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Die krisengeschüttelten Jahre zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der NS-Herrschaft in Deutschland wurden zu einer Glanzzeit der deutschsprachigen Literatur. Ihre Entwicklung erschließt Helmuth Kiesel in dieser großen Literaturgeschichte in drei Durchgängen: zunächst epochengeschichtlich, dann politik- und gesellschaftsgeschichtlich und schließlich gattungsgeschichtlich. Deutsche, österreichische und deutschschweizerische Verhältnisse werden gleichermaßen berücksichtigt. Krieg und Novemberrevolution erzwangen nicht nur große politische und soziale Veränderungen. Sie…mehr

Produktbeschreibung
Die krisengeschüttelten Jahre zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der NS-Herrschaft in Deutschland wurden zu einer Glanzzeit der deutschsprachigen Literatur. Ihre Entwicklung erschließt Helmuth Kiesel in dieser großen Literaturgeschichte in drei Durchgängen: zunächst epochengeschichtlich, dann politik- und gesellschaftsgeschichtlich und schließlich gattungsgeschichtlich. Deutsche, österreichische und deutschschweizerische Verhältnisse werden gleichermaßen berücksichtigt.
Krieg und Novemberrevolution erzwangen nicht nur große politische und soziale Veränderungen. Sie bewirkten auch eine Politisierung der Literatur, die diese Umgestaltung, die mit ihr verbundenen Auseinandersetzungen und die rasante Modernisierung der Lebensverhältnisse zeitnah abzubilden und kämpferisch zu beeinflussen versuchte. Diese sogenannte Zeitliteratur brachte eine Fülle von Gedichten, Dramen, Romanen, Reportagen und Essays hervor. Zugleich entstanden in dieser Epoche Meisterwerkewie Thomas Manns Zauberberg, Hugo von Hofmannsthals Turm und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, in denen traditionelle Darstellungsformen mit avantgardistischen und medialen Techniken auf eine bis heute mustergültige und anregende Weise miteinander verbunden wurden.
Autorenporträt
Helmuth Kiesel lehrt Geschichte der neueren deutschsprachigen Literatur am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.08.2017

Hoppla, wir lesen
„Das Leben ist bunt, aber nicht erfreulich“: Helmuth Kiesel präsentiert eine großartige
„Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918-1933“, Fundgrube und Zeitpanorama in einem
VON JENS BISKY
Die Literatur der Zwischenkriegsjahre scheint der Gegenwart besonders nah. Das liegt gewiss auch daran, dass die bundesrepublikanische Demokratie sich ihrer eigenen Stabilität gern im Spiegel der Weimarer Verhältnisse versicherte. In erster Linie aber hat es literarische Gründe. Ob Dramen, Essays, Gedichte oder Romane, zwischen 1918 und 1933 entstand eine Fülle mustergültiger Werke, die bis heute immer wieder gelesen, neu entdeckt und aufgeführt werden. Der Versuch eine halbwegs vollständigen Aufzählung muss scheitern: „Dreigroschenoper“, „Der Steppenwolf“, „Berlin Alexanderplatz“, „Duineser Elegien“, „Der Turm“, „Der Mann ohne Eigenschaften“. Die Titel kennt auch, wer die Entdeckung der Werke noch vor sich hat.
Man rechnet sie mit einer vertraulich-respektvollen Formel gern zur „klassischen Moderne“. Aber diese Bezeichnung tauge nicht viel, sagt der Heidelberger Germanist Helmuth Kiesel. Ein Etikett, das so unterschiedliche Werke wie Thomas Manns „Zauberberg“ und Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ gleichermaßen charakterisieren soll, ist notwendig unscharf. Zum anderen sei die Zusammenstellung von „klassisch“ und „Moderne“ fragwürdig, stehe doch die künstlerische Moderne unter einem „inhärenten Modernisierungszwang“. Es gelte gerade nicht, einmal gefundene Lösungen zu wiederholen, sondern Muster in Frage zu stellen, zu überwinden. Im Jahr 2004 hat Helmuth Kiesel deshalb vorgeschlagen, von einer „reflektierten Moderne“ zu reden, die sich vom „forcierten Avantgardismus“ der Zehnerjahre abwendete und zugleich dessen Neuerungen in komplexere Werke überführte. Folgerichtig hat Kiesels „Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918-1933“ einen Höhepunkt im Kapitel über die „Pionier- und Meisterwerke der reflektierten Moderne“. Darin geht es um Franz Kafka, Thomas Mann, Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn, Robert Musil, Hermann Broch.
In vielen Literaturgeschichten fehlt entweder die Literatur oder die Geschichte. Kiesel gibt dem leidenschaftlichen Leser beides. Er, der an diesem Dienstag siebzig Jahre alt wird, zieht eine Summe aus seinen lebenslangen Forschungen zu Döblin, zu Ernst Jünger, zur literarischen Moderne. Seine Literaturgeschichte besteht aus drei sorgfältig aufeinander bezogenen Abhandlungen: über das Epochenprofil, über die Rolle der Literatur als Spiegel und Gestaltungsfaktor und zur Entwicklung der Gattungen, Lyrik, Dramatik, Epik.
Er unterscheidet drei Phasen, wobei literarische und politische Entwicklungen verblüffend parallel verlaufen. Expressionistisch, dadaistisch akzentuiert ist die Zeit der Revolutionswirren und der Konsolidierung der neuen Republik bis 1923. Die Republik stabilisiert sich, neue Sachlichkeit dominiert die Literatur. Mit der großen Krise kommt es zur „Aufsplitterung“, Radikalisierung und Restauration zugleich.
Eine zeitgenössische Bibliografie verzeichnete von 1918 bis 1930 unter der Rubrik „Romane und Novellen“ 5100 Titel, unter dem Rubrum „Lyrisches und Episches“ etwa 1620 Titel und 830 Titel „Dramatisches“. Kiesels Darstellung gewinnt ihre Spannung aus dem Gegensatz von Ordnungsbemühung, der Suche nach allgemeineren Tendenzen und der Hingabe an einzelne Werke. Ein, wenn man so will, ständiger Wechsel zwischen distant reading und close reading.
Neu war nach den Verheerungen des Weltkrieges die Zahl und Qualität politischer Literatur, in Form von Manifesten oder Zeitgedichten, von Propagandastücken und Hassgesängen. Gerade diese Werke stehen im Schatten von 1933 und den folgenden Verbrechen. Kiesel vermeidet es, im Rückblick Zwangsläufigkeiten zu konstruieren, er schildert die Literatur des neuen Nationalismus wie der „konservativen Revolution“ mit dem gebotenen Willen zur Differenzierung.
Als Beispiele für propagandistische Romane des Jahres 1926 werden Johannes R. Bechers „Levisite oder Der einzig gerechte Krieg“ und Hans Grimms völkischer Roman „Volk ohne Raum“ nebeneinander gestellt, als „Grenzfälle der Literatur und Problemfälle der literarischen Wertung“. Das mag irritieren, erleichtert aber Erkenntnis.
Eine Fundgrube für kulturhistorisch Neugierige sind die Kapitel über die litearischen Spiegelungen und Deutungen der Epoche, vom Angestelltenroman und die Sportbegeisterung bis hin zu Optimierungsfantasien. Ob es um das Fahren auf der AVUS, die Nöte von Fürsorgezöglingen, die Welt der Schwerindustrie oder Hitlers Auftritte geht, hier findet der Leser zeitgenössische Darstellungen, knapp charakterisiert, vielfach zitiert.
Berlin ist zentraler Schauplatz, erhielt doch, so Helmuth Plessner, der deutsche Staat damals „die Chance einer Hauptstadt, eines Mittelpunktes für die entbundenen Energien“, die „Chance einer dem deutschen Staat bis dahin versagten repräsentativen nationalen Urbanität“.
Wie Kiesel sein Material organisiert, zeigen vielleicht am schönsten die Kapitel zur Lyrik. Kann man mehr als ein Nebeneinander des Unzusammenhängenden, Unvergleichlichen konstatieren? Schon Zeitgenossen sahen stilistisch Charakteristisches „,in der Architektur des Warenhauses’, in dem vielerlei, Kostbares und weniger Kostbares, ,basarartig’ ausliege“. Wie will man das vernünftig beschreiben, ohne bloß zu katalogisieren? Kiesel greift ein Bemerkung Brechts auf, eine Notiz über zwei Linien des lyrischen Sprechens, eine pontifikale, die von Hölderlin herkommt, und eine profane, von Heine ausgehend. Das trägt eine Weile: Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“ und Stefan Georges „Neues Reich“, die „Schlußakkorde alter Meister“, dienen als Beispiele pontifikalen Sprechens. Es folgt Profanes, „avantgardistische und kabarettistische Diversifizierung“ sowie politische Lyrik. Damit ist der Hintergrund skizziert, vor dem die „neuen Großmeister“ des Lyrischen auftreten: Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Dass beide sehr gehoben, bischöflich, hohepriesterlich das Profane erklingen ließen, denkt sich der Leser und lässt sich dann bereitwillig über Lyrik-Kontroversen, Traditionalisten und Naturdichter, Großstadt- und Frauenlyrik informieren.
Diese Literaturgeschichte ist vor allem ein Arbeits- und Anregungsbuch zum Blättern, Nachschlagen, Weitersuchen. Dabei liest man sich leicht fest. Kiesel findet immer wieder einprägsame Formulierungen. Zu Bertolt Brechts leider nicht mehr so viel gespieltem Nachkriegs- und Revolutionsdrama „Trommeln in der Nacht“ – ein Soldat kehrt heim, die Braut hat ein anderer geschwängert, auf der Straße wird gekämpft – heißt es treffend: „Auch die Revolution ist nur Theater. Wirklich ist allein das Abgeschlachtetwerden.“
Und wie erscheint die Wirklichkeit in Walter Mehrings hinreißenden Liedern, gedichten, Kabaretttexten? „Das Leben ist bunt, aber nicht erfreulich.“
Dieses Porträt einer literarischen Glanzzeit bezieht selbstverständlich auch die Schweiz und Österreich und auslandsdeutsche Literatur mit ein. Es weitet sich zum Panorama jener 14 Jahre zwischen Waffenstillstand und dem Verrat der Eliten an der Republik. Kiesels Literaturgeschichte firmiert als zehnter Band der von Helmut de Boor und Richard Newald begründeten Gesamtgeschichte der deutschen Literatur. 2009 erschien Volker Meids Band über das Zeitalter des Barock, etwas älter, aber nicht überholt ist Peter Sprengels Darstellung der Literatur von 1870-1918. Das beliebte, oft wiederkehrende Gerede über Krise und Verkommenheit der Germanistik erscheint angesichts dieser Grundlagenwerke peinlich desinfomiert, Resultat eines Lektürerückstands. Welches Vergnügen es bereitet, ihn aufzuholen, kann jeder mit Kiesels Band erproben.
Die literarischen und politischen
Entwicklungen verlaufen immer
wieder verblüffend parallel
Das Gerede von einer Krise der
Germanistik? Zeugnis eines
peinlichen Leserückstands
Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918-1933. Verlag C.H. Beck, München 2017. 1304 Seiten, 58 Euro.
Reflektierte Moderne: Szenenfoto aus Walther Ruttmanns Dokumentarfilm „Berlin. Symphonie einer Großstadt“ (1927).Foto: Deutsche Kinemathek
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2017

Der Wahnwitz einer Epoche

Was Sie immer schon lesen wollten und nur nicht zu mögen sich trauten: Helmuth Kiesels prachtvolle Literaturgeschichte zur Weimarer Republik.

War Adolf Hitler ein guter Schriftsteller?", fragte vor zweieinhalb Jahren, auf dem Höhepunkt der Kontroverse um eine Neuausgabe von "Mein Kampf", der Heidelberger Literaturhistoriker Helmuth Kiesel in einem Artikel für diese Zeitung. Er hatte sich dem schwierigen Versuch unterzogen, "Mein Kampf" unter rein literarischen Gesichtspunkten zu lesen, und war zu dem Ergebnis gelangt, dass Hitler keineswegs ein Stümper war, sondern "über ein breites Register an rhetorischen und stilistischen Mitteln verfügte", die er nach den Regeln der Reklame wirkungsvoll einzusetzen wusste (F.A.Z. vom 4. August 2014). Jetzt hat Kiesel eine 1300 Seiten umfassende Literaturgeschichte der Weimarer Republik vorgelegt, und bei nicht wenigen Titeln, die das literarische Leben zwischen 1918 und 1933 bestimmten, scheint ihm ähnlich mulmig gewesen zu sein wie bei der Lektüre von "Mein Kampf".

Kiesel schert sich wenig um den Kanon einer Literaturwissenschaft, welche Autoren, die sich 1933 auf das nationalsozialistische System einließen, generell aussondert. Man dürfe das Jahr 1933 als Jahr der Entscheidung nicht absolut setzen und zur Wasserscheide der deutschen Literatur erklären. Weil moralische Kategorien zur Bewertung literarischer Hervorbringungen nicht taugten, werde eine retrospektive Betrachtung, in der alles auf die Frage zulaufe, wie hielt es der Verfasser am Ende mit den Nazis, weder den Autoren noch ihren Werken gerecht. Dass ein Autor links, pazifistisch oder jüdisch war, mache ihn nicht automatisch zu einem besseren Schriftsteller. Natürlich seien Stimmen wie die von Tucholsky und Ossietzky wichtig gewesen - beide werden neben Willy Haas und Max Herrmann-Neiße von Kiesel immer wieder in den Zeugenstand gerufen -; aber den großen Roman oder das gewichtige Drama zur Verteidigung der parlamentarischen Demokratie suche man auf der Linken vergeblich.

Eine "deutliche Parallelität" zwischen Politik und Literatur ist für Kiesel das eigentliche Charakteristikum der Jahre zwischen der Niederlage 1918 und der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Deshalb erzählt er chronologisch entlang den politischen Eckdaten: von den Revolutionswirren über die Umsturzversuche und die anschließende kurze Konsolidierungsphase bis hin zur neuerlichen Radikalisierung der Politik durch die Straße. Seine einfühlsamen Paraphrasierungen wichtiger Werke insbesondere der Romanliteratur, ergänzt um ausführliche Zitate aus der zeitgenössischen Kritik, bieten dem Leser überraschende Einblicke in die sozialen Milieus von Weimar und eröffnen ein Panorama der Republik, das kein Historiker facettenreicher hätte gestalten können.

Nachdem Expressionismus, Futurismus und Dadaismus, die der Literatur der Kriegsjahre ihren Stempel aufgedrückt hatten, um 1920 rasch an Schwung verloren, erwies sich die Epik bald als die Gattung, in der das Lebensgefühl der Zeit seinen adäquaten Ausdruck fand. Man las Zukunftsromane voller Technikbegeisterung, zumal für alles, was fliegen konnte, Angestelltenromane ("Kleiner Mann - was nun?"), Sportromane und Werkstudentenromane (Studenten, die für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen mussten, als neues soziales Phänomen), nicht zu vergessen die Fotobücher der Neuen Sachlichkeit. Unter diesem Sammelbegriff wurde ein Großteil der erzählenden Literatur von Weimar Mitte der zwanziger Jahre zusammengefasst, als exemplarisch gilt bis heute Erich Kästners "Fabian".

Die Autorinnen, die mit wichtigen Werken zu dieser Entwicklung beitrugen, werden mit besonderer Zuneigung vorgestellt: Marieluise Fleißer, Irmgard Keun, Gabriele Tergit oder Vicki Baum, die mit "Menschen im Hotel" einen der erfolgreichsten Romane der Zeit schrieb und mit "Feme" 1926 auch eine direkte Reaktion auf die zahlreichen politischen Morde durch militante rechte Organisationen.

Als gemeinsamer Nenner dieser "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen" - so der Ausdruck des Kunsthistorikers Wilhelm Pinder für die Disparität der Stile - erscheint die Krisenerfahrung. Viele empfanden ihre Zeit als eine ununterbrochene Abfolge von Krisen. Dies hatte nicht nur eine Fragmentarisierung zur Folge - Musils "Mann ohne Eigenschaften" blieb ebenso Fragment wie Hans Henny Jahnns "Fluss ohne Ufer". Das Krisenbewusstsein führte auch zu inhaltlichen Zuspitzungen: letzte Entscheidungen, das Verlangen nach Führerschaft, Gewaltverherrlichung. Im Streit darum, wer über die deutsche Kultur zu bestimmen hatte, machte die Provinz mobil gegen die Metropole. Literarische Debatten arteten immer häufiger in politische Kontroversen aus, und Döblins "Berlin Alexanderplatz" wurde dabei genauso zur Zielscheibe rechter Agitation wie Remarques "Im Westen nichts Neues". Eine Literaturgeschichte, die sich an politischen Daten orientiert, muss politisch und gesellschaftlich relevante Werke in den Mittelpunkt rücken. Dies führt einerseits zur Vernachlässigung mancher Autoren, die für uns heute die Literatur der zwanziger Jahre repräsentieren wie Hesse, Kafka oder Franz Werfel; andererseits geraten Schriftsteller in den Fokus, die seit 1945 als erledigt gelten. Für Kiesel zählt, ob ein zwischen 1918 und 1933 erschienenes Werk als zeittypisch angesehen werden kann. Die Vertreter des neuen Nationalismus seien "gesetz- und verhängnismäßig mit Talentlosigkeit geschlagen", behauptete Thomas Mann 1928, sie könnten "in irgendeinem höheren Sinne nicht faszinieren". Das will Kiesel so nicht gelten lassen. Und deshalb stehen bei ihm erst mal alle unterschiedslos nebeneinander, ja, auf gleicher Höhe: Ina Seidel neben Elisabeth Langgässer, Erwin Guido Kolbenheyer neben Lion Feuchtwanger, Hans Grimm neben Stefan Zweig.

Liest man von Kiesel besonders hervorgehobene Romane wie Arnolt Bronnens "O.S." über die deutsch-polnischen Auseinandersetzungen in Oberschlesien oder Ernst von Salomons "Die Geächteten" über das Treiben der Freikorps als literarisch überzeugende Manifestationen einer Fehlentwicklung, die unmittelbar in die Katastrophe führte, dann lässt sich die Frage nach der politischen Verantwortung der Verfasser allerdings nicht ausblenden. Kiesel versucht, literarische Kategorien sauber von politischen Implikationen zu trennen, und zeigt sich im Zweifel nachsichtig. Es mag zutreffen, dass vielen Werken "die spätere Zuwendung der Autoren zum Nationalsozialismus nicht immer schon zwingend eingeschrieben" war; dennoch ist das rassistische und totalitäre Gedankengut in den Werken eines Bruno Brehm, Franz Schauwecker oder Felix Riemkasten nicht wegzudiskutieren. In seinem Bemühen, die Ausgestoßenen literarisch zu rehabilitieren, schießt Kiesel bisweilen vielleicht übers Ziel hinaus.

Dennoch ist der Gewinn, den diese Literaturgeschichte für die Erweiterung unseres Bildes von Weimar darstellt, nicht hoch genug zu veranschlagen. Die Lagerbildung und Militarisierung der Literatur begann unmittelbar nach Kriegsende mit unterschiedlichen Deutungen der Niederlage, die das Denken und Fühlen der Zeitgenossen mehr bestimmte als alles andere. Kiesel erinnert mit Recht daran, dass die Geschichte Weimars in erster Linie eine Nachkriegsgeschichte ist - und eben keine Vorgeschichte des Dritten Reiches. Während die Nationalisten und Völkischen mit Darstellungen der Grenzlandkonflikte, der Kämpfe im Baltikum oder der Separatistenbestrebungen im Rheinland große Erfolge erzielten, meldete sich mit Büchern zum Ruhrkampf und zu den Aufständen in Mitteldeutschland 1921 erstmals auch eine dezidiert klassenkämpferische Literatur zu Wort. Je näher der Bürgerkrieg zu kommen schien, desto mehr bemühten sich die Literaten auf beiden Seiten, "Dampf hinter die Erscheinungen zu setzen" (Ernst Jünger).

Kiesel wollte aus den Quellen der Literatur so etwas wie den Geist der Zeit destillieren und hat ein prallvolles, herrlich inkorrektes, unkonventionelles Pandämonium Weimars zusammengestellt, das den ganzen Wahnwitz dieser politisch so vergifteten, literarisch so produktiven Übergangszeit bündelt. Sein Extrakt aus der Sichtung mehrerer tausend zum Teil längst vergessener Titel ist am Ende mehr Literaturverführer als Literaturgeschichte. Bücher, die man bisher höchstens vom Hörensagen kannte, will man jetzt endlich selbst lesen. Schon dafür gebührt Helmuth Kiesel Dank.

THOMAS KARLAUF

Helmuth Kiesel:

"Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918-1933".

(Geschichte der deutschen Literatur, Band 10)

Verlag C. H. Beck, München 2017. 1310 S., geb., 58,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hymnisch bespricht Rezensent Jens Bisky Helmut Kiesels "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918-1933", die die essentiellen Forschungen des Germanisten zur literarischen Moderne bündelt. In drei klugen und anregenden Abhandlungen über das Epochenprofil, die Rolle der Literatur als Gestaltungsfaktor und die Entwicklungen der Gattungen Lyrik, Dramatik und Epik kann ihm Kiesel seine These einer "reflektierten Moderne", welche die Formel der "klassischen Moderne" ablöse, überzeugend darlegen. Allein wie der Autor Historie und Literatur verknüpft, das Unzusammenhängende ordnet und sich dabei hingebungsvoll einzelnen Werken widmet, ringt dem Rezensenten größte Anerkennung ab. Mit großem Interesse liest Bisky zudem Kiesels kulturhistorische Deutungen der Epoche, etwa zum Angestelltenroman, der Sportbegeisterung oder der Welt der Schwerindustrie.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Tiefenscharfe Literaturgeschichte der Epoche."
Reinhard Mehring, Zeitschrift für Geschichtwissenschaft, 11-2017

"Eine Epoche und ihre Gesellschaft, mit den Augen ihrer Literaten."
Bernhard Schulz, Tagesspiegel, 01. Oktober 2017
"(Kiesel) hat in all die Unübersichtlichkeiten, Verwicklungen, Frontstellungen im Politischen wie Literarischen eine plausible Ordnung gebracht und darin doch die lebendige Vielfalt erfahrbar gemacht."Erhard Schütz, Tagesspiegel, 9. Juli 2017
"Ein wirkliches Meisterwerk!"
kulturbuchtipps.ch, 7. Juli 2017

"In diesem Standardwerk werden die bekannten, vergessenen, zu Recht gerühmten und zu Unrecht verrissenen Bücher der Vorkriegszeit alle gleich ernst genommen."Maxim Biller, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2. Juli 2017
"Hat ein prachtvolles, herrlich inkorrektes, unkonventionelles Pandämonium Weimars."
Thomas Karlauf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Mai 2017