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Hitler, Goebbels, Bormann und Himmler - sie alle brachten sich um, als »ihr Deutsches Reich« unterging. Die Geschichte des Selbstmords im Dritten Reich zu erzählen bedeutet aber vielmehr, ganz andere Personen in den Blick zu nehmen: Anhänger und Gegner des Regimes, Soldaten und Frauen, verfolgte Gruppen, unter ihnen insbesondere Juden. Die Motive, die bereits in der Weimarer Republik, verstärkt jedoch während des Zweiten Weltkriegs und nach der Kapitulation zu hohen Selbstmordraten geführt haben, differieren. Diesen unterschiedlichen Motiven nachzugehen, den Menschen hinter den Zahlen ein…mehr

Produktbeschreibung
Hitler, Goebbels, Bormann und Himmler - sie alle brachten sich um, als »ihr Deutsches Reich« unterging. Die Geschichte des Selbstmords im Dritten Reich zu erzählen bedeutet aber vielmehr, ganz andere Personen in den Blick zu nehmen: Anhänger und Gegner des Regimes, Soldaten und Frauen, verfolgte Gruppen, unter ihnen insbesondere Juden. Die Motive, die bereits in der Weimarer Republik, verstärkt jedoch während des Zweiten Weltkriegs und nach der Kapitulation zu hohen Selbstmordraten geführt haben, differieren. Diesen unterschiedlichen Motiven nachzugehen, den Menschen hinter den Zahlen ein Gesicht und eine Geschichte zu geben, dieses Verdienst kommt dem Autor dieser bereits mit hoher Aufmerksamkeit bedachten Studie zu. Christian Goeschels Buch verbindet die sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen mit den Diskursen über Selbstmord und den Einzelschicksalen, die hinter den Selbstmordraten stehen. Der Autor analysiert Presseberichte, Propagandamaterial, Selbstmordstatistiken, Abschiedsbriefe, Polizeiunterlagen, Gerichtsdokumente und wissenschaftliche Abhandlungen aus dem Zeitraum von der Weimarer Republik bis nach der Kapitulation. Er kann zeigen, daß Selbstmord im Dritten Reich eine Option zwischen Selbstbestimmung und Bewahrung der Würde war - und oft die letzte Hoffnung im Angesicht des nationalsozialistischen Schreckens.
Autorenporträt
Christian Goeschel, geboren 1978, lehrt Europäische Geschichte an der Universität Manchester.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der in Sheffield lehrende Historiker und Rezensent Benjamin Ziemann hat Christian Goeschels Studie über Selbstmord im Dritten Reich offenbar mit Interesse gelesen. Zunächst mal hält er fest, dass die Selbstmordrate im Frühjahr 1945 stark anstieg: In Berlin brachten sich im April 1945 fünf mal mehr Menschen um als in den Jahren davor. Ziemann hält es für wahrscheinlich, dass die Angst vor den Russen dabei eine entscheidende Rolle spielt. Dafür spreche auch, dass die Selbstmordrate bei Frauen, die Vergewaltigung fürchteten, ausnahmsweise höher war als bei Männern. Aufschlussreich findet Ziemann auch Goeschels Vergleich mit Selbstmorden in der Zeit davor, ab der Weimarer Republik, in der die Motive ganz andere waren. Für Ziemann zeigt sich: Die Nazis schufen Chaos statt Stabilität, daher die erhöhten Selbstmordraten.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.05.2012

Zeit zum Selbstmord
Christian Goeschel untersucht, warum so viele
ganz normale Deutsche sich im Frühjahr 1945 umbrachten
Als das „Dritte Reich“ im Frühjahr 1945 zusammenbrach, sahen viele führende Nationalsozialisten keine Zukunft mehr für sich selbst. Nicht nur Hitler, Goebbels und wenig später Himmler brachten sich um. Andere Mitglieder der NS-Elite begingen ebenfalls Selbstmord, darunter nicht weniger als acht der 41 Gauleiter. Auch in der tief in die Kriegsverbrechen des NS-Regimes verstrickten Wehrmacht waren die Zahlen dramatisch. Von 554 Heeresgenerälen töteten sich 53. Welche Ursachen hatte diese beispiellose Welle von Selbstmorden? Was verrät sie darüber, wie das NS-Herrschaftssystem funktionierte? Diesen Fragen geht Christian Goeschel in seiner Studie nach. Dazu verknüpft er die Analyse von Einzelfällen mit dem Blick auf die sozialen Rahmenbedingungen des Suizids.
Katastrophischer Nationalismus ist eine mögliche Erklärung für die Selbstmordwelle jener Tage. Dieser Lesart zufolge war der Nationalsozialismus von Beginn an auf Selbstzerstörung angelegt, auf eine Verklärung des destruktiven Endes der Nation, die der Eroberung durch den Gegner auf jeden Fall vorzuziehen war. Goeschel gibt nicht viel auf dieses Motiv: Allenfalls für die Spitzen der Partei möge es gegolten haben. Im Frühjahr 1945 war Selbstmord aber ein relatives Massenphänomen. Allein im April brachten sich in Berlin 3881 Menschen um, fünfmal mehr als in den Jahren zuvor. Doch in den Gebieten westlich der Elbe blieben solche Panikreaktionen selten. Vieles spricht demnach dafür, in der Selbstmordwelle eine indirekte Reaktion auf die NS-Propaganda zu sehen, die den Topos der „grausamen Russen“ eingeprägt hatte. Seit Januar 1945, als die Rote Armee im Osten Deutschlands vorrückte, hatte die Angst vor Vergeltung und Vergewaltigung viele Menschen erfasst. Normalerweise bringen sich mehr Männer als Frauen um. In diesen Monaten kehrte sich das Verhältnis um.
Die ganze Widersprüchlichkeit des massenhaften Suizids im Frühjahr 1945 erschließt sich nur, wenn man die Vorgeschichte einbezieht. Goeschel geht dafür in die Weimarer Republik zurück, deren Feinde von links und rechts das Ansteigen der Selbstmordrate im Vergleich zur Vorkriegszeit als ein Versagen des demokratischen Systems brandmarkten. In Anlehnung an eine Theorie des Soziologen Émile Durkheim bevorzugt Goeschel den Begriff der Anomie. Damit lässt sich verstehen, wie eine gesellschaftliche Krise die Neigung zum Selbstmord verstärkt. Anomisch ist eine Situation, in der sich legitime Ziele nicht mehr mit legalen Mitteln verfolgen lassen. Das galt etwa für jene Männer, die ihren Freitod in den frühen dreißiger Jahren mit langer Arbeitslosigkeit rechtfertigten, die ihnen jede Zukunftsperspektive verbaute.
Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat die christlich-theologische Verurteilung des Selbstmordes in den Hintergrund. In der sozialdarwinistischen Weltsicht des Regimes galt ein doppelter Maßstab. Bei jenen „gefährdeten und labilen Typen, deren Fortpflanzung nicht unbedingt wünschenswert sei“, ließ sich Suizid positiv als ein „rassischer Eliminationsprozess“ verstehen. So formulierte es der Dichter und Arzt Gottfried Benn, der 1940 im Oberkommando der Wehrmacht für Selbstmorde von Soldaten zuständig war. Bei „rassisch wertvollen“ Deutschen war Selbstmord jedoch zu verhindern. Zur zynischen Begrifflichkeit trat eine zynische Praxis. Als 1933/34 eine Welle des Terrors über die Feinde des Regimes rollte, wurden viele Sozialisten „geselbstmordet“: Wenn sie nach Drohungen nicht selbst Hand an sich legten, halfen die Schergen des Regimes nach und stellten die Tat als Selbstmord hin.
In einer durch Terror geprägten Situation konnte der Selbstmord aber auch das letzte Refugium von Individualität sein. Das zeigen viele Selbstmorde von Juden, denen oft sorgfältige Planung zugrunde lag. Ihre Anzahl stieg dramatisch an, als im Oktober 1941 die Deportation der deutschen Juden in die Vernichtungslager begann. Zyankali in der Tasche war nun ein Mittel der individuellen Selbstbestimmung. Manche der jüdischen Selbstmörder verbanden ihre Tat mit einem trotzigen Bekenntnis zu ihrem Deutschtum. Ihre Motive unterschieden sich fundamental von jenen der NS-Täter im Frühjahr 1945. Erst in der Zusammenschau dieser Fälle eröffnet die Analyse des Selbstmordes eine neue Perspektive auf das NS-Regime. Statt Ordnung und Stabilität zu sichern, zerstörte es Normen und schuf eine chaotische Situation, in der viele Deutsche sich selbst töteten.
BENJAMIN ZIEMANN
CHRISTIAN GOESCHEL: Selbstmord im Dritten Reich. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 338 Seiten, 21, 90 Euro.
Benjamin Ziemann lehrt Neuere Geschichte an der University of Sheffield.
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