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Produktdetails
  • Verlag: Klett-Cotta
  • Seitenzahl: 170
  • Gewicht: 391g
  • ISBN-13: 9783608950182
  • Artikelnr.: 24696771
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.1996

Das Gute am Kunstwerk
Auf die Form kommt es an: Hanna Segals Psychoanalyse von Bild, Traum, Spiel und Phantasie

Es ist erstaunlich, daß in Deutschland die Rezeption der Klein-Schule erst vor etwa zwanzig Jahren zögernd begonnen hat; in anderen Ländern, in fast allen südamerikanischen zum Beispiel, ist Melanie Klein längst die große psychoanalytische Urmutter, um nicht zu sagen die große Göttin. Zu den herausragenden Töchtern der Göttin gehört Hanna Segal. Die gebürtige Polin stammt wie ihre Lehrerin aus dem Judentum Ostmitteleuropas und empfing in England so etwas wie eine zweite gesellschaftliche Sozialisation.

Sie ist im Unterschied zu ihrer Lehranalytikerin, die eine schwierige Person war und sich menschlich eigentlich nur in ihrer Praxis ganz entfalten konnte, eine außerordentlich einnehmende Zeitgenossin. Wobei man gerechterweise sagen sollte, daß Segal nicht mit soviel männlicher Abwehr konfrontiert war wie Melanie Klein, die sich in Berlin noch als Vierzigjährige Sottisen von weit unterlegenen Kollegen anhören mußte. Seit Jahren engagiert sich Hanna Segal politisch und führt eine Kampagne "Psychoanalytiker gegen Atomwaffen".

Ihre wichtigste Eigenschaft scheint Klarheit zu sein - sie kann sozusagen gar nicht anders, als alles, was sie sieht, klar zu erfassen. Das ist eine ideale Voraussetzung für eine schreibende Psychoanalytikerin, die spannende Fallgeschichten literarisch erzählt. Hochinteressant für die Geisteswissenschaften sind Segals Beiträge über die Freiheit des Denkens, die künstlerische Kreativität und die ästhetische Rezeption. Die Psychoanalyse, schreibt sie, sei Teil der großen wissenschaftlichen Tradition, die das Denken vom Dogma befreit hat.

Weitreichend ist auch Segals psychoanalytische Konzeption des Bildes, die die Aufklärungsposition, in der das Bild gegen Vernunft ausgespielt wird, überwindet. Sie verhandelt Phänomene wie das Träumen, Tagträumen, Spielen, die Kunst immer von der Kunst her. Das feit sie dagegen, den Angstausdruck der Schizophrenen oder sonst Verstörten zur Kunst zu stilisieren, wie es der Psychiater Nawratil unternommen hat.

Was ist eigentlich das Gute am Kunstwerk? Bei Freud blieb diese Frage offen. Nach Segal besteht die Qualität des Guten am Kunstwerk in der Wiedererschaffung des guten inneren Objekts in der depressiven Phase. Man hat seine innere Mutter mit Projektionen beworfen, zerstört und befleckt, und nun wird sie dem Künstler in diesem "Zustand" - als Zerstörte, Befleckte - sichtbar, und er beginnt in der depressiven Phase, dies Bild in sich zurückzunehmen und das gute innere Objekt wiederherzustellen. Der Stoff, aus dem die Träume sind, ist für Segal der Stoff überhaupt: Wir verarbeiten wachend und träumend ununterbrochen unsere unbewußten Phantasien.

Sie schreibt: "Ich glaube, in Freuds Denken herrschte die Meinung vor, Phantasien seien keine primäre Aktivität. Für ihn sind sie mit Träumen, Symptomen, Versprechern und Kunst vergleichbar. Im Gegensatz dazu hält Melanie Klein unbewußte Phantasien für die wichtigste primäre Tätigkeit, und sie geht von einer beständigen Interaktion zwischen unbewußter Phantasie und Wahrnehmung aus." Mit Hilfe dieses Konzepts hat Segal zum erstenmal die Pathologien des Träumens erörtert. Psychotiker beispielsweise können nicht träumen, sondern hantieren statt mit Symbolen mit symbolischen Gleichsetzungen im Wachen und Träumen.

Das Bearbeitungspostulat unbewußter Phantasien ermöglicht ihr den notwendigen Schritt hinaus über jene psychoanalytischen Kunstkritiker im Umkreis des New Criticism, die mit ihrer Regressionstheorie nicht begründen könnten, inwiefern Infantilismus und Kunstmachen zweierlei Dinge sind. Als Beispiel diene ihre Erörterung eines Details in Picassos Guernica: "Der Kopf des sterbenden Pferdes erweckt wahrscheinlich früheste oral-sadistische Phantasien mit dem Gefühl, sowohl der Aggressor als auch der Angegriffene zu sein: Das Pferd ist ein sterbendes Opfer, aber es sind seine eigenen riesigen Zähne, die hervorstechen und die seine und unsere orale Aggression symbolisieren. Auch die gebrochenen Linien, die zerstückelte Darstellung der menschlichen und tierischen Gestalten entsprechen unbewußten Phantasien von zerstückelten Objekten, Opfern des Sadismus: Die starke Wirkung kommt von Picassos Fähigkeit, über begleitende Emotionen Gefühle tief im Unbewußten zu mobilisieren."

Entscheidend an dieser Analyse von Guernica ist, daß nicht der Stoff, sondern die Form die Ambivalenz trägt. Diesen Zugang kann man mit dem Formbegriff von Beuys parallelisieren: Die Form ist für Beuys das, was den Anspruch der formlosen Materie transportiert, und nicht etwas, was die formlose Materie als bloße Bedingung der Möglichkeit trägt - und so greift er zur Materie in ihrer gewissermaßen urschlammhaften Erscheinungsweise wie Filz, Fett, Honig und macht sie nicht zum Formträger, sondern spricht ihr Formanspruch zu. Dasselbe macht Hanna Segal, doch geht sie dabei nicht von der Materie, sondern von der Ambivalenz aus.

Da jeder geträumt, taggeträumt und gespielt hat, kann sich jeder in Segals Buch wiedererkennen, auch wenn ihm natürlich die enorme psychische und theoretische Anstrengung, die dahintersteht, verborgen bleiben muß. Ohne ausschließende Terminologie läßt sie den, der nichts von Psychoanalyse im technischen Sinn weiß, spielend in diesen Spielraum, den psychoanalytische Erwägung bedeutet, eintreten. Es ist also ein Buch, das man mit großem Vergnügen liest.

Sich die Kunst, das Spiel, die Tagträume zu verbieten kann eine Lebensentscheidung sein, die Ordensleute zum Zwecke der Kasteiung getroffen haben, aber auch ein Pascal, als er sich ein Stachelkorsett gegen das Tagträumen anlegte. Segal hätte ihm glücklichere Methoden empfehlen können, seine unbewußten Phantasien zu bearbeiten. Und was hätte Adorno, der so nachhaltig mit den psychoanalytischen Kunsttheorien gehadert hat, zu ihrem Kunstbegriff gesagt? Vermutlich, er sei nicht dialektisch genug. Theoretisch hätte er sich durch Segal gewinnen lassen müssen, praktisch wäre sie gegen den alten Messianiker wohl nicht angekommen.

Gewiß hätten sie sich bis zu einem gewissen Grad verständigen können, denn Adorno war der Meinung, man müsse alle Variationen um ein Thema herum entwickelt haben und diese Variationen entwickelt zu haben, nicht das Thema als solches, sei wirklich das Thema. Kunst war für ihn die äußerste Form der Negation: Erst in einer Brüchigkeit, die nichts mehr von einem Drüben sehen läßt, sprang das Drüben für Adorno auf.

Das Drüben ist für Segal der noch immer theoretisch schwer zu begründende Übergang von der paranoiden, der verfolgenden zur depressiven Position, und in ihrer klinischen und theoretischen Passagenarbeit erweist sie sich selbst als Künstlerin, wenn sie die mythisch-ambivalente Mutter als Grund der Realität wiederherstellt. CAROLINE NEUBAUR

Hanna Segal: "Traum, Phantasie und Kunst". Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1996. 162 Seiten, geb., 48,- DM.

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