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Im Schatten der Lebenswissenschaft: Kants Ästhetik und Goethes Poetik des Anorganischen.
Wolfgang Hottners Studie rückt zum ersten Mal einen zentralen Bestandteil der Ästhetik, Wissenschaft und Poetik am Ende des 18. Jahrhunderts in den Blick: das Anorganische. Vor dessen diskursiver Marginalisierung durch eine vitalistisch-biopolitische Vernunft, die an der Schwelle zur Moderne primär das "Leben" zu denken versucht, spielt es insbesondere in den Werken Kants und Goethes eine entscheidende Rolle. In deren je spezifischer Faszination für kristalline Formen und Formwerdungsprozesse werden…mehr

Produktbeschreibung
Im Schatten der Lebenswissenschaft: Kants Ästhetik und Goethes Poetik des Anorganischen.

Wolfgang Hottners Studie rückt zum ersten Mal einen zentralen Bestandteil der Ästhetik, Wissenschaft und Poetik am Ende des 18. Jahrhunderts in den Blick: das Anorganische. Vor dessen diskursiver Marginalisierung durch eine vitalistisch-biopolitische Vernunft, die an der Schwelle zur Moderne primär das "Leben" zu denken versucht, spielt es insbesondere in den Werken Kants und Goethes eine entscheidende Rolle. In deren je spezifischer Faszination für kristalline Formen und Formwerdungsprozesse werden nicht nur die Prämissen und Aporien einer Ästhetik der Lebendigkeit neu vermessbar, sondern auch die unabgegoltene Widerständigkeit anorganischer Materie ersichtlich, an der sich die Kunst der Romantik und der Moderne abarbeiten wird. Hottners wissensgeschichtlich angelegte Archäologie anorganischer Ästhetik und Poetik zeigt insbesondere anhand kristalliner Formen und Figuren, dass diese für den ästhetischen, poetologischen und prototechnischen Form- und Formwerdungsdiskurs um 1800 mindestens genauso wichtig waren, wie die Rede von Bildungstrieb, Zeugung und Metamorphose. Damit wird eine bisher latente Episode in der Geschichte der modernen Literatur und Ästhetik sichtbar, die die Kant- und Goethe-Forschung vor neue Herausforderungen stellt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Wolfgang Hottner, geb. 1987, ist wiss. Mitarbeiter am »Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften« der FU Berlin. Er studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in München, Berkeley, Stanford und an der Yale University sowie an der HU Berlin, wo er 2017 promovierte.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2020

Die Welt in einem
Schneekristall
Wolfgang Hottner über die
„Poetik des Anorganischen“
Im Frühjahr 1780, knapp fünf Jahre nach der Ankunft in Weimar, übernahm Johann Wolfgang von Goethe die Leitung der herzoglichen Bergwerkskommission. Vorausgegangen war der Versuch, die Bergwerke in Ilmenau wieder in Betrieb zu nehmen und zur Förderung von Kupfer, Silber und Blei zurückzukehren. Begleitet wurde dieses nur zum Teil ökonomische Projekt von einer Begeisterung für Geologie, Mineralogie und Petrologie, an der Goethe selbst während seiner ersten Dekade in Weimar in einem so hohen Maß teilhatte, dass er einen „Roman über das Weltall“ schreiben wollte: „Eine der lächerlichsten Genieperioden war die bergmännische in Weimar, als die Bergwerke in Ilmenau wieder gangbar gemacht werden sollten“, berichtete später Karl August Böttiger, die Klatschbase des Musenhofes. „Da war der Mensch gar nichts, der Stein alles.“ Lange währte die Periode nicht.
Der „Ästhetik und Poetik des Anorganischen im späten 18. Jahrhundert“ ist nun ein Buch des Berliner Literaturwissenschaftlers Wolfgang Hottner gewidmet, in dem nicht nur die Geschichte jener Begeisterung rekonstruiert, sondern diese auch in den Zusammenhang der frühen Naturwissenschaften gebettet wird. Denn es gibt vor allem für das Interesse an den Kristallen ein Vorher und ein Nachher: Vorher herrscht das Stufenmodell von den drei Reichen der Natur, der Steine, der Pflanzen und der Tiere, an deren Spitze der Mensch steht und die allesamt Teil einer göttlichen Ordnung sind. Nachher ist das Anorganische bloße Materie, die dem Leben als Gleichgültiges und Totes gegenübersteht. So ist es im Grunde genommen bis heute. Dazwischen aber wird das Steinerne, das Metallische und Kristalline in seiner scheinbaren Grund- und Zwecklosigkeit zum Gegenstand einer spekulativen Naturforschung, die ein großes künstlerisches Interesse auf sich zieht, vor allem in der beginnenden Romantik.
Wolfgang Hottner schlägt einen weiten Bogen, in dessen Mitte Immanuel Kant und Johann Wolfgang Goethe stehen. Für den einen sind Schneekristalle Anlass, sich vom Glauben an den göttlichen Ursprung physischer Ordnungen abzuwenden und zu einer kritischen Ästhetik überzugehen, die Raum für das Naturschöne lässt. Der andere beginnt mit praktischer Naturforschung und geht zu poetologischen Reflexionen über das Gesteinswesen über, um sich dann eher den Pflanzen zuzuwenden (tatsächlich verliert er die Geologie nie ganz aus dem Blick). Als alter Mann kehrt Goethe zu seinem frühen Gegenstand zurück, indem er eine der zentralen Gestalten der „Wilhelm Meister“-Romane in „Montan“ verwandelt, einen Repräsentanten des Anorganischen.
Den Weg von der Physikotheologie zu einer modernen, vitalistischen Konzeption des Lebens verfolgend, behandelt Wolfgang Hottner die Theorien über den Schnee, wie sie von Johannes Kepler (1611) und René Descartes (1637) formuliert wurden, er erläutert, was Christian Samuel Weiss meint, wenn er die Kristalle zu „gemeinkünstlichen Individuen“ (1803) erklärt, und er lässt verständlich werden, wie Novalis auf den Gedanken kommt, die Kristallisation mit einer „Atmosphäre des Dichters“ zu verknüpfen.
Im Nachdenken über Steine eröffnete sich für die Gelehrten jener Zeit eine Vorgeschichte, die weit über den Menschen hinausging und alle Vorstellungen von Anfänglichkeit, wie sie bis dahin von der Theologie oder auch von der Philosophie vertreten worden waren, in Frage stellte. Die Grundlage der Erde sei der Granit, meinten die frühen Geologen, in diesem Gestein entstehe gleichsam Wirklichkeit, als tote Welt. Der späte Goethe glaubte in solchen Spekulationen nicht nur eine Bestätigung seiner „vulkanistischen“ Überzeugung erkennen zu können, also der Annahme, die Erde sei „sanft“ entstanden, nämlich durch Ablagerung und Erosion. Vielmehr benutzte er sie auch zur Konstruktion der „Wanderjahre“, seines letzten Romans, in dem er dem Helden Wilhelm, der an jeder Stelle „grünen“ kann, den schweigsamen und abweisenden Montan gegenüberstellt. Das ist zwar komplementär gedacht. Aber es kann kein Zweifel daran aufkommen, wie scharf sich nunmehr die Sphären gegenüberstehen: „Diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felsenwände, diese ungestalten Granitpyramiden, welche die schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie sollte sich ein wohlwollender Mann daran gefallen und ein Menschenfreund sie preisen!“
In welchem Zustand sich ein akademisches Fach befindet, lässt sich am einfachsten an den Qualifikationsarbeiten erkennen, die es hervorbringt.
Wolfgang Hottners Buch über die „Kristallisationen“ war eine Doktorarbeit, leistet aber weitaus mehr, als man von einer Dissertation erwarten kann: Ein bislang allenfalls an den Rändern erschlossenes Wissensgebiet tut sich darin auf, mit Implikationen nicht nur für das Verständnis der Literatur jener Zeit, sondern auch für die Geschichte der Naturwissenschaften.
THOMAS STEINFELD
Wolfgang Hottner: Kristallisationen. Ästhetik und Poetik des Anorganischen im späten 18. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 280 Seiten, 29,90 Euro.
Das Nachdenken über
Steine eröffnete den Gelehrten
der Zeit eine Vorgeschichte
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Thomas Steinfeld verrät Wolfgang Hottners Doktorarbeit etwas über den Stand der Literaturwissenschaft. So schlecht scheint es um sie nicht zu stehen, denn Hottners Rekonstruktion von Goethes und Kants Begeisterung für Geologie und Mineralogie und ihre Verortung im naturwissenschaftlichen Zusammenhang regen Steinfeld an. Der "weite Bogen" der Arbeit, die "kristallische Ästhetik" praktischer Naturforschung sowie Keplers und Descartes' Schneetheorien behandelt, versorgt Steinfeld mit allerhand Stoff zum Nachdenken, indem er ihm ein ganzes Wissensgebiet erschließt, das sein Verständnis der Literatur der Goethezeit erweitert.

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»Wolfgang Hottners Buch über die 'Kristallisationen' war eine Doktorarbeit, leistet aber weitaus mehr, als man von einer Dissertation erwarten kann« (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 09.10.2020) »insgesamt überzeugt die Arbeit auf ganzer Linie durch ihre klare Sprache (...) und den durchgehend gut verfolgbaren roten Faden der Hauptthesen« (Adrian Robanus, Weimarer Beträge 3/2020) »Damit übersteigt das Buch seinen Anspruch, eine 'Archäologie anorganischer Ästhetik und Poetik' zu unternehmen, und präsentiert sich zudem als Poetologie kristalliner Formen.« (Stefanie Heine, Zeitschrift für Germanistik, 02/2021) »'Kristallisationen« bietet insgesamt eine vielversprechende Perspektive auf die Umdeutung des Anorganischen in den philosophischen und literarischen Texten Kants und Goethes.« (Alexander Stöger, N.T.M., 23.03.2021) »eine überzeugende interdisziplinäre Arbeit.« (Nicole Fischer, Monatshefte, Vol. 114, Nr. 4, 2022)