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Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer sind Figuren der Literatur des späten 18. Jahrhunderts, die eines gemeinsam haben: sie reflektieren die Problematik der Individualität. Diese besteht einerseits darin, dass der einzelne als Individuum seine Einzigartigkeit unter Beweis stellen muss - ein Anspruch, der eine Überforderung beinhaltet. Das Subjekt sieht sich nun mit der äußeren Welt als etwas grundsätzlich anderem konfrontiert, das schon allein dadurch als latent feindlich erscheinen muss. Andererseits führt die im 18. Jahrhundert vorangetriebene Materialisierung des Menschen dazu, den…mehr

Produktbeschreibung
Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer sind Figuren der Literatur des späten 18. Jahrhunderts, die eines gemeinsam haben: sie reflektieren die Problematik der Individualität. Diese besteht einerseits darin, dass der einzelne als Individuum seine Einzigartigkeit unter Beweis stellen muss - ein Anspruch, der eine Überforderung beinhaltet. Das Subjekt sieht sich nun mit der äußeren Welt als etwas grundsätzlich anderem konfrontiert, das schon allein dadurch als latent feindlich erscheinen muss. Andererseits führt die im 18. Jahrhundert vorangetriebene Materialisierung des Menschen dazu, den einzelnen als ein kausalgesteuertes Triebwesen zu verstehen, das mit Recht auf der Verwirklichung seiner individuellen Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen beharrt. In den Schriften von Sade, Rousseau, Laclos, Diderot, Wieland, Goethe und dem europäischen Schauerroman erscheint darum das moderne Individuum als ein hermetisch in sich verkapseltes Wesen, das entweder die Welt beherrschen oder sie nicht zur Kenntnis nehmen will.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2002

Einzelzimmer mit Prokrustesbett
Andrejs Petrowskis kluge Studie zur Literatur der Spätaufklärung

In der Blüte der Aufklärung feierte das Individuum seine größten Auftritte. Doch waren es nicht humanistische Ideale, die ihm die Bühne bereitet hatten, sondern französische Materialisten wie Helvétius und d'Holbach. In ihrem Blick auf die Natur ersetzten sie apriorische Spekulation durch Empirie, den "Systemgeist" durch die offene Befragung der Einzeldinge. Alles Einzelne ist unvergleichlich und darf nicht aufs große Ganze hochgerechnet werden. In diesem strikt antimetaphysischen Programm genießt Individualität höchste Wertschätzung - sie ist aber auch einer beachtlichen Fallhöhe ausgesetzt. Determiniert von einer unabsehbaren Kette äußerlicher Faktoren, droht das eben erst in seiner Bedeutung gewürdigte Einzelwesen sogleich als flüchtige und zufallsbedingte Randerscheinung entzaubert zu werden.

Aufwertung und Kränkung des Individuums gehen Hand in Hand. Diderot brachte das Dilemma einer konsequent selbstkritischen Aufklärung in die elegante Denkform eines "Sophismus des Ephemeren": der Mensch als Wassertropfen im Meer der Unendlichkeit. Wenn das philosophische Projekt der Individualität unweigerlich in die Aporie führt, ist es Zeit für die Literatur, sich der Sache anzunehmen. Ihren Experimenten, wie stets am lebenden Menschen veranstaltet, geht es darum, die neuen Spielräume und Fallstricke der Individualisierung auszuloten. Das ist die Ausgangslage von Andrejs Petrowskis Studien zu französischen und deutschen Romanen des späten 18. Jahrhunderts.

Vor dem scharfsinnig skizzierten Hintergrund eines Individualitätskonzepts, das sich aufreibt zwischen theologischen Restbeständen und materialistischer Destruktion, läßt Petrowski ausgerechnet die menschenverachtenden Schurken des Schauerromans zu Wort kommen. Sie sind das komplementäre Gegenmodell zum gedankenvollen Schwärmer, wie ihn die deutsche Empfindsamkeit entwarf (hier vertreten in den schon brüchigen, von der Sinnlichkeit angefressenen Spätausläufern der Romane Wielands). Der Schwärmer verteidigt sein Inneres, indem er die Zumutungen der Außenwelt tapfer ignoriert. Der "Weltverschlinger" dagegen vernichtet seine Umgebung, indem er sie als widerstandslosen Fortsatz des eigenen Selbst behandelt.

Zeittypisch erweist sich der negative Held der Schauergeschichten als Quälgeist im Gewande des Anthropologen. Mit aller Macht und jedem Mittel will er herausfinden, bis wohin man das menschliche Wesen bringen kann. Ein Schlüsseltext für Petrowskis Argumentation ist der 1798 erschienene Roman des französischen Militäringenieurs Révéroni Saint-Cyr mit dem verheißungsvollen Titel "Pauliska ou la perversité moderne". Pauliska ist eine polnische Gräfin, die nach der Besetzung ihrer Heimat auf der Flucht halb Europa durchquert. Die "moderne Perversität" ereilt diese verfolgte Unschuld in Gestalt eines gewissen Barons d'Olnitz, der sie gefangensetzt und an ihr magnetisch-elektrische Experimente verübt. Mit Liebesdrogen wird sie gefügig gemacht, sich für die Verjüngungsmaschine ihres Peinigers und seiner geheimbündlerischen Freunde zu opfern.

Die wild gewordene Menschenwissenschaft des Übeltäters ist die Frucht materialistischer Anthropologie: "Tout est physique" lautet seine Einsicht in das Geheimnis des Humanums. Alles an der Mensch-Maschine ist handgreiflich und deshalb manipulierbar. Gefühle, Affekte, sämtliche Regungen sind nichts als Kräfte und Säfte, die der tolldreiste Wissenschaftler über ein System von Gummischläuchen in seine Opfer pumpt und steuert. Petrowski sieht im Horror solcher Experimente nicht allein den Beleg für die bekannte Dialektik der Aufklärung, sondern einen Ausdruck für die neuen Spielräume der literarischen Fiktion. Denn hinter der Figur des großen Manipulators steht die Omnipotenzphantasie des literarischen Autors, dessen Privileg ist, dem Geheimnis der Individualität schad- und straflos bis in ihre gründliche Zerstörung nachzuspüren. Der Schauerroman erweist sich dabei als Negativversion jener pädagogischen Modellsituation, die Rousseau im "Emile" konstruierte.

Ideal funktioniert Erziehung nur dann, wenn es dem Lehrer gelingt, über die Umwelteinflüsse auf seinen Zögling eine möglichst lückenlose Kontrolle zu erlangen. Also nimmt Rousseaus Pädagogik Romanform an: Nur als literarischer Autor kann der Philosoph über ein Geschöpf verfügen, das er vollständig in der Hand hat. Der Lehrer des Zöglings Emile ist sowohl Erfindung des Autors als auch dessen Platzhalter und verlängerter Arm. Indem der Verfasser sich selbst zum Erzähler und sogar zum Protagonisten ernennt, so Petrowskis einleuchtende Analyse, verdoppelt und verdreifacht er seine lenkende Autormacht und kaschiert sie zugleich. Im Doppelspiel des Hase-und-Igel-Parcours sind Erzähler und Erzieher dem armen Zögling immer den entscheidenden Schritt voraus.

Die Menschlichkeit zeigt sich eingespannt in eine Anordnung, die diesen Namen nicht verdient. So ist es konsequent, daß Petrowski die emphatischen Individualitätsentwürfe Rousseaus mit den späteren und illusionslosen Romanen von Choderlos de Laclos und Marquis de Sade kurzschließt. Wo Rousseau das Pathos des Subjekts aus der Rückzugsgeste des Solitärs hervorgehen läßt, spielen Laclos und Sade mit einem ganzen Set von Menschenleibern Carambolage - der eine subtil und intrigenhaft, der andere eher handfest.

Die Hoffnung der Aufklärer, das Individuum von äußerlichen Zwängen zu befreien, schlägt bei den skrupellosen Libertins der "Gefährlichen Liebschaften" um in ihr Gegenteil. Ihr Kalkül besteht darin, das Wissen um die vielfältigen Formen der Abhängigkeit strategisch bestmöglich auszunutzen. In de Sades "Hundertzwanzig Tagen von Sodom" erkennt Petrowski das Gegenstück zu den Inselschauplätzen der klassischen Utopie. Aus dem träumerisch entlegenen Anderswo wird hier eine hermetisch abgeschottete Burg, in der bei eisernem Tagesreglement sämtliche Register des Fleisches gezogen werden. "Individualität" ist wohl nicht ganz das treffende Leitkonzept für die sprachgewandt und pointenreich vorgetragenen Untersuchungen Petrowskis: Ihre Einsatzorte sind vielmehr jene Versuchsanordnungen, die im kruden Zusammenspannen von subjektiven Weichteilen und empirischen Prokrustesbetten das moderne Wissen vom Menschen erzeugen.

ALEXANDER HONOLD

Andrejs Petrowski: "Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer". Problematische Individualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2002. 352 S., geb., 52,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Alexander Honold erblickt in Andrejs Petrowskis "Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer" eine "kluge Studie" zur Literatur des späten 18. Jahrhunderts. Scharfsinnig, lobt der Rezensent, skizziert Petrowski ein Individualitätskonzept, "das sich aufreibt zwischen theologischen Restbeständen und materialistischer Destruktion". Wie er weiter ausführt, widmet sich Petrowski vor diesem Hintergrund vor allem den negativen Helden des Schauerromans. Der 1798 erschienene Roman "Pauliska ou la perversité moderne" von Révéroni Saint-Cyr, in dem ein gewisser Baron d'Olnitz eine vertriebene polnische Gräfin gefangensetzt, an ihr magnetisch-elektrische Experimente verübt, und sie mit Liebesdrogen gefügig macht, dient Petrowski dabei als Schlüsseltext, weiß Honold. Im "Horror solcher Experimente" sieht der Autor nicht nur die bekannte Dialektik der Aufklärung, die in ihr Gegenteil umschlägt, erläutert Honold, "sondern auch Ausdruck für die neuen Spielräume der literarischen Fiktion". Neben Saint-Cyrs Roman beschäftigt sich Petrowski auch mit Rousseaus "Emile" sowie den Romanen von De Laclos und de Sade, berichtet Honold. Obwohl "Individualität" für Honold nicht ganz das "treffende Leitkonzept" für diese Studie zu sein scheint, zeigt er sich von der "sprachgewandt und pointenreich vorgetragenen Untersuchungen" Petrowskis insgesamt sehr angetan.

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