Produktdetails
  • Verlag: Gerstenberg
  • ISBN-13: 9783806725124
  • ISBN-10: 3806725128
  • Artikelnr.: 08999292
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2001

Multimedea
Klassiker vom Vier-Sterne-Gott, serviert in einer neuen Reihe

"Heute ist wieder einer der verdammten Tage, die ich kaum ertrage und mich ständig selber frage, warum ich all diese Gefühle mit mir trage, die ich nicht kannte oder nur vom Hörensagen . . ." Wer von Amors Pfeil, Achills Zorn und Ödipus' Komplex bisher nur vom Hörensagen oder gar durch die "Fantastischen Vier" wußte, dem kann nun geholfen werden: In der neuen Reihe "Gerstenbergs 50 Klassiker" ist der Band "Mythen" erschienen, der über Aphrodite, die schöne Helena und andere becircende Liebesikonen der griechischen Antike die nötige Aufklärung verschafft. Doch auch Medusenhäupter und Tantalusqualen finden Beachtung: Die Antike ist bekanntlich abgründig.

Um das Chaos des Göttergewimmels auch für moderne Konsumenten begehbar zu machen, ist den fünfzig Kurzessays zu den wichtigsten griechischen Mythen von A (Achill) bis Z (Zyklopen) eine Einleitung vorangestellt. Im Ausgang vom Mytho-Slang unserer Alltagssprache ("Da drüben geht ein Adonis!") wird hier bündig wie plastisch Basiswissen über das mythische Denken sowie die Überlieferungsgeschichte und die gesellschaftliche Funktion des Mythos vermittelt. Auch in den fünfzig Artikeln gelingt es dem Verfasser Gerold Dommermuth-Gudrich, Bekanntes in ungewohnte Perspektiven zu stellen. Zum Beispiel ist von einem nach der Nymphe Kalypso benannten "Tanz zu heißen lateinamerikanischen Rhythmen" zu lesen. Oder man erfährt, daß Aphrodite den Beinamen "Kallipygos" trug: "die mit dem schönen Hintern". Die beistehende Abbildung einer römischen Plastik zeigt, was gemeint ist: S-Linie.

Die Reproduktion solcher Männerträume hindert den Autor freilich nicht, den Brutalo-Schönling Apoll kurzerhand als "Macho-Ideal" zu entlarven und in Sachen Geschlechterkampf die Position des weisen Volkspädagogen einzunehmen: "Wenn Frauen und Männer wissen, daß sie einander ebenbürtig sind, müssen sie nicht mehr gegeneinander kämpfen; folglich brauchen Frauen nicht mehr zu Amazonen zu werden und Männer vor Amazonen keine Angst zu haben." Den Anfang zu einer Politik der Ebenbürtigkeit macht Dommermuth-Gudrich selbst: indem er die Unwiderstehlichkeit von Zeus' erotischen Verwandlungen durch die Uneinnehmbarkeit der Jungfrau Diana abfedert und indem er dem Jungmann Narziß das Gesetz der Muttergöttinnen verordnet. Vielleicht hätte in die Erläuterungen zum Matriarchat und zum Mutterrecht der Name Bachofens einfließen können, aber sei's drum: Nicht dem Buchstab', sondern dem Bild gilt das Zeugnis zum Polytheismus der Einbildungskraft, das dieser Band ablegt.

Gleich auf dem oberen Rand des Buchdeckels prangt dem Leser ein Auge entgegen: das Emblem der Reihe "Gerstenberg visuell", die mit ihren mehr als 300 farbigen Abbildungen das Prädikat "optisch reizvoll" verdient. Und so würde selbst dem, der auf die Lektüre der Essays verzichtete, um den Band als Bilderbuch zu benutzen, die Ubiquität des Mythos unweigerlich ins Auge springen: Auf jeder Seite finden sich zwei bis drei Illustrationen - von der attischen Plastik und dem römischen Mosaik über Gemälde aller Epochen (geläufige und weniger geläufige: zum Beispiel eine hinreißende Athene von Gustav Klimt) bis hin zum "Mythos als Reklame": einem Sammelbildchen von "Liebigs Fleischextrakt" um 1920, das darstellt, wie Rhea dem Kronos an Stelle des neugeborenen Zeus einen Stein bringt.

Wer sich nun fragt, ob wohl ein Mythos dieser Welt einen Oscar erhält, wenn ihm die weibliche Hauptrolle fehlt, erfährt durch einen Blick in "Gerstenbergs 50 Klassiker": keiner. Statt dessen bezaubern Audrey Hepburn als "My Fair Lady" (nach G. B. Shaws "Pygmalion"), Maria Callas als Medea, Silvana Mangano als Circe neben Ufa-Plakaten der "Amphitryon"-Verfilmung mit Käthe Gold und Aufnahmen aus amerikanischen Monsterfilmen (Szene: Der Zyklop greift an). Weitere Belege für die Allgegenwart des Mythos in Text, Bild und Ton geben die "Faktenseiten" - neben Zeittafel, Register und Glossar ein Markenzeichen der Reihe -, auf denen sich die neuesten Lese- und Hörbuchausgaben finden. Daß "Hörenswertes" dabei gleichrangig mit "Lesenswertem" behandelt wird, könnte Derrida-Jünger ärgern, doch sollte man sich vor Augen halten, daß der Mythos einer mündlichen Überlieferung entstammt, daß also die Stimme ursprünglicher als die Schrift ist.

Ein weiteres Markenzeichen der Reihe "50 Klassiker" besteht darin, die "Faktenseite" mit einer "Wertung" abzuschließen, wobei Noten von einem bis zu fünf Sternen vergeben werden. Dieses Gerstenbergsche Bewertungssystem mag etwa im Falle des Opern-Bandes derselben Reihe von Wolfgang Willaschek bei aller Fragwürdigkeit noch einigermaßen funktional sein - im Falle des Mythen-Bandes erweist sich die Guide-Michelin-Methode jedoch als gänzlich verfehlt: Wer einen Mythos nach "Spannungspunkten" bewertet, betreibt eine historisch unangemessene Übertragung trivialliterarischer Strategien.

Das Resultat ist entsprechend: Mit 19 von 20 möglichen Punkten machten die schöne Helena, Ödipus, Prometheus sowie Venus und Amor das Rennen. Trotz ihres pfeilschnell galoppierenden Pferdeunterleibs weit abgeschlagen: die Zentauren, mit lediglich neun Punkten. Doch wird dem morbiden Teil der Leserschaft wohl schwerlich einleuchten, warum Hades und Tartarus lediglich einen "Unterhaltungs"-Stern bekommen, und man braucht nicht einmal nekrophil zu sein, um die "Aktualität" der Unterweltsgötter mit mehr als einem einzigen Punkt bewerten zu wollen.                 

SANDRA KLUWE

"50 Klassiker / Mythen". Die bekanntesten Mythen der griechischen Antike. Dargestellt von Gerold Dommermuth-Gudrich unter Mitarbeit von Ulrike Braun. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2000. 311 S., Abb., br., 39,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wer sich bisher unter den griechischen Göttern nie wirklich zurecht gefunden hat, dem empfiehlt Sandra Kluwe diesen Band: "Auch für moderne Konsumenten" nachvollziehbar werden hier in Kurzessays diverse Göttergrößen und Mythen vorgestellt. Dabei gefällt der Rezensentin, dass nebenbei auch die Geschichte der Überlieferungen erzählt und die "gesellschaftliche Funktion des Mythos" beschrieben wird. Doch vor allem lobt sie, dass der Verfasser "Bekanntes in ungewohnte Perspektiven" stellt. Da werde beispielsweise erläutert, dass ein lateinamerikanischer Tanz nach der Nymphe Kalypso benannt wurde. Auch die vielfältigen Bilder (von römischen Mosaiken über Gustav Klimt bis hin zu Sammelbildchen von `Liebigs Fleischextrakt`) gefallen ihr, ebenso wie Bilder von Maria Callas als Medea oder Aufnahmen aus "Monsterfilmen". Lediglich die Wertungen auf der `Faktenseite` (ein bis fünf Sterne), bei der die Götter recht unterschiedlich abschneiden, findet die Rezensentin bei einem Band dieser Art deplaziert. Die "Guide-Michelin-Methode" ist ihrer Ansicht nach denn doch etwas trivial.

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