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Das persönliche Schicksal Willy Brandts ist auf einzigartige Weise mit der politischen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert verbunden. Sein Lebensweg ist geprägt von einschneidenden Ereignissen, von der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 bis zum Mauerfall 1989. Peter Merseburger hat eine umfassende, auf allen zugänglichen Quellen fußende Biografie des großen Politikers geschrieben.
Das große Standardwerk über Willy Brandt und seine Zeit - jetzt im Taschenbuch!
»Merseburger übertrifft alle seine Vorgänger bei weitem. Sein Buch vereinigt die Vorzüge des Journalisten und des
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Produktbeschreibung
Das persönliche Schicksal Willy Brandts ist auf einzigartige Weise mit der politischen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert verbunden. Sein Lebensweg ist geprägt von einschneidenden Ereignissen, von der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 bis zum Mauerfall 1989. Peter Merseburger hat eine umfassende, auf allen zugänglichen Quellen fußende Biografie des großen Politikers geschrieben.
Das große Standardwerk über Willy Brandt und seine Zeit - jetzt im Taschenbuch!

»Merseburger übertrifft alle seine Vorgänger bei weitem. Sein Buch vereinigt die Vorzüge des Journalisten und des Historikers: Es ist glänzend geschrieben und zugleich sorgfältig recherchiert.« Volker Ullrich in der 'Zeit'

Es gibt keinen deutschen Kanzler, dessen Regierungszeit so voller dramatischer Wendungen war - vom gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn über den folgenden größten Wahlerfolg der SPD, die umkämpfte Ostpolitik, den Friedensnobelpreis bis zur Spionageaffäre, die ihn zum Rücktritt veranlasste. Er war ein charismatischer Visionär und ein pragmatischer Realist, ein Mensch mit Schwächen und einer der wenigen, die in der Politik moralische Maßstäbe gesetzt haben.

Peter Merseburger hat für seine Biografie alle zugänglichen Quellen ausgewertet und mit vielen Zeitgenossen gesprochen. Einfühlsam, detailliert und mit kritischer Sympathie zeichnet er den bewegten Lebenslauf Willy Brandts nach.
Autorenporträt
Merseburger, Peter
Peter Merseburger, geboren 1928 in Zeitz, war Redakteur beim 'Spiegel', Moderator des Fernsehmagazins 'Panorama' und ARD-Korrespondent und Studioleiter in Washington, Ostberlin und London. Er lebt als freier Publizist in Berlin und Südfrankreich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Mehr Biographie wagen . . .
Aus sozialdemokratischer Perspektive: Peter Merseburger über Willy Brandt / Von Werner Link

Zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung blicken viele Westdeutsche auf die Zeit der "alten" Bundesrepublik nostalgisch zurück, so wie einst viele Weimar-Deutsche auf die "gute alte Zeit". Wie damals Kaiser Wilhelm und der "Arbeiterkaiser" August Bebel, so sind heute die beiden herausragenden bundesdeutschen Kanzler Konrad Adenauer und Willy Brandt die historischen Bezugspersonen - obwohl oder vielleicht gerade weil sie nach Herkunft und privater wie politischer Grundüberzeugung so verschieden waren: hier der katholisch geprägte rheinische Bürger und Christdemokrat, dort der norddeutsche Sozialdemokrat proletarischer Herkunft (freilich im berufssoziologischen Sinne nie "Arbeiter"), der zeit seines Lebens Agnostiker war. Daß beiden nach einem streitbaren politischen Leben, das die Geschichte Deutschlands widerspiegelte und zugleich mitgestaltete, im kollektiven nationalen Gedächtnis eine gleichrangige Stellung - gewissermaßen als die zwei Brennpunkte in einem ellipsenartigen Geschichtsbild - eingeräumt wird, scheint die tiefen Gegensätze der Vergangenheit zu versöhnen. Als das wiedervereinigte Deutschland begann, sich der Tradition der "alten" Bundesrepublik zu vergewissern, stellte Bundespräsident Richard von Weizsäcker beim Staatsakt für den verstorbenen Willy Brandt wortmächtig fest, Adenauers Westpolitik und Brandts Ostpolitik seien ein "kaum noch umstrittenes Ganzes" und "kostbares Allgemeingut" geworden.

Angesichts dieses Befundes können Biographien über die beiden Protagonisten, deren Handeln die gemeinsame Tradition stiftete, gebührende Aufmerksamkeit beanspruchen. Hat jetzt nach der großen Adenauer-Biographie von Hans-Peter Schwarz auch Willy Brandt nur zehn Jahre nach seinem Tod die gültige Biographie erhalten? Eine gültige Biographie müßte Würdigung und Entmythologisierung zugleich sein, im Kontext der geschichtlichen Entwicklung. Dazu dürften sowohl Sympathie als auch kritische Distanz, vielleicht auch zeitlicher Abstand notwendig sein. Auch Abstand vom Parteienstreit ist notwendig, in den Brandt unvermeidlich aktiv und passiv verwoben war, was einem gerechten Urteil lange entgegenstand. Denn - wie Goethe einst schrieb - "die Mitwirkenden werden an vorzüglichen Menschen gar leicht irre; das Besondere der Person stört sie, das laufende bewegliche Leben verrückt ihre Standpunkte, hindert das Kennen und Anerkennen eines solchen Mannes". In der bisherigen Brandt-Literatur finden sich dafür ebenso Belege wie für die andere Tendenz, die parteiliche Verherrlichung.

Peter Merseburger, der bereits eine Schumacher-Biographie geschrieben hat, ist Zeitgenosse, nur fünfzehn Jahre jünger als Brandt. An ihm "irre geworden" ist er wahrlich nicht; auch ist er nicht der entgegengesetzten Gefahr erlegen. Aber hat der engagierte Journalist, der aus seiner politischen Überzeugung nie einen Hehl machte und in höchst einflußreichen Medien Brandts politische Arbeit in Berlin und Bonn publizistisch begleitete und unterstützte, auch die Distanz, die für das Bemühen um Objektivität gegenüber politischen Freunden und ihren Gegnern hilfreich ist? Diesbezüglich kommen dem Leser gelegentlich leichte Zweifel, auf die exemplarisch noch zurückzukommen sein wird. Quellen- und literaturmäßig ist die Biographie im großen und ganzen wohlfundiert. Zugang zu allen wichtigen Primärquellen - an erster Stelle natürlich zu den Brandt-Papieren - wurde dem Biographen gewährt. Er und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Alexander Behrens haben sie sorgfältig gesichtet und ausgewertet - mit einer unverständlichen Ausnahme, nämlich den Beständen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts, die vom Jahre 1963 bis zum Jahre 1971 in der vielbändigen Auswahledition der "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland" sogar publiziert vorliegen. Wertvoll sind zudem die mündlichen Hinweise von bedeutenden Zeitzeugen (am eindrucksvollsten ist eine sehr intime Bemerkung Brandts, die Helmut Kohl dem Biographen anvertraut hat).

Der erfahrene Journalist und Schriftsteller Merseburger versteht zu schreiben, fürwahr: spannend bisweilen, chronologisch voranschreitend, hin und wieder auf Späteres vorausweisend, an den Knotenpunkten des Lebens verweilend und hier und da zurückblickend, Bezüge zu vergangenem Erleben herstellend. Wohltuend, daß er sich vor übertriebenen Psychologisierungen hütet, daß er Brandts Kindheitserfahrungen, die "unbehauste Jugend" des unehelich geborenen Herbert Frahm, der beim Großvater aufwuchs, nur mit relativierenden Einschränkungen als Erklärung wertet für Suche nach (weiblicher) Wärme, für Kontaktscheue und Konsensbedürfnis.

Die sozialistische Ideenwelt, die der im sozialdemokratischen Milieu fest verwurzelte Großvater erstmals vermittelte und die sich dann der begabte Gymnasiast und politische Aktivist in der Sozialistischen Arbeiter-Jugend eigenständig erschloß, waren die Kraftquellen, aus denen Willy Brandt sein Leben lang schöpfte. Merseburger greift die schöne, von Hans-Peter Schwarz gewählte Charakterisierung "sozialdemokratische Jahrhundertgestalt" auf und bettet das Werk des Staatsmannes ein in die aktiv gestaltende, andauernde Mitwirkung Brandts an den Geschicken der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung, die dem "Vaterlosen" von Anfang seines politischen Lebens an bis ins hohe Alter "Heimat" war.

Dies so einfühlsam und nachvollziehbar verdeutlicht zu haben, ist - um es vorab zu sagen - das große Verdienst dieser Biographie.

Wer den späteren Parteiführer und Staatsmann verstehen will, sollte die ersten Kapitel nicht überschlagen. Aufschlußreich ist der Bericht über den Lübecker Gymnasiasten, den das angesehene "Johanneum" in die bürgerliche Bildungswelt einführte, der sich in den Wirren der Endjahre der Weimarer Republik der zwischen SPD und KPD angesiedelten Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) anschloß und 1933 in deren Auftrag ins norwegische Exil ging (mit Karl Marx in der Tasche und unter dem Decknamen, den er bereits in den ersten Wochen der illegalen Arbeit in Deutschland angenommen hatte). Ebenso aufschlußreich ist die Darstellung des Lebenswegs im Exil - über die schrittweise Abkehr vom linken Dogmatismus in Norwegen, über die Lehr- und Wanderjahre in Oslo, Berlin und Paris, über den Kampf mit publizistischen Mitteln im spanischen Bürgerkrieg, über den Deutsch-Norweger, den Sozialisten mit den zwei Vaterländern, der sich nach Kriegsende schließlich nur zögernd für die endgültige Rückkehr und Wiedereinbürgerung entschied.

Der demokratische Reifungsprozeß vollzog sich in der intrigenreichen Atmosphäre der sich gegenseitig heftig bekämpfenden sozialistischen Exilgruppen, wodurch er nicht leichter wurde. Geradlinig war er auch nicht. Der politische Kampf wurde vergiftet durch Verleumdungskampagnen gegen den Volksfrontfreund, den Sowjetunion-Sympathisanten, den "Agenten". Diese Kampagnen wurden zuerst in der Emigration und in den frühen Nachkriegsjahren in Deutschland von seinen sozialdemokratischen und sozialistischen Genossen (in Berlin von dem SPD-Vorsitzenden Neumann) geführt. Sie übertrafen in ihrer Perfidie die späteren entsprechenden Kampagnen der politischen Rechten. Ja, die Genossen lieferten den politischen Gegnern sogar direkt und indirekt "Material" gegen Brandt. Später, nach Brandts Wende zum Antikommunisten, mischten auch Moskau und Ost-Berlin kräftig mit. Die Beschreibung und kritische Analyse dieses widersprüchlichen Gemischs macht nachvollziehbar, wie tief die Verletzungen waren, die die Verleumdungskampagnen bei Willy Brandt erzeugten.

Vertrauter als die Emigrationszeit dürfte dem Leser die Berliner Zeit Willy Brandts sein: "Botschafter" des westdeutschen Parteivorstands beim Alliierten Kontrollrat, Berliner Bundestagsabgeordneter, "junger Mann" des Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter und schließlich selbst "Regierender" (1957). Seltsamerweise spart der Biograph in seiner ausführlichen Schilderung dieser Jahre den 17. Juni 1953 aus; über Brandts damalige Reaktion erfährt man nichts. Beginn des Aufstiegs zum neuen Repräsentanten des freien Teils von Berlin war zweifellos die große Freiheitsdemonstration gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands am 5. November 1956, als Brandt den Stimmungen der Massen Ausdruck zu geben vermochte, aber die aufgebrachte Menge vom desaströsen Marsch durch das Brandenburger Tor abhalten konnte, sie "zähmte". Hier wird der charismatische Brandt erstmals sichtbar.

Der Mauerbau 1961 und die Erfahrung der Tatenlosigkeit der westlichen Schutzmächte wie auch der eigenen Hilflosigkeit bildeten das Schlüsselerlebnis, aus dessen Verarbeitung die neue Deutschland- und Ostpolitik erwuchs - entwickelt im Diskurs des Berliner Freundeskreises, vor allem zwischen dem Regierenden Bürgermeister und seinem Pressesprecher Egon Bahr. Die "Politik der kleinen Schritte" und der "Wandel durch Annäherung" gingen von den "Realitäten" aus, dem sich abzeichnenden nuklearen Patt im Ost-West-Konflikt. Durch dieses Patt mußte die Teilung der Nation und der alten Hauptstadt zwar für lange Zeit als unüberwindbar erscheinen, aber dennoch nach Milderung verlangen, um den nationalen Zusammenhalt zu wahren.

Es versteht sich, daß all dies in der Biographie ausführlich behandelt wird - mit vielen interessanten neuen Fakten (so zum Beispiel mit dem Beleg, daß Brandt im August 1961 über die geplante Absperrung des westlichen Teils von Berlin schon Tage vorher geheim informiert war). Im Abwehrkampf gegen Chruschtschows Berlin-Ultimatum, in den Jahren vor und nach dem einschneidenden Mauerbau, diente "die Realität als Lehrmeister", und der gelehrige Brandt hatte schließlich - trotz bitterer Niederlagen - Fortune: Er wird Kanzlerkandidat seiner Partei und, trotz verlorener Wahlen, im Februar 1964 Parteivorsitzender - mit Herbert Wehners Hilfe. Nachdem er auch die Bundestagswahlen von 1965 verloren hat, zieht er sich verbittert nach Berlin zurück und gelangt im Spätherbst 1966 - weil der todkranke Fritz Erler nicht antreten kann - über die Große Koalition überraschend in Bonn "an die Macht", zunächst als Vizekanzler und Außenminister (dank Wehners Strategie) und dann, im Herbst 1969, als Kanzler einer sozialliberalen Koalition (jetzt aufgrund eigenen Willens und eigener Strategie). In jener dramatischen Nacht nach den Bundestagswahlen vom 28. September 1969 zeigt sich, daß Brandt sehr wohl ein zielstrebiger Machtpolitiker ist und sogar Herbert Wehner, der die Große Koalition mit Kurt Georg Kiesinger (CDU) fortsetzen wollte, auszuspielen vermag.

Die siebeneinhalb Amtsjahre in Bonn, die das weltweite Ansehen des Staatsmanns Brandt begründen, beschreibt Merseburger in drei gewichtigen Kapiteln - kenntnisreich, mit detaillierten Fakten und oft in erhellender Zusammenschau. In diesem Persönlichkeitsbild werden die Widersprüche nicht retuschiert: Der Willy Brandt jener Zeit hat Überzeugungskraft und kann begeistern, zeigt aber zugleich Kraftlosigkeit in depressiven Phasen, mit wiederholter Flucht in die Krankheit. Sein auf Konsens und Integration gerichteter Regierungsstil offenbart zugleich Führungsschwäche. Als Repräsentant des "anderen Deutschlands" will er das deutsche Volk mit seinen östlichen Nachbarn versöhnen (sein bewegender "Kniefall von Warschau" ist der symbolträchtige Ausdruck), muß aber mit der Verständigungspolitik nach außen den Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland zugleich bittere, sie verbitternde Wahrheiten zumuten. Der Entspannungspolitiker erscheint nach den Jahren des Kalten Krieges als Friedenskanzler. Als charismatischer Führer reißt er die Massen mit und gilt zugleich in der elitären Welt der linken Intellektuellen und Schriftsteller als Versöhner des Gegensatzes von Macht und Geist. Brandt integriert und polarisiert! Der Außenpolitiker ist erfolgreicher als der Innenpolitiker, obwohl wichtige Reformen gelingen, in jener Aufbruchstimmung ("Mehr Demokratie wagen"), die im nachhinein einer Kulturrevolution gleichkommt. Am Ende steht die tiefe politische und persönliche Krise, teils selbstverschuldet und teils von anderen miterzeugt oder doch benutzt.

Einige Bemerkungen zur Außenpolitik Brandts sind am Platz: Politische Anerkennung der Realitäten und aktive Anpassung an die internationale Haupttendenz der Ost-West-Détente - dieses Resümee der bisherigen Forschung wird von der Interpretation des Biographen bestätigt. Merseburger zeigt zutreffend, daß die neue Deutschland- und Ostpolitik bereits während der Großen Koalition oder sogar früher (Egon Bahrs Tutzinger Rede von 1963) von Brandt und Bahr vorgedacht und konzeptionell entwickelt wurde. Aber daß sich in der Großen Koalition "zwei deutlich unterschiedliche Ostpolitiken" der Regierungsparteien herausgebildet hätten, muß mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Hier folgt Merseburger, der zeitgenössische Publizist und Mitstreiter, den nachträglichen Verdrängungen und absichtlichen Stilisierungen, die SPD und CDU/CSU nach der "Ehescheidung" vorgenommen haben.

Die von Merseburger nicht herangezogene Edition der "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland" belegt das hohe Maß an ost- und deutschlandpolitischer Übereinstimmung zwischen den führenden Politikern von CDU, CSU und SPD. Man lese etwa die Protokolle der außenpolitischen Klausurtagung auf Burg Heimersheim am 2./3. Mai 1968. Im übrigen: Nicht erst die Regierung Brandt/Scheel, sondern bereits die Regierung Kiesinger/Brandt hat die Entscheidung, Verhandlungen mit Moskau aufzunehmen, getroffen. Und in seinem Bericht zur Lage der Nation vom 17. Juni 1969 erklärte Bundeskanzler Kiesinger, "daß auch der Abschluß eines Vertrages zur Regelung der innerdeutschen Beziehung für eine Übergangszeit nicht ausgeschlossen" sei.

Freilich wurden dann die Verhandlungen mit der Sowjetunion, mit Polen und mit der DDR von der Regierung Brandt/Scheel geführt. Genauer gesagt: In Moskau (und später in Ost-Berlin) verhandelte Egon Bahr, der Vertraute Brandts, in engem Kontakt mit dem Kanzler - mit allen Konsequenzen, die in Bahrs "Philosophie" enthalten waren, die die Opposition nicht akzeptieren wollte, die aber auch in den eigenen Reihen nicht unumstritten waren. Die Verträge von Moskau und Warschau (1970) waren zweifellos Brandts große historische Leistung, die schon 1971 mit dem Friedensnobelpreis internationale Anerkennung fand - noch bevor der Grundlagenvertrag mit der DDR ausgehandelt, ja noch bevor die Ostverträge ratifiziert und gemeinsam mit dem Berlin-Abkommen, der Gegenleistung der Sowjetunion, in Kraft getreten waren.

Die gemeinsame Bundestagserklärung von Regierungs- und Oppositionsfraktionen, die am 17. Mai 1972 die Ostverträge über die parlamentarische Hürde brachte, behagte dem Kanzler wenig, obwohl er doch selbst immer den Modus-vivendi-Charakter dieser Verträge hervorgehoben hatte. Tatsächlich schuf die gemeinsame Interpretation des Bundestages - zusammen mit dem Brief zur deutschen Einheit - die Brücke zur Fortsetzung der Ostpolitik, nachdem der Christdemokrat Kohl 1982 Brandts Nachfolger Helmut Schmidt abgelöst hatte. Daß Brandt am 27. April 1972 das konstruktive Mißtrauensvotum der CDU/CSU-Opposition überstanden hatte und sein außenpolitisches Werk retten konnte, war allerdings der DDR, der Bestechung von zwei Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion durch die Stasi zu verdanken ("Steiner-Affäre"). Der Biograph klärt diese skandalösen Vorgänge auf (auch die Mitwirkung von Wehner und dessen Vertrauten Karl Wienand) - allerdings ausführlich erst in dem folgenden Kapitel, so daß er dem Leser zunächst die Empörung über den Sturzversuch der Opposition und über den "Überläufer" zur CDU/CSU-Fraktion ungetrübt vermitteln kann. Merseburgers Analyse der Guillaume-Affäre bestätigt, daß der DDR-Spion nur der Auslöser, nicht die Ursache der Krise und des Endes der Kanzlerschaft Brandts war. Die dubiose Rolle Wehners wird zuverlässig geklärt, soweit das ohne die noch ausstehende Auswertung des Wehner-Nachlasses möglich ist.

Nach dem Rücktritt Brandts vom Amt des Bundeskanzlers am 6. Mai 1974 gibt Merseburger zu bedenken, ob "der von den Sachzwängen des täglichen Regierens befreite elder statesman vielleicht der unverfälschte, souveräne, wahre Willy Brandt" sei, der "keinen innenpolitischen Erwartungen mehr entsprechen muß und wieder in großen Zusammenhängen denken und leben kann" - bald als Präsident der Sozialistischen Internationale (SI) und als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission. Der Biograph berichtet über die internationalen Erfolge und Mißerfolge des SI-Vorsitzenden.

Merseburger zeigt auch, daß Brandt, der ja bis 1988 Parteivorsitzender blieb (dann Ehrenvorsitzender wurde), keineswegs aus der deutschen politischen Arena ausstieg, sondern weiter kräftig mitfocht. Stichworte sind: strittige innerparteiliche Integrationsversuche, die den jungen Linken weit entgegenkamen; Tolerierung und dann offene Unterstützung der sogenannten Friedensbewegung gegen die von Schmidt angestoßene Nato-Nachrüstung (erst gegen den eigenen Kanzler, dann gegen Kanzler Kohl), "Nebenaußenpolitik" und - obwohl oder gerade weil der "weltpolitische Wind" sich gedreht hatte - "Zweite Ostpolitik". Das waren nicht nur "Irrungen" des großen alten Mannes, sondern Anzeichen eines Realitätsverlustes. Auch Merseburger urteilt, daß Brandt in dieser Zeit "blind gegenüber der Machtpolitik der Sowjetunion" war und daß seine sicherheitspolitischen Vorstellungen "widerlegt worden sind". In eine rhetorische Frage gekleidet, sieht Merseburger den Gegensatz Brandt-Schmidt darin begründet, "daß der eine sich eher als demokratischer Sozialist, der andere mehr als Sozialdemokrat begreift". So war es wohl. Zudem dachte Brandt - im Unterschied zu Schmidt - nicht in Kategorien des Mächtegleichgewichts.

Der scheidende Parteivorsitzende hat Friedenspolitik und Freiheit als sein Vermächtnis bezeichnet. Hat er auch den "Abstand zwischen Macht und Moral . . . verringert" - in seiner Regierungszeit (wie sein Biograph meint) sowie in der Zeit davor und danach? Für die Zeit der Regierung erinnere man sich an die "Steiner-Affäre". In der Biographie kann man ebenfalls nachlesen, wie Willy Brandt, selbst Opfer schlimmer Verleumdungen, 1964 nicht davor zurückschreckte, von Ost-Berlin "Belastungsmaterial" gegen seinen möglichen Konkurrenten Erler anzunehmen, ihn damit offenbar zu konfrontieren. Und in den SI-Resolutionen der achtziger Jahre, die unter Brandts Ägide verfaßt wurden, moniert Merseburger selbst zu Recht die "krasse doppelte Moral"; von der "realpolitisch" begründeten, aber moralisch fragwürdigen Distanz Brandts gegenüber der Bürgerrechtsbewegung in Osteuropa ganz zu schweigen.

Auch bei der spektakulären, von Bahr betriebenen und von Brandt gedeckten Kooperation mit den kommunistischen Regierungsparteien, einschließlich der SED (Stichwort: SPD-SED-Grundsatzpapier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit"), gingen ja Macht und Moral weit auseinander. Setzten hier nicht sozialdemokratische Politiker ohne Macht das moralische Kapital der deutschen Sozialdemokratie aufs Spiel? Bei alldem ist mit "Moral" natürlich nicht die privat-persönliche Lebensführung gemeint. Dieser Bereich wird aber - es sei wenigstens am Rande erwähnt - in der Biographie keineswegs ausgespart. Willy Brandt war, wie er selbst im Zusammenhang mit den Gerüchten bei seinem Rücktritt öffentlich bekannte, wahrlich kein "Säulenheiliger". Als "l'homme des femmes", als Ehemann und Familienvater wird er von Merseburger ungeschminkt, aber taktvoll beschrieben.

Für sein Bild in der Geschichte ist sicherlich entscheidend, daß Brandt zwei Jahre vor seinem Tod die Wiedervereinigung erleben durfte und sie uneingeschränkt (einschließlich des Verbleibs Deutschlands in der Nato) begrüßte. Wie sähen wohl Geschichtsbild und biographische Interpretation aus, wenn dem nicht so gewesen wäre? Kontrafaktische Spekulationen beiseite! In der historischen Stunde des Mauerfalls fand Willy Brandt die richtigen, viel zitierten Worte: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!" In den folgenden Monaten verwies er bemerkenswerterweise auf den Deutschland-Vertrag der Regierung Adenauer und auf seine eigene Ostpolitik, ebenso wie Kohl, der Kanzler der Einheit, sich auf diesen Deutschland-Vertrag und auf den Brief zur deutschen Einheit der Regierung Brandt/Scheel berief. Jetzt erst entstand jenes "kaum noch umstrittene Ganze", von dem Weizsäcker 1992 beim Staatsakt sprach.

Manche früheren Unterstellungen von Brandts ost- und deutschlandpolitischen Gegnern konnten nun als gegenstandslos erscheinen. Aber einige Weggefährten und politische "Enkel" hatten wohl Brandts These, die Wiedervereinigung sei die "Lebenslüge" der Bundesrepublik Deutschland (die Brandt in den achtziger Jahren mehrfach vertreten hatte), anders verstanden als er selbst und sein Biograph, der sie interpretatorisch relativiert. Keine Frage, viele Sozialdemokraten waren zu "entschiedenen Zweistaatlern" (Brigitte Seebacher-Brandt) geworden. Brandt wich dem offenen Konflikt mit ihnen nicht aus (woran sich die heutige SPD-Führung ungern erinnern läßt). Für ihn war - in Abkehr von dem fragwürdigen Wort der "Lebenslüge" - die nationale Wiedervereinigung die politische Lebenserfüllung. In der Tat, auch auf dieser letzten Lebensstation bestätigte sich, was sein Biograph, das politische Leben Brandts resümierend, so trefflich formuliert hat: Willy Brandt "war ein Mann der vielen Abschiede und Anfänge, ein Politiker mit hochentwickeltem Gespür für den Zeitgeist, und er scheute den Positionswechsel nicht, wenn Einsicht in die veränderte Lage dies gebot".

Nach der lohnenden Lektüre dieses voluminösen, aber nie langweiligen Buches wird man bei der erwähnten Charakterisierung Willy Brandts als "sozialdemokratische Jahrhundertgestalt" das Adjektiv stark betonen wollen, ohne dadurch das Substantiv inhaltlich in Frage zu stellen. Spätestens seit Nietzsche wissen wir ja, daß das "Perspektivische" nun einmal "die Grundbedingung alles Lebens" ist. Brandt lebte und arbeitete in und aus sozialdemokratischer Perspektive, aus der auch der Biograph sein Leben und Werk überzeugend beschrieben hat. Das Staatsbegräbnis mit allem hoheitlichen Zeremoniell, das sich Brandt gewünscht hatte, symbolisierte, daß - trotz zeitweiliger Siege zweier entgegengesetzter totalitärer Bewegungen, gegen die Willy Brandt gekämpft hatte - das 20. Jahrhundert auch in Deutschland sozialdemokratisch mitgeprägt war, in entscheidenden Phasen von dem Parteiführer und Staatsmann Brandt, dem sozialdemokratisch-sozialistischen "Visionär und Realist". Merseburgers würdige, große Biographie verdient viele Leser.

Peter Merseburger: Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2002. 927 Seiten, 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002

Voller Melancholie an die Macht
Willy Brandt war der Kanzler der Ostpolitik und des Nord-Süd-Dialoges, des Radikalenerlasses und der Guillaume-Affäre – und manchmal war er nur ein müder, trauriger Mann
Nun hat sich auch Peter Merseburger in die Schar der Brandt-Biographen eingereiht. Auf den 900 Seiten seines Buches zeichnet er ein pointiertes Bild des Bundeskanzlers und Nobelpreisträgers, der die Welt mit Deutschland versöhnte und seine Politik stets auf die Bedürfnisse der Menschen ausrichtete.
Im skandinavischen Exil lernte er die Ehrlichkeit, Offenheit und Integrationskraft einer toleranten Parteistruktur kennen: „Im späteren Parteiführer Brandt wird manches vom Habitus seiner norwegischen Genossen erkennbar werden – etwa in seinem duldsamen Umgang mit Parteiflügeln oder den radikal orientierten Jungsozialisten, den ihm Kritiker als Führungsschwäche auslegen werden.”
Willy Brandt habe, schreibt der Autor enthusiastisch, immer ein Ohr gehabt für die aufbegehrende Jugend und für soziale Randgruppen, denen auch er entstammte. Willy Brandt sei ein toleranter Mensch gewesen, kein Freund schneller Entscheidungen, ein Parteivorsitzender und Bundeskanzler, der dazu neigte, die Dinge treiben zu lassen. Seine Schwäche, so Merseburger, sei zugleich seine Stärke; seine Melancholie, mit der er alles immer wieder in Frage stellte, macht ihn in den Augen seines Biographen menschlicher und sympathischer als all jene Politiker, die sich an die Macht klammerten. In bisweilen lexikalischer Dichte und von wohltuender Nüchternheit stellt der Autor Personen und Ereignisse vor, die den Lebensweg des Porträtierten säumten.
Peter Merseburger führte im Vorfeld seiner Arbeit Gespräche mit Egon Bahr und Hans-Jochen Vogel, mit Rut Brandt, dem Sohn Matthias, mit Markus Wolf, Günter Grass, Hans-Dietrich Genscher und weiteren 40 Weggefährten. Ein Name allerdings fehlt: der von Brigitte Seebacher-Brandt, der vierten und letzten Frau des Sozialdemokraten.
Frauen und Alkohol seien Willy Brandts vordergründige Schwächen gewesen, schreibt sein Biograph. Dankenswerterweise neigt Peter Merseburger nicht zu reißerischen Stilblüten und fragwürdig-überzogenen Interpretationen; der Autor bleibt dicht am Quellenmaterial und malt ein faires Bild des Vielgescholtenen. Bewunderung und Anerkennung überwiegen; kritische Betrachtungen fehlen glücklicherweise keineswegs.
1961 stellte sich Willy Brandt zum erstenmal als Kanzlerkandidat zur Wahl und versprach „nahezu allen alles”. Merseburger berichtet, der Gegner habe einige Parolen nach Kräften lächerlich gemacht, „die sich später als unerhört weitsichtig, ja ökologisch visionär erweisen sollten”; zum Beleg zitiert er aus dem Wahlprogramm, in dem es schon damals hieß, der Himmel über dem Ruhrgebiet müsse endlich „wieder blau werden”, und das Volksgesundheit, Stadterneuerung sowie Begabtenförderung propagierte.
Polierter Lebenslauf
Wenig Verständnis bringt Merseburger hingegen für Brandts Umgang mit seiner Emigrationszeit auf: „Statt in aller Offenheit über sie zu reden” und seine Exilschriften zu veröffentlichen, räumt er „Zitatenjägern und -verstümmlern” das Feld. Aus „wohl taktisch bedingter Vorsicht beläßt er es bei einer geglätteten, purifizierten Version seines Lebenslaufs.” Vollends auf Unverständnis stößt bei Merseburger, wie naiv Willy Brandt 1974 ins offene Messer lief, die Guillaume-Krise nicht rechtzeitig abzuwenden vermochte und die warnenden Stimmen leichtfertig in den Wind schlägt. Tat er dies etwa vorsätzlich, weil er, psychisch ausgelaugt war und erschöpft von Intrigen, das Handtuch sogar werfen wollte?
Über das Verhältnis Willy Brandt zu Herbert Wehner ist viel geschrieben worden. Peter Merseburger macht da keine Ausnahme. Wehner kommt auch bei ihm nicht gut weg. Einen Trittbrettfahrer und Intriganten nennt er ihn, der der Sache wegen über die sprichwörtlichen Leichen gegangen sei. Viel ist spekuliert worden über die Verbindungen Wehners und Bahrs in die DDR, die bis zu Mielkes Schreibtisch reichten und über die – so die Mutmaßung – der Sturz Willy Brandts maßgeblich gesteuert wurde.
Peter Merseburger beteiligt sich ein wenig an dem Versteckspiel, betont allerdings in aller Deutlichkeit, dass Brandts Aufstieg zum Bundeskanzler ohne Wehner nicht denkbar gewesen wäre.
Aufschlussreich sind auch die Anmerkungen über das Verhältnis Brandt- Schmidt: Helmut Schmidt fühlte sich in seinem Bemühen, eine persönlichere Beziehung zu Brandt aufzubauen, immer wieder abgewiesen. Umgekehrt ahnte er bisweilen nicht, wie sehr er mit seiner schnodderigen Art Brandt vor den Kopf stieß und kränkte. Peter Merseburger hat im Nachlaß von Willy Brandt Briefe eingesehen, in denen Schmidt als Werbender auftrat, als einer, der um eine offene Aussprache bat. Der Hintergrund: Brandt umgab sich gerne mit dem Küchenkabinett aus Berliner Zeiten, dem Egon Bahr, Heinrich Albertz und Klaus Schütz angehörten.
Rivalitäten waren unvermeidlich. Helmut Schmidt und Herbert Wehner, immerhin Brandts Stellvertreter, drängten darauf, dass entscheidende Fragen innerhalb dieses Triumvirats besprochen werden sollten und nicht im Küchenkabinett. Andererseits quittierte Schmidt, der ein autoritäreres Führungsverständnis besaß, Diskussionen, die sich seiner Ansicht nach unnötig in Länge zogen, mit bissigen Bemerkungen über Brandts Nachgiebigkeit und dessen Hang, Entschlüsse hinauszuzögern.
Rechtzeitig zum 10. Todestag Willy Brandts in dieser Woche legt Peter Merseburger seine Brandt-Biographie vor. Vieles darin ist bereits gesagt gewesen. Ein gewissenhaft geführter Anmerkungsteil erstickt allerdings den Verdacht, er schmücke sich mit fremden Federn. Der Verdienst des Autors bleibt die Würdigung des Staatsmannes. Merseburger erzählt, wie Willy Brandt vom Utopisten zum Kalten Krieger wurde, der er als Regierender Bürgermeister von West-Berlin war, und vom Kalten Krieger zum Begründer der Ost-Politik – und wie er als geläuterter Realist das Visionäre nicht aus dem Blick verlor. GODEHARD WEYERER
PETER MERSEBURGER: Willy Brandt 1913-1992. Die Biographie, dva, Stuttgart/München 2002. 929 S., 29,90 Euro.
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