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Wie kann die Natur des Menschen erforscht werden? Literarische Fallgeschichten aus dem 18. Jahrhundert von Johann Wolfgang Goethe bis Jean Paul.Die Vision, der Natur des Menschen in Gestalt eines Kindes ansichtig zu werden, das vollständig isoliert von der Umwelt aufgewachsen ist, treibt die Anthropologie seit Rousseau um und wird bei jedem »Wolfskind«, das auftaucht, aufs neue genährt. Aber nicht in Laboratorien werden diese Versuche umgesetzt, sondern in gedanklichen Experimenten in der Literatur: Die Suche nach dem »Naturkind« wird in fiktiven Szenarien durchgespielt und ausgewertet.Nicolas…mehr

Produktbeschreibung
Wie kann die Natur des Menschen erforscht werden? Literarische Fallgeschichten aus dem 18. Jahrhundert von Johann Wolfgang Goethe bis Jean Paul.Die Vision, der Natur des Menschen in Gestalt eines Kindes ansichtig zu werden, das vollständig isoliert von der Umwelt aufgewachsen ist, treibt die Anthropologie seit Rousseau um und wird bei jedem »Wolfskind«, das auftaucht, aufs neue genährt. Aber nicht in Laboratorien werden diese Versuche umgesetzt, sondern in gedanklichen Experimenten in der Literatur: Die Suche nach dem »Naturkind« wird in fiktiven Szenarien durchgespielt und ausgewertet.Nicolas Pethes rekonstruiert, wie Wieland, Wezel, Goethe, Kleist, Jean Paul u.a. in literarischen Fallgeschichten ihre Zöglinge den proto-experimentellen Operationen des Isolierens, Irritierens, Observierens, Protokollierens und Interpretierens unterwerfen und dabei die zeitgenössischen anthropologischen Modelle artikulieren und ironisch reflektieren: Die enge Verflechtung des anthropologischen Romans des 18. Jahrhunderts mit der entstehenden experimental-wissenschaftlichen Wissenskultur ist unverkennbar.
Autorenporträt
geb. 1970 in Konstanz, ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Letzte Publikation: Fallgeschichten. Zur Poetik einer epistemischen Schreibweise (2016); Ausnahmezustand der LiteraturNeue Lektüren zu Heinrich von Kleist (Hg., 2011); »Spektakuläre Experimente« (2004); »Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon« (Mithg., 2001).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2007

Der Wilde Peter und seine Bande

Im Labor der Aufklärung: Nicolas Pethes liest Bildungsromane als Menschenversuche. "Anton Reiser" oder "Wilhelm Meister" sind Erziehungsexperimente mit anderen Mitteln.

Von Alexander Kosenina

Ein 1724 bei Hameln aufgegriffener Knabe, der bis dahin offenbar unter wilden Tieren aufgewachsen war, zeigte wenig Ähnlichkeit mit einem Menschen. Den gebannten Zuschauern am Hofe leckte er die Hände, wandte ihnen den Hintern zu und stieg über ihre Köpfe, wobei er wiehernde Laute ausstieß. Unter den zahlreichen älteren Geschwistern Kaspar Hausers, über die man seit dem vierzehnten Jahrhundert immer wieder berichtete, galt dieser "Wilde Peter" als Besonderheit. König Georg I. nahm ihn von einem Heimaturlaub in Hannover mit zurück nach England, wo ihn Lord Monboddo in seiner Naturgeschichte des Menschen als größte Kuriosität seit Adams Zeiten beschrieb.

Nicolas Pethes macht in seiner Habilitationsschrift solche "Zöglinge der Natur" zum Ausgangspunkt einer faszinierenden Studie über literarische Anthropologie. Erzählungen und Romane des achtzehnten Jahrhunderts liest er als Experimente im Sinne einer naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung. Ihm geht es also weniger um die inhaltliche Verarbeitung medizinisch-psychologischer Lehren in der Literatur als um ein epistemologisches Modell. Entsprechend sucht er nach Analogien zwischen den Methoden und Verfahrensweisen der neuen Menschenkunde und der Poetik des anthropologischen Romans. Dem literarischen Personal in Pethes' Labor ergeht es wie Versuchstieren im Experiment, die ausgewählt, gereizt und beobachtet werden, um ihre Reaktionen dann aufzuzeichnen und zu deuten. Damit sind die fünf Versuchsstadien benannt: Isolieren, Irritieren, Observieren, Protokollieren, Interpretieren.

Der völlig isoliert von der Zivilisation aufgewachsene "élève de la nature" wird zu einem Brennpunkt in der Diskussion um die Natur des Menschen. Ist er eher ein Produkt vorhandener Anlagen oder von Erziehung oder eine Mischung beider? Statt zu spekulieren, wird im achtzehnten Jahrhundert systematisch beobachtet und experimentiert, die Erfahrung korrigiert so manche philosophische Position. Die Anhänger Rousseaus müssen anhand der Wolfskinder etwa einsehen, dass der Naturzustand nicht sonderlich erstrebenswert ist - diesem zu entkommen, so Pethes, ist weit natürlicher, als ihn aufzusuchen oder zu erhalten. Eine Erziehung nach der Natur erweist sich als sentimentaler Mythos. Fälle wie der Wilde Peter und mehr noch der 1800 gefundene und über sechs Jahre hinweg betreute Victor von Aveyron zeigen vielmehr, dass diese Naturkinder trotz aller Mühe schwer erziehbar sind. Sprache erlernen sie fast gar nicht, und ihr Sozialverhalten oder sittliches Empfinden bleibt primitiv. Die Literatur freilich kann sich über solche Befunde hinwegsetzen.

Mit der gezielten Irritation und Stimulation des isolierten Probanden beginnt das experimentelle Stadium des Menschenversuchs. Vor allem Albrecht von Hallers Reizexperimente mit Muskelfasern, die sich scheinbar ohne eine bewegende Seele auf mechanische, chemische oder elektrische Reizungen hin zusammenziehen, bilden die Basis. Pethes' literarische Analogie betrifft Helden wie Voltaires Candide oder Wezels Belphegor, deren philosophische Standpunkte durch physische und moralische Provokationen auf die Probe gestellt werden. Der neue Beobachtungsgeist der Naturkunde steuert die Observation: Schriftsteller werden so zu einem mikroskopischen Blick angeleitet.

Zwischen Labor und Poetenklause etabliert sich als Darstellungsmedium der neuen empirischen Observation die Gattung der Fallgeschichte. Pethes zeigt, dass für die Anthropologen der Aufklärung die aufschlussreichsten Einsichten über die Menschennatur am Extrem zu gewinnen sind: Wolfskinder, edle Wilde, Taubstumme, Selbstmörder, Verbrecher oder Wahnsinnige sind die Protagonisten psychologischer, juristischer oder pädagogischer Fallsammlungen. Diese dokumentieren, ohne deshalb auf literarische Techniken zu verzichten. Solchen Protokollverfahren authentischer Befunde verdanken nicht zuletzt Helden wie Anton Reiser, Werther oder der Verbrecher aus Infamie ihre Entstehung. Besonders deutlich macht Pethes das im "Wilhelm Meister", wo das "Aufschreibesystem" selbst zum Gegenstand der Handlung wird. Der Leser rückt zum Zeugen eines "pädagogischen Versuchs" unter der Oberaufsicht der Turmgesellschaft auf, die durch ihre Emissäre immer wieder stimulierend, irritierend oder korrigierend in die Entwicklung eingreift.

Das Interpretieren als letzter Schritt in der Versuchsanordnung ist zugleich der problematischste. Dokumentieren ist sicherer als deuten, nicht nur der Naturwissenschaftler neigt gegenüber kühnen Schlussfolgerungen zur Zurückhaltung. Pethes erklärt seine literarische Experimentalpädagogik um 1800 für beendet. Ironie, Satire und Selbstreflexivität hätten den spröderen Wirklichkeitssinn der Aufklärung zunehmend untergraben. Aber erlebt das Konzept in der frühen Moderne, etwa im protokollierenden, "steinernen Stil" Döblins, nicht eine Renaissance?

Pethes lässt mit seiner Studie vor allem den Bildungsroman und seine Vorläufer in völlig neuem Licht erscheinen. Sein Ansatz scheint dabei viel umfassender gültig als in der Arbeit ausgeführt. Zu denken ist nicht nur an zahlreiche Texte jenseits des hier hauptsächlich bedienten Prosakanons: Werden Goethes Prometheus oder Faust, Schillers Franz Moor, Lenz' Hofmeister, Kleists Penthesilea oder Büchners Woyzeck nicht ähnlich isoliert, stimuliert und observiert - wenn sie nicht gar selbst Menschenforscher sind? Pethes' Buch wird noch Anlass zu vielen weiteren Fragen und Anknüpfungen geben, weil es Neugierde und Überraschung auslöst wie ein gutes Experiment.

- Nicolas Pethes: "Zöglinge der Natur". Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 412 S., br., 38,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sehr angetan ist der Rezensent Alexander Kosenina von dieser Habilitationsschrift von Nicolas Pethes. Dieser befasst sich darin mit dem die Aufklärung sehr faszinierenden Phänomen der von außerhalb der Zivilisation aufgewachsenen Menschen, die bei ihrem Auffinden dann zum Gegenstand mannigfacher Beobachtungen, Spekulationen und Experimente wurden. Der Geist des Experimentierens ist es, der Pethes interessiert - und zwar im Niederschlag, den er in Romanen des 18. Jahrhunderts gefunden hat, von Voltaires "Candide" über Wezels "Belphegor" bis zu Goethes "Wilhelm Meister". Was Pethes so nachzeichnet, ist die Geburt des Bildungsromans aus dem Geist der Fallgeschichte. Der Roman wird dabei selbst zum anthropologischen Experiment. Kosenina findet die Funde und Darstellungen von Nicolas Pethes so originell wie überzeugend und glaubt, dass die in dem Buch gewonnenen Anregungen durchaus auch auf weitere Felder, etwa die im Buch selbst weitgehend ausgesparte Dramentliteratur, ausgedehnt werden können.

© Perlentaucher Medien GmbH