Produktdetails
  • Gewicht: 640g
  • ISBN-13: 9783770053254
  • ISBN-10: 3770053257
  • Artikelnr.: 43403312

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wer viel fragt . . .
Parlamentarische Steuerung im Reichstag und im Deutschen Bundestag

Als kollektive, von den Bürgern direkt gewählte Repräsentationswagen stehen die Parlamente im Zentrum des demokratischen Regierungssystems. Um ihre Funktionen der Gesetzgebung, Regierungsbildung und Regierungskontrolle zu erfüllen, benötigen sie geeignete Steuerungsstrukturen. Der Deutsche Bundestag wird in der vergleichenden Literatur zu Recht einerseits als "Fraktionenparlament" apostrophiert, andererseits gilt er wegen seines breit ausgebauten Ausschusswesens als "Arbeitsparlament", das der Regierung die Hegemonie in der Gesetzgebung zwar nicht streitig machen kann, sich aber dennoch einen eigenständigen Einfluss auf das Geschehen bewahrt hat.

Um die Prozesse innerhalb und zwischen den Fraktionen beziehungsweise Ausschüssen zu koordinieren, verfügt der Bundestag über spezielle Organe und Regelungsmuster, die sich als formale und informale Strukturen historisch herausgebildet haben. Drei von ihnen werden genauer unter die Lupe genommen: Der Präsident beziehungsweise das Präsidium, der Ältestenrat und die Parlamentarischen Geschäftsführer. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei nicht der Aufbau und das Funktionieren der Institutionen, sondern ihre Genese. Im Rückblick auf den kaiserlichen Reichstag und den Reichstag der Weimarer Republik soll gezeigt werden, aus welchen "vorgängigen Strukturen" und entlang welcher Entwicklungspfade sie entstanden sind: "Und warum geschah dies genau so, nicht aber anders?"

Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, muss der Leser viel Geduld aufbringen. Dem eigentlichen Thema wendet sich die Studie von Sebastian Heer erst nach 200 Seiten zu. Bis dahin hat man sich zunächst durch ein gewaltiges Theoriegebilde zu kämpfen, das die "Ähnlichkeitsbestimmung" - vulgo: den Vergleich - mittels eines aus der biologischen Evolutionslehre entlehnten "morphologischen Konzepts" herzuleiten versucht. Anschließend gibt er einen Überblick über den Ist-Zustand der parlamentarischen Steuerungsstrukturen im Bundestag. Banalitäten wie die, dass demokratische Teilhabe und effiziente Steuerung in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, werden als neuartige Erkenntnisse ausgegeben.

So bombastisch die Darstellung in ihrem theoretischen Anspruch daherkommt, so dünn bleibt sie in dem - gerade einmal ein Viertel des Gesamttextes umfassenden - historisch-empirischen Teil. Statt den Dingen auf den Grund zu gehen, werden hier viele interessante Fragen einfach liegengelassen. Das gilt zum Beispiel für die in der Weimarer Zeit entstandene Praxis, das Amt des Parlamentspräsidenten der stärksten Fraktion zuzusprechen. Seit Hermann Göring (NSDAP) weiß man, dass es sich dabei nicht notwendig um einen Vertreter der Regierungsmehrheit handeln muss. Ist diese Verfassungskonvention wirklich eine funktionslogische "Selbstverständlichkeit", wie der Autor ohne weitere Begründung behauptet, oder wäre es unter den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems nicht genauso plausibel, wenn die Regierungsmehrheit das Amt besetzt? Hierüber könnte auch ein Vergleich mit anderen Regierungssystemen Aufschluss geben.

Dasselbe gilt für das in Deutschland übliche Verfahren, die Präsidiumsmitglieder in geheimer statt offener Abstimmung zu wählen, die für die Wahl des Bundespräsidenten und Bundeskanzlers später umstandslos übernommen wurde, über deren Entstehungshintergrund im Frankfurter Paulskirchenparlament von 1848 man ebenfalls gerne Näheres erfahren hätte. Noch dürftiger gerät der empirische Teil über die Parlamentarischen Geschäftsführer. Der Autor beschränkt sich hier auf die exemplarische Betrachtung der SPD-Fraktion, die als "verallgemeinerbar" angesehen werden könne, ohne sich die Mühe zu machen, das zwar spärliche, aber durchaus vorhandene Quellenmaterial zu anderen Fraktionen zu sichten und aufzubereiten. Diese Detailarbeit soll offenbar den Historikern überlassen bleiben. Erst bei der zusammenfassenden "morphologischen" Ähnlichkeitsbestimmung ist die Arbeit wieder ganz in ihrem Element.

Wie die Arbeiten von Gerhard Lehmbruch über den Föderalismus oder Yu-Fang Hsu über die direkte Demokratie zeigen, können theoretisch schlankere Konzepte wie das der "Pfadabhängigkeit" die Entstehung und Entwicklung politischer Institutionen wesentlich prägnanter erklären als der von Sebastian Heer ausgebreitete "morphologische Ansatz" und das Theoriemodell des "Evolutorischen Institutionalismus", die auf den Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt zurückgehen.

FRANK DECKER

Sebastian Heer: Parlamentsmanagement. Herausbildungs- und Funktionsmuster parlamentarischer Steuerungsstrukturen in Deutschland vom Reichstag bis zum Bundestag. Droste Verlag, Düsseldorf 2015, 373 S., 59,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In der Regel sind Funktionsanalysen parlamentarischer Steuerungsstrukturen genau nach dem Geschmack der Rezensenten, die in der FAZ die politischen Bücher besprechen. Doch an Sebastian Heers Studie "Parlamentsmanagement" lässt Rezensent Stefan Decker kein gutes Haar. Zu langatmig findet der Kritiker, wie der Autor die Herausbildung formeller und informeller Strukturen beschreibt, zu dünn die empirischen Ergebnisse, und zu bombastisch den theoretischen Anspruch. Und dass sich Heer in wichtigen Kapiteln auf die SPD-Fraktion beschränkt, passt dem Rezensenten auch nicht.

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