunzeln und Stutzen - hauptsächlich aufgrund der Unreife und Unüberlegtheit ihrer Protagonisten. Mit den Kurzgeschichten entfernt Eugenides sich von seiner bewährten literarischen Form des Romans - das Experiment glückt nicht ganz, das Können des Autors kommt nicht voll zur Geltung.

© BÜCHERmagazin, Anna Gielas

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2018

Ein Cembalo geht flöten
Jeffrey Eugenides evaluiert "Das große Experiment"

Als ihm sein schwerreicher Chef Sozialleistungen verweigert, empfindet das der junge Lektor Kendall als derart ungerecht, dass er sich vom Buchhalter des Verlags in Chicago überreden lässt, den Chef mit fingierten Rechnungen zu betrügen. Zugleich arbeitet er an einer gekürzten Ausgabe von Alexis de Tocquevilles "Über die Demokratie in Amerika", das der Verleger unbedingt für die heutigen Leser herausbringen möchte. Erst diese Arbeit verschafft ihm die lang entbehrte Anerkennung durch den Chef, der am Ende auch noch ahnt, dass etwas mit den Abrechnungen nicht stimmt - und ausgerechnet Kendall zu seinem Vertrauten in dieser Sache macht. Die ersten Worte von Jeffrey Eugenides' Erzählung "Das große Experiment", im amerikanischen Original vor zehn Jahren und nun auch auf Deutsch erschienen, erweisen sich vor diesem Hintergrund als Kippfigur: "Wenn du so schlau bist, wieso bist du dann nicht reich?" hatte Kendall nach langem Zögern als Aufforderung genommen, seine Intelligenz für sein persönliches Fortkommen zu nutzen, durch Geschäftssinn, durch Betrug. Nun stellt sich die Frage, wie weit es mit der Schläue des Lektors tatsächlich her ist - oder ob dem Satz selbst ein falscher Schluss zugrunde liegt.

In seinem Erzählungsband, dem "Das große Experiment" auch den Titel gibt, versammelt Eugenides zehn Texte aus dreißig Jahren; ein gewichtiger Teil von ihnen ist in den späten Neunzigern entstanden, es finden sich aber auch zwei, die ganz frisch sind. Sie handeln von künstlicher Befruchtung, Sexforschern, einem ehebrecherischen Radiomoderator, zwei alten Frauen im Clinch mit den Anforderungen der Gesellschaft oder einem Erleuchtung suchenden jungen Amerikaner mit tagelangem Durchfall.

Was sie verbindet, erschließt sich erst auf den zweiten Blick: Eugenides sucht ersichtlich das Staunen seiner Figuren, er spürt es auf und stellt es dar, ohne ihm dabei seine Dringlichkeit zu nehmen, ohne die Überwältigung der Staunenden abzuschwächen. Sie staunen über ihre eigene Lage und die der ganzen Welt, sie staunen darüber, wohin es mit ihnen selbst so schleichend gekommen ist und wohin mit der Gesellschaft, die sie umgibt, und oft genug fällt beides zusammen. Der Musiker, der sich vor Jahren ein Cembalo auf Kredit gekauft hatte, nun die Raten nicht mehr bedienen kann und das Instrument verlieren wird ("Alte Musik", 2005), sieht die Zeichen und sieht sie zugleich auch nicht, jedenfalls vermag er sie nicht zu deuten. Größere Energie als auf die Regelung der Finanzen wendet er daran, die Fassade aufrechtzuerhalten: vor der Welt, vor seiner Frau, am meisten aber vor sich selbst.

Die umgekehrte Perspektive, die des Beobachters eines nicht selbstverschuldeten Desasters, herrscht dann in "Timesharing" von 1997 vor. Ein junger Mann erzählt von seinem Vater, der immer neue Geschäfte anfängt und selten zu Ende führt und nun ein heruntergekommenes Hotel in Florida betreibt, das er währenddessen renoviert. Nicht ohne Erfolg: "Der Bau war eine Ruine, als mein Vater sich das Geld für den Kauf lieh, und nach dem, was meine Mutter mir sagt, sieht es hier jetzt schon um einiges besser aus" - die Reparaturen allerdings sind zu einem guten Teil kosmetischer Natur, und der schleichende Zusammenbruch des Projekts deutet sich in den Worten des wach registrierenden Erzählers an. Der aber kennt den Unternehmerdrang seines Vaters und weiß, dass er durch den Versuch einzugreifen nichts Wesentliches verhindern wird. Also nimmt er mit, was die Situation an Annehmlichkeiten zu bieten hat, hofft darauf, dass der große Knall ausbleibt, und ist doch mehr als darauf gefasst.

Überhaupt spielen Häuser und Interieurs in den meisten Geschichten dieser Sammlung eine große Rolle, und so wie von Eugenides' großem Roman "Middlesex" nicht zuletzt das mit Spuren des Verfalls gezeichnete Detroit in wacher Erinnerung bleibt, sind es hier die abgelösten Tapeten und undichten Dächer, die Bilder an den Wänden, die modernen Küchen und Penthousewohnungen, denen der Autor einige Sorgfalt widmet und die ihrerseits - wie in "Das große Experiment" - die Handlung motivieren und vorantreiben. Sie sind Ausdruck der Zustände, die von den Protagonisten hinterfragt werden, simpel wie in der Verlagserzählung, wo der Gegensatz zwischen dem glitzernden Penthouse des Verlegers und dem immer schäbigeren Heim der Lektorenfamilie die Frage nach der Gerechtigkeit im modernen Amerika aufwirft, gespiegelt in Tocquevilles fast zweihundert Jahre älterer Zustandsbeschreibung der Vereinigten Staaten.

Kaum ein Protagonist dieser Geschichten aus dem Amerika unserer Tage kommt ungeschoren davon. Und nimmt man den Titel der Sammlung wörtlich, dann fragt man sich, ob Eugenides dieses Experiment nicht als veritablen Fehlschlag ansieht.

TILMAN SPRECKELSEN

Jeffrey Eugenides:

"Das große Experiment".

Erzählungen.

Aus dem Englischen von Gregor Hens und anderen.

Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 336 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.02.2019

Bruchbuden allerorten
In seinem Erzählungsband „Das große Experiment“ verbindet Jeffrey Eugenides die
Krisenberichterstattung aus der Welt moderner Männer mit Momentaufnahmen der maroden USA
VON MARTINA KIGLE
Warum steht die Erzählung eigentlich so oft im Schatten des Romans? Oft wird sie als Aufwärmübung für den Roman angesehen, als Begleitwerk, während er geschrieben wird, oder als Rest, der übrig bleibt, wenn er geschrieben ist. Die Erzählung ist aber kein abhängiges Genre, das um den Roman kreist wie um ein Zentralgestirn. Sie ist eine Welt für sich, mit eigenen Formgesetzen, die sich aus denen des Romans nicht ableiten lassen.
Der neue Erzählband des amerikanischen Schriftstellers Jeffrey Eugenides, „Das große Experiment“, ist ein Lehrstück für diese anderen Prinzipien. Und das, obwohl alle zehn Erzählungen des Bandes im Zeitraum von knapp dreißig Jahren entstanden sind und in vielen Motiven auf die parallel entstandenen Bestsellerromane des Autors verweisen. Zum Beispiel treffen wir da Mitchell wieder, den amerikanischen Religionswissenschaftsstudenten aus Eugenides’ letztem Roman „Die Liebeshandlung“ von 2011.
Mitchell wird immer mal wieder als Alter Ego des Autors gehandelt. Damals arbeitete er sich, unglücklich verliebt, an der uralten Geist-Körper-Problematik ab. Die Spiritualität sollte ihm helfen, seine Gefühle zu kontrollieren und den Liebeskummer zu überwinden: „Erleuchtung entsprang dem Auslöschen des Begehrens“, konstatierte er. „Wäre es nicht schön, es ein für alle Mal hinter sich zu lassen?“
In der Erzählung „Air Mail“ greift Mitchell nun wieder zu spirituellen Mitteln. Mit seinem Freund Larry ist er zu einem Sinnsuche- und Selbstfindungstrip nach Südostasien aufgebrochen. Diesmal aber ist es nicht der Liebeskummer, der Mitchell quält, sondern eine Diarrhoe. Mit Meditieren und „gandhihaftem Fasten“ versucht er, sich aus seinem Körper herauszureflektieren – was ihm so gut gelingt, dass die Leser sich diesmal wohl für immer von ihm verabschieden müssen. Neben Mitchell taucht ein weiterer alter Bekannter auf: Der renommierte Sexualwissenschaftler Dr. Peter Luce, bekannt aus Eugenides’ Roman „Middlesex“ der 2003 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Der Roman ist eine Art Standardwerk des Geschlechterkonstruktivismus, der Idee also, dass die sexuelle Identität einer Person weniger von der Natur als von der Kultur bestimmt wird.
In der Erzählung „Das Orakel der Vulva“ wird der Sexologe nun bei seiner Feldforschung im Urwald ebenso sehr von der äußeren wie von seiner vermeintlich inneren Natur überwältigt. Dr. Luce sieht sich von einem kleinen Jungen bedrängt, dessen Aufgabe es als Angehöriger seines Stammes ist, die älteren Männer oral zu befriedigen. Der Freund maximal liberaler Ansichten ist in der Bredouille – „er täte nichts lieber, als die Mücke wegzuklatschen, aber er kann nicht. Seine Hände sind damit beschäftigt, den Jungen von seinem Gürtel fernzuhalten“. Der Konstruktivist ergibt sich dem Trieb, überlässt sich dem Jungen und wird zum Kulturrelativisten: andere Länder, andere Sitten.
Jeffrey Eugenides, geboren 1960 in Detroit, Michigan, Professor für Kreatives Schreiben zunächst an der Princeton University und dann an der New York University, gilt eigentlich als Meister des Ausführlichen. Aber er beherrscht auch das schlanke Format der Erzählung. Drei davon sind bereits 2003 unter dem Titel „Air Mail“ auf Deutsch erschienen. Seine Erzähltechnik funktioniert über das Prototypische seiner Figuren. Er reizt scharfe Gegensätze aus, wie die von Geist versus Körper oder Natur versus Kultur und entwickelt dabei eine Komik, die bitterböse Pointen produziert.
In der Erzählung „Die Bratenspritze“ wird ein Protagonist, der sich als Opfer fühlt, zum Täter. Wally Mars’ ehemalige Geliebte und von ihm noch immer verehrte Freundin Tomasina wünscht sich ein Kind, zieht dem knollennasigen und glubschäugigen Wally jedoch eine künstliche Befruchtung vor. „Jeder weiß, dass Männer in Frauen nur Objekte sehen“, konstatiert der Verschmähte bitter, „unser abschätzendes Taxieren von Brüsten und Beinen lässt sich jedoch nicht vergleichen mit der kaltblütigen Berechnung einer Frau auf Samenschau.“
Während es in neun von zehn Erzählungen um Männer und ihre Befindlichkeiten geht, trägt die einzige Geschichte, in deren Mittelpunkt zwei Frauen stehen, den Titel „Klagende“. Cathy und Della pflegen eine jahrzehntelange Freundschaft. Sie betrachten sie als „eine Möglichkeit, Bereiche in ihrem Leben zu kompensieren, die weniger Zufriedenheit bereiteten, als gemeinhin behauptet wurde. Dazu gehörte auf jeden Fall die Ehe. Und öfter, als Cathy und Della zugeben mochten, auch die Mutterrolle“. Mit trotzigem Pragmatismus entscheiden die Frauen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und es den Heldinnen in ihrem (fiktiven) Lieblingsroman „Zeit fürs Kriegsbeil“ gleichzutun. Durchweg sind es in diesen Erzählungen Frauen, die im Hintergrund so patent wie unsichtbar alles am Laufen halten. Im Selbstmitleid suhlen können sie nicht, schon weil sie oft Kinder haben, die versorgt werden wollen.
Pointenreich verhandeln die hier versammelten Erzählungen die Conditio humana, die Nöte des Einzelnen. Auf einer zweiten Ebene geht es um die gesellschaftliche, vielleicht sogar politische Dimension. Hier sind Männerdiskurse zugleich Krisendiskurse. In einem Interview mit der Zeitung Die Welt erklärte Eugenides vor einiger Zeit: „Ich bin mit jeder Menge Fragen aufgewachsen, was es eigentlich heißt, ein Mann zu sein. Und in meinen Erzählungen geht es oft um Männer, die nicht mehr wissen, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Ich nehme an, da lassen sich leicht Verbindungen zur aktuellen amerikanischen Politik ziehen. Viele Männer haben heute das Gefühl, dass ihre Stellung erodiert.“ In seinen Erzählungen zieht Eugenides aus dieser Beobachtung die Konsequenz, indem er Männer als Opfer ihrer Taten darstellt.
Die Veränderung der traditionellen Geschlechterrollen lässt seine Männerfiguren straucheln: „Wenn Kendall heutzutage so leben wollte, wie sein Vater gelebt hatte“, heißt es in der Titelerzählung „Das große Experiment“, „müsste er eine Waschfrau, eine Putzfrau, eine Privatsekretärin und eine Köchin einstellen. Er müsste eine Ehefrau einstellen. Wäre das nicht fantastisch? Stephanie könnte auch eine gebrauchen. Jeder konnte eine Ehefrau gebrauchen, aber niemand hatte eine.“
Dazu kommt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse erodieren. Eugenides beschreibt ein zunehmend marodes Land: Es tropft durch Dächer, Abwasser steigt aus Kellern hoch, ganze Häuser wackeln beim Öffnen einer Tür, Bruchbuden allerorten. Im Blick auf Kendall verbindet Eugenides seine Technik der scharfen Gegensätze mit einer Krisendiagnose. Kendall, ein „sanftmütiger Intellektueller“ und Bohémien mit ehemals vielversprechenden Karriereaussichten, kann seine Familie mit seinem Job nur noch mehr schlecht als recht ernähren. Die Kinder schlafen auswärts, weil sich die Eltern das Heizen nicht mehr leisten können.
Für einen Verlag – er ist das Egoprojekt eines superreichen Pornomagnaten – soll Kendall Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“ zusammenkürzen. Politische Theorie im Pocketformat? Und dafür noch nicht einmal eine Krankenversicherung vom Arbeitgeber? Angesichts solch himmelschreiender Ungerechtigkeit mutiert Kendall zum Robin Hood. Und die Erzählung endet mit einem Tocqueville-Zitat: „In diesem Land sollte der zivilisierte Mensch in einem großen Experiment den Versuch unternehmen, die Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen.“ Aus der Einsicht in die Conditio humana müsste Politik werden. Ist diese Erzählung womöglich die Vorbereitung für Eugenides’ nächsten Roman?
Der Sexologe wird bei der
Feldforschung im Urwald von
seiner inneren Natur überwältigt
Jeffrey Eugenides:
Das große Experiment. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018.
331 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Weit mehr als nur ein Nebenprodukt seiner Bestsellerromane sind die in dem Band "Das große Experiment" gesammelten Erzählungen von Jeffrey Eugenides, versichert Martina Kigle, auch wenn einem einige der auftretenden Figuren bereits aus den Romanen bekannt sind, der Religionswissenschaftsstudenten Mitchell aus "Die Liebeshandlung" etwa oder der Sexualwissenschaftler Dr. Peter Luce aus "Middlesex". Auch seinen Themen - die Conditio Humana, erodierende Gesellschaftsstrukturen, kriselnde Männlichkeit - bleibt er treu, doch zugleich beweist der als "Meister des Ausführlichen" geltende Eugenides, dass er auch die Gestaltungsregeln der kürzeren Erzählform beherrscht, meint die Rezensentin, über Prototypen, Gegensätze und "bitterböse Pointen" nämlich. Bei der Lektüre der Titelerzählung kann Kigle allerdings nicht verhehlen, dass sie sich bereits auf den nächsten Roman des Autors freut.

© Perlentaucher Medien GmbH
Jeffrey Eugenides' Erzählungsband "Das große Experiment" gehört zum Besten, was gerade in Amerika geschrieben wird. (...) zusammen ergeben die Erzählungen eine neue Form von großem amerikanischen Roman. Niklas Maak Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20181125