Das Geheimnis CHRISTI
Patrick Roth erzählt. Oder? Es erzählt ein "ich". Aber wer ist dies "ich"? Es steht im ersten und im vorletzten Satze des Buches: "Ich sehe..." und "Andreas und ich". Demnach müsste "ich" der Tabeas sein, der mit Andreas gemeinsam eine Höhle aufsucht, um dort jemanden zu
besuchen und zu befragen. Aber zwischen diesen beiden Sätzen ist dies "ich" nicht da; der Tabeas…mehrDas Geheimnis CHRISTI
Patrick Roth erzählt. Oder? Es erzählt ein "ich". Aber wer ist dies "ich"? Es steht im ersten und im vorletzten Satze des Buches: "Ich sehe..." und "Andreas und ich". Demnach müsste "ich" der Tabeas sein, der mit Andreas gemeinsam eine Höhle aufsucht, um dort jemanden zu besuchen und zu befragen. Aber zwischen diesen beiden Sätzen ist dies "ich" nicht da; der Tabeas (sonderbarer Name, nicht?) ist in der ganzen Novelle nur jemand, wie auch Andreas nur jemand ist. Diese beiden Jemande besuchen in der Höhle einen Alten, den Diastasimos. Und sie tun dies in Palaestina, Jahre nach Jesu Verhaftung und Kreuzigung. Diese beiden jungen Jemande sind Anhänger der Lehre Jesu, ohne diesen anders denn vom Hörensagen zu kennen; das heißt, dass sie auch dessen Lehre nur aus dem Munde derer kennen, die ihn noch eigens gesehen und gehört haben. Eine geistliche Lehre ohne den Geist des Lehrers zu lernen ist jedoch schwer. Und so sind Tabeas und Andreas vom Apostel Thomas gesandt worden, zu dem alten Diastasimos zu gehen, der Jesus noch erlebte. Und sie sollen aufschreiben, was Diastasimos ihnen über seine Begegnung mit Jesus erzählt. Und er erzählt sonderbar, stückchenweise, nicht fließend. Und er tut dies, weil er immer wieder in die Tiefe unterhalb des zu erzählenden Geschehensflusses blickt und auch den Blick des Andreas und des Tabeas dorthin zu lenken versucht, die ohne ihn nicht auf den Gedanken gekommen wären, dass dort erst das Geistliche, das Wunderbare zu entdecken ist. Sie schreiben nämlich von sich aus voreingenommen, steinern, unbegeistet, also ohne Begeistung durch den Geist CHRISTI. Dieser aber ist's, der in den Römern etwa keine Feinde oder in Aussätzigen keine Schuld findet, sondern in allen Menschen die Seele schaut. Im von Diastasimos Erzählten steht ein Wegeskontrollposten, an dem von römischen Soldaten alle Passanten durchsucht werden, um Jesus zu verhaften, der - wie die Römer wissen - mit seinen Gefährten auf dem Wege nach Jerusalem ist und unbedingt den Posten passieren will. Dies ist höchst spannend erzählt, aber solcherlei Erzählen bleibt an den an der Handlung beteiligten Personen hängen, wobei jedoch der CHRSISTUS unpersönlich oder überpersönlich ist. In der Tiefe aber, unterhalb des Erzählten, sind geheime Verbindungen zwischen den Menschen, und darauf kommt es dem Diastasimos an. Da ist etwas in den Menschen, mit dem sie teilen, ohne dies zu bemerken. Auch in dem Erzähler. Und so erklärt sich denn auch dessen Name 'Diastasimos': Die altgriechische 'Diastasis' nennt auf Deutsch die "Spaltung", oder "Zerspaltetheit". In dieser Uneinsheit gilt es, sich selbst zu finden und damit die Wahrheit, sich ihr hinzugeben. Und so heißt denn das lateinische 'Tabeas': "du mögest zerschmelzen". Und so schmilzt denn der Leser in dieser literarisch meisterlich geschriebenen Novelle vor Spannung und Geist dankbar dahin. Wunderbar!