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Warum sie den Karton mit alten Briefen und Fotos, Erinnerungsstücken aus den schrecklichsten Monaten ihrer Familiengeschichte, die zugleich die finstersten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert waren, völlig vergessen hat, weiß Hella nicht. Hella ist die Mutter von Monika Maron. Die Briefe in dem Karton stammen von Pawel Iglarz, Hellas Vater, Monikas Großvater, der als konvertierter Jude Anfang des Jahrhunderts mit seiner Frau Josefa aus der Gegend von Lodz nach Neukölln übergesiedelt war, um in der Großstadt Berlin als Schneider für seine Familie ein Auskommen zu finden. 1939 wurden sie…mehr

Produktbeschreibung
Warum sie den Karton mit alten Briefen und Fotos, Erinnerungsstücken aus den schrecklichsten Monaten ihrer Familiengeschichte, die zugleich die finstersten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert waren, völlig vergessen hat, weiß Hella nicht. Hella ist die Mutter von Monika Maron. Die Briefe in dem Karton stammen von Pawel Iglarz, Hellas Vater, Monikas Großvater, der als konvertierter Jude Anfang des Jahrhunderts mit seiner Frau Josefa aus der Gegend von Lodz nach Neukölln übergesiedelt war, um in der Großstadt Berlin als Schneider für seine Familie ein Auskommen zu finden. 1939 wurden sie zurück nach Polen vertrieben und wenige Jahre später getrennt - Pawel musste 1942 ins Ghetto Belchatow und wurde bald darauf entweder in den Wäldern um Belchatow erschossen oder im Vernichtungslager Kulmhof umgebracht. Die Briefe Pawels aus dem Ghetto und die Briefe seiner Kinder an ihn sind eine ergreifende Hinterlassenschaft, die die Enkelin bestimmt, den Weg der Erinnerung zurückzuverfolgen.
Autorenporträt
Maron, Monika§
Monika Maron ist 1941 in Berlin geboren, wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, darunter »Flugasche«, »Animal triste«, »Endmoränen«, »Ach Glück« und »Zwischenspiel«, außerdem mehrere Essaybände, darunter »Krähengekrächz«, und die Reportage »Bitterfelder Bogen«. Zuletzt erschienen die Romane »Munin oder Chaos im Kopf« (2018) und »Artur Lanz« (2020). Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Kleist-Preis, der Carl-Zuckmayer-Medaille, dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg, dem Deutschen Nationalpreis und dem Lessing-Preis des Freistaats Sachsen.

Literaturpreise:

unter vielen anderen:
Kleist-Preis 1992
Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2003
Ida-Dehmel-Literaturpreis 2017
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.1999

Eine geborene Iglarz
Monika Maron erinnert sich · Von Hermann Kurzke

Sie sollte sich künftig wieder Monika Iglarz nennen, denn von jenem Karl Maron, ihrem Stiefvater, einstmals Chef der Volkspolizei und Innenminister der DDR, hat sie sich in diesem Buch endgültig losgesagt. Wir erfahren hier die innerste Geschichte und Befindlichkeit der Monika Maron.

Mit ihrem Roman "Flugasche", der 1981 im Westen erschienen war, hatte sie sich als Dissidentin zu erkennen gegeben und einige Jahre später die DDR verlassen. 1995 kam sie ins Gerede, weil sich herausstellte, daß auch sie kurze Zeit der Staatssicherheit gedient hatte. Ihr Dissidentenbonus schmolz dahin, und sie galt plötzlich wieder als privilegierte Angehörige der Funktionärselite. Dagegen wehrt sie sich nun. Das Buch endet mit Erklärungen, wie es zu dieser Stasi-Episode kam. Daß Monika Maron darauf zu sprechen kam, war unvermeidlich, denn sonst hätte man ihr absichtliches Verschweigen vorgeworfen. Dennoch ist es schade, daß diese apologetischen Teile am Ende stehen, so daß alles andere auf sie hin geschrieben wirkt. Denn sie sind der schwächste und künstlerisch überflüssigste Teil eines sonst starken Buches.

Trotzig kämpft hier jemand um seine biographische Identität. Was ist das, jenes sich Durchhaltende, das von den Eruptionen einer gewalttätigen Geschichte mal hierhin, mal dorthin gerissen wurde und doch, gegen wechselnde Interpretationsmonopole, faschistische, kommunistische, kapitalistische, auf seinem "Ich bin ich!" leise besteht? Es sagt: Eine Iglarz bin ich, keine Maron, unverwechselbar, voller Widersprüche, keinem Schematismus hörig, bin die Tochter der Halbjüdin Hella Iglarz, der ein deutscher Soldat, mein Vater, durch Krieg und Gefangenschaft hindurch treu geblieben war, bin die Enkelin des jüdischen Schneiders Pawel Iglarz, der 1942 im Lager Chelmno umgebracht wurde, und seiner Frau Josefa, die sterben mußte, weil sie sich von ihrem Mann nicht trennen ließ. Pawel und Josefa hatten in jungen Jahren einen schmerzlichen Bruch mit ihrer Herkunft vollzogen. Er hatte die jüdische Gemeinde verlassen, sie die katholische Kirche, und beide waren zum baptistischen Glauben konvertiert.

Hella, geboren 1915, war ihr Leben lang eine gläubige Kommunistin. Sie heiratete nicht ihren treuen Soldaten, sondern jenen Karl Maron aus der Gruppe Ulbricht, der sie 1945 als Sekretärin anstellte. Darum mußte sie ihren Vater Pawel vergessen. Monika Maron ist davon überzeugt, daß das der Grund dafür ist, weshalb ihre Mutter keinerlei Erinnerung hatte an das, was ans Licht kam, als 1997 ein Paket gefunden wurde mit Pawels Briefen aus dem Ghetto und Hellas Antworten. Die Existenz dieser Briefe und ihr Inhalt waren aus Hellas Gedächtnis vollkommen gelöscht.

Sie ist darüber begreiflicherweise bestürzt, es kommt zu Recherchen und Gesprächen mit ihrer Tochter, aber es bleibt etwas Unwiederbringliches, auch von Rekonstruktionen nicht mehr Erreichbares, ein absichtsloser Verrat: Pawel Iglarz war in der Erinnerung zum "Opfer des Faschismus" geschrumpft. Was er jenseits dieser Schablone war, versucht seine Enkelin herauszufinden. In ihr klingen seine Briefe nach wie ein endloser, weher Gesang.

"Zeig niemals dem Kinde, daß es Haß, Neid und Rache gibt", hatte Pawel 1942 an Hella geschrieben, in Erwartung seines Todes. Wer so denkt, meint das Kind, muß gefeit gewesen sein gegen den Unfehlbarkeitsanspruch einer Partei. Angesichts der Tragödie der Großeltern, die einander liebten bis in den Tod, wirkt alles spätere Leben schuldbeladen. Ihre Reinheit kann keiner wiederfinden. Was war ihr Geheimnis? "Seit zehn Seiten wage ich nicht zu schreiben, daß meine Großeltern ihre Kultiviertheit der Religion verdankten, obwohl ich mir die Klarheit und Festigkeit ihrer Lebensführung anders nicht erklären kann."

An Pawels Briefen zerbricht alles nachgeborene Besserwissen. Was da auftaucht aus der Nacht, war vergessen, weil es nicht zum Leben nach 1945 paßte, nicht zu den gedanklichen Ordnungen, in denen dieses sich zu deuten pflegte. Die unabweisbare Wahrheit der Dokumente setzt nun diese Ordnungen außer Kraft.

Monika Maron steht nicht über den Dingen. Sie schreibt scheu und verhalten, tief verunsichert, passagenweise stammelnd und verstört, weil sich nichts mehr fügen will ins Erlernte, aber auch keine neue Ordnung des Denkens verfügbar ist. Das Aufgefundene will sich zu keiner Geschichte runden. Die Reise zu den Orten, an denen Pawel und Josefa lebten und starben, ist traumatisch, nicht wegen sprechender Spuren, an denen sich Sentimentalität festmachen könnte, sondern gerade wegen der völligen Tilgung aller Spuren. Sechzig Prozent Juden lebten einst in Pawels polnischer Heimat. Sie sind verschwunden wie ein Spuk. Der Karren der "Aufarbeitung" fährt immer wieder schmerzhaft an die Wand.

Alles ist so anders. Die religionslose Kommunistin betet unter der Bettdecke, und Monikas Sohn wird heimlich getauft. Ein deutscher Soldat ist einer Halbjüdin treu. Diese ist stolz, als er das Eiserne Kreuz erhält, und teilt es begeistert dem Großvater mit. Daß einer im polnischen Ghetto sich ausgerechnet darüber gefreut haben soll, können wir uns kaum vorstellen, aber Hella muß das damals selbstverständlich gefunden haben. Nach dem Krieg weiß sie nichts mehr davon, gar nichts.

Überhaupt sind ihre Briefe fast durchgehend optimistisch und sonnig und sprechen vom Alltag, der weitergeht, als gäbe es kein Ghetto und als wäre nicht Krieg. Heute graut ihr vor dem, was sie, es ist unzweifelhaft ihre Handschrift, als junge Frau gedacht haben muß. Der tiefste Schock bei der Lektüre von Pawels Briefen: Der kurz darauf Ermordete bittet seine Kinder um Entschuldigung. "Tragt es mir nicht nach", schreibt er, "daß Mama durch mich so unglücklich geworden ist, denn schließlich bin ich die Ursache von all ihrem Unglück . . . Ich bitte euch darum, tragt es mir nicht nach und vergeßt mich nicht."

Hella hat ihn trotzdem vergessen. Die chaotische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hat das menschliche Gemüt restlos überfordert. Bei jeder Krümmung ihres Laufes mußte ein Teil der Erinnerungen abgestoßen werden, der Teil, der beim Erlernen des neuen Lebens störte. Wie bei einem Umzug wurde vom alten ins neue Leben immer nur das mitgenommen, was sich auf eine transportable Größe zurechtstutzen ließ. Am Ende ist nicht einmal mehr sicher, ob man sich überhaupt an Erlebtes erinnert oder nicht vielmehr an eine Inszenierung. Aus den Briefen und aus den erschütternden Fotos des Buches spricht stumm und anklagend das authentische Damals, das sich im Gedächtnis nicht mehr wiedererkennt.

Die Mutter hat in diesem Buch schlechte Karten. Sie wird von Pawels Briefen ja gewissermaßen überführt. Und doch gelingt es Monika Maron, sie nicht einfach hinzurichten, sondern Verständnis für sie, ja, Liebe zu ihr zu bewahren. Monika steht nach der Wende auf der Siegerseite, Hella hat verloren, sitzt auf dem Sofa, "traurig und nachdenklich, nachdenklich vor allem, sehr klein. Von diesem Triumph hatte ich geträumt. Wenn ich Hella ansah, wünschte ich, er wäre geringer ausgefallen." Vor diesem Buch zergeht alle Selbstgerechtigkeit. Es sät einen so tiefen Zweifel in den Glauben an unsere Fähigkeit, die Wirklichkeit wahrhaftig wahrzunehmen, daß künftig die Hand zittern muß, die auf einen anderen mit Fingern zeigen will. Wenn eine Lehre zu ziehen ist, dann die uralte: Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.

Monika Maron: "Pawels Briefe". Eine Familiengeschichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 205 S., geb., 38,- DM.

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» Dieses auch politische Verwobensein der Generationen ist uns noch nie so bohrend, aber auch so bewegend gezeigt worden. « Tilman Krause Die Welt