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Heute Neunzig Jahr ist das letzte, unvollendete Erzählprojekt Uwe Johnsons. Nach dem Tode des Autors im Februar 1984 fanden sich Typoskript und Material zu diesem geplanten Buch. Das als Text Vorhandene erzählt die Cresspahl-Geschichte von 1888 bis 1947, also knapp sechzig Jahre. Die Tochter Gesine vergegenwärtigt sich Jahreseintrag um Jahreseintrag das Leben ihres Vaters und ihr eigenes: von Heinrichs Geburt als Stellmachersohn auf einem Gut in Mecklenburg, einer Tischlerlehre in der Kleinstadt Malchow über seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg, Widerstand gegen den Kapp-Putsch, seinen Weggang…mehr

Produktbeschreibung
Heute Neunzig Jahr ist das letzte, unvollendete Erzählprojekt Uwe Johnsons. Nach dem Tode des Autors im Februar 1984 fanden sich Typoskript und Material zu diesem geplanten Buch. Das als Text Vorhandene erzählt die Cresspahl-Geschichte von 1888 bis 1947, also knapp sechzig Jahre. Die Tochter Gesine vergegenwärtigt sich Jahreseintrag um Jahreseintrag das Leben ihres Vaters und ihr eigenes: von Heinrichs Geburt als Stellmachersohn auf einem Gut in Mecklenburg, einer Tischlerlehre in der Kleinstadt Malchow über seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg, Widerstand gegen den Kapp-Putsch, seinen Weggang aus einer unheimatlichen Heimat, zuerst in die Niederlande, dann nach England, seine Etablierung als Tischler in Richmond bei London gegen Ende der zwanziger Jahre bis zu den Ereignissen, die wir aus Johnsons großem Roman-Epos Jahrestage kennen. Erzählt werden diese »Jahre individueller und öffentlicher Geschichten, gesehen durch die Erfahrung (statt durch Temperament) einer Person«, derErzählerin Gesine, in enger Parallelführung und Verflechtung des Privaten mit dem Historisch-Politischen, das genauestens recherchiert und scharf ironisch reflektiert wird. Dem Text nachgestellt sind unter anderem ein Nachwort sowie ein philologischer Essay des Herausgebers Norbert Mecklenburg.
Autorenporträt
Johnson, UweUwe Johnson wurde am 20. Juli 1934 in Kammin (Pommern), dem heutigen Kamien Pomorski, geboren und starb am 22. oder 23. Februar 1984 in Sheerness-on-Sea. 1945 floh er mit seiner Mutter und seiner Schwester zunächst nach Recknitz, dann nach Güstrow in Mecklenburg. Sein Vater wurde von der Roten Armee interniert und 1948 für tot erklärt. 1953 schrieb er sich an der Universität Leipzig als Germanistikstudent ein und legte sein Diplom über Ernst Barlachs Der gestohlene Mond ab. Bereits während des Studiums begann er mit der Niederschrift des Romans Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Er bot ihn 1956 verschiedenen Verlagen der DDR an, die eine Publikation ablehnten. 1957 lehnte auch Peter Suhrkamp die Veröffentlichung ab. Der Roman wurde erst nach dem Tode von Uwe Johnson veröffentlicht. Der erste veröffentlichte Roman von Uwe Johnson ist Mutmassungen über Jakob. Von 1966 - 1968 lebte Uwe Johnson in New York. Das erste Jahr dort arbeitete er als Schulbuch-Lektor, das zw

eite wurde durch ein Stipendium finanziert. Am 29. Januar 1968 schrieb er in New York die ersten Zeilen der Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl nieder. Deren erste 'Lieferung' erschien 1970. Die Teile zwei und drei schlossen sich 1971 und 1973 an. 1974 zog Uwe Johnson nach Sheerness-on Sea in der englischen Grafschaft Kent an der Themsemündung. Dort begann er unter einer Schreibblockade zu leiden, weshalb der letzte Teil der Jahrestage erst 1983 erscheinen konnte. 1979 war Uwe Johnson Gastdozent für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Ein Jahr später erschienen seine Vorlesungen unter dem Titel Begleitumstände. Sein Nachlass befindet sich im Uwe Johnson-Archiv an der Universität Rostock.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Jahrestage rückwärts
Uwe Johnsons tabellarisches Erzählen / Von Stephan Speicher

Für den Herbst 1984 - im Jahr zuvor war nach langem qualvollem Stocken der vierte und letzte Band der "Jahrestage" erschienen - kündigte der Suhrkamp Verlag ein neues Buch von Uwe Johnson an: "Eine Familiengeschichte vom Oktober 1888 bis zu jenem Winter 1978 . . . Anfangs ist es eine Spurensuche, die eine Gesine Cresspahl beschreibt nach der Kindheit ihres Vaters im vorigen Jahrhundert . . . Mit wem immer ein Junge aus dem Dreikaiserjahr zu tun bekommt in seinem Leben und über den Tod hinaus, sie alle sollen hier versammelt sein, in ländlicher Gegend an der Müritz, in einer südlichen Vorstadt von London wie dereinst in New York, mit dem zuverlässigen Heimweh nach Mecklenburg . . . Ob es am Ende bleibt bei der Enkelin Marie, den beiden letzten Augen Cresspahls, hier wäre es zu erfahren." Eine Fortsetzung der "Jahrestage" also wurde damals in Aussicht gestellt. Im Material erweitert, sollte sie in beide Zeitrichtungen erweitert werden.

Dazu kam es nicht mehr. Johnson, der Ende 1983 diesen Vorschautext selbst verfaßt hatte, starb im Februar 1984. Sein Vorhaben blieb Fragment, das Norbert Mecklenburg nun aus dem Nachlaß herausgegeben hat: "Heute Neunzig Jahr". Der geplante Untertitel "Die Geschichte der Familie Cresspahl" ist gestrichen, es fehlte ihm auch die Deckung durch das Werk. Denn die zeitliche Erweiterung des Stoffs ist allein rückwärts ausgeführt als eine Geschichte Heinrich Cresspahls von seiner Geburt an. Die Jahrestage hingegen gehen ja ausgiebig nur bis auf die erste Begegnung zwischen Cresspahl und Lisbeth zurück, und frühere Begebenheiten werden bloß splitterhaft erwähnt. Die Fortführung über den August 1968 hinaus hatte der Autor sich vergeblich vorgenommen. Sein Fragment endet im Jahr 1946, gerade daß Jacob, der spätere Geliebte Gesines und Vater ihrer Tochter, noch einen Auftritt hat.

Johnson selbst nannte sein Verfahren in diesem Nebenwerk "tabellarisch", irritierenderweise. Denn natürlich ist es kein Prinzip graphisch hergestellter Übersichtlichkeit. Man spricht wohl besser von einer annalistischen Methode. In chronologisch ziemlich strenger Folge wird ein Leben in seinen verschiedenen sozialen Milieus und historischen Bedingtheiten berichtet. Das Bedingende, das Allgemeine überwiegt, das Bedingte, Individuelle, Fiktive tritt dagegen zurück. Doch wird der Berichtscharakter in seiner möglichen Festigkeit durch Einreden der Erzählerin, der Tochter Gesine, fortwährend in Frage gestellt. Da sind Lücken, Mutmaßungen, Extrapolationen: "Da ich bei ihm meine Meinung über das Verhalten Liebknechts unterstellte, habe ich seine versäumt." Da sind Wünsche: "Daß er in Amsterdam bedrucktes Papier aus Abfallkörben gegriffen hätte wie die Armen New Yorks, ich verweigere es." Und vor allem ist da die beständige Kritik geläufiger Bilder, vor allem wie die Schulen der SBZ/DDR es lieferten. Auffallend stark wird etwa die Zusammenarbeit von NSDAP und KPD respektive des Hitlerschen Reiches mit der Sowjetunion betont.

Gleichwohl folgt "Heute Neunzig Jahr" einem einfachen Erzählprinzip. Einfach ist das Prinzip zumindest gegenüber den "Jahrestagen", auf die das neue Buch zu beziehen ist. Am markantesten ist das Fehlen der New Yorker Ebene und der Gespräche Gesines mit ihrer Tochter Marie, mit denen das große Werk die Erinnerung an Jerichow, Mecklenburg und Deutschland erst in Gang setzte. Es fehlt daher auch der Krieg in Vietnam, und damit ein tragendes Moment des Johnsonschen Verfahrens.

Denn die "Jahrestage" setzten nicht General Westmoreland mit Himmler gleich, auch wenn manche Leser es so lesen wollten. Vielmehr sollte eine Welt gegen eine andere gehalten werden, um unter abweichenden Bedingungen zu prüfen, wie Menschen ihre Integrität wahren oder verlieren in Situationen, die sie nicht erzeugt haben, zu denen sie sich aber gleichwohl verhalten müssen. In der Variation der Bedingungen, denen der Erzähler das Personal unterwirft, liegt dabei ein eigentümliches Bemühen um Gerechtigkeit, gewonnen aus Genauigkeit und Umsicht.

So ist das "Jahrestage"-Konzept zusammengeschrumpft. Die Erzählerin Gesine ist ebenfalls blasser. Sie wirkte auch in den Jahrestagen auf manche Rezensenten etwas trocken oder gar langweilig. Aber dieser opake Charakter, dem man nicht leicht auf den Grund seiner Leidenschaften, Antriebe, Sehnsüchte sah, der so eigenartig unmotiviert sein New Yorker Leben führte, er bewahrte ein Geheimnis, um dessen Öffnung das Erinnern kreiste. Den Eindruck eines solchen Geheimnisses, das die Figur beschwert und das der Leser mit ihr teilen möchte, erweckt die Gesine des nun publizierten Textes nicht. Aber was ist dann ihr Existenzrecht? Den Vergleich des neuen Buches, aus dem Nachlaß fragmentarisch hervorgezogen, mit dem Hauptwerk des Autors zu ziehen, muß ungerecht sein. Es ist aber zwingend. Die Publikation des Nachlaßwerks richtet sich vorrangig an die Leser der "Jahrestage", wie es auch Johnson selbst 1983 aussprach. Figuren und Ereignisse gleichen sich, beide Arbeiten hängen in ihrer Entwicklung voneinander ab.

Auf eine etwas fahrige Weise, im Ergebnis aber wohl treffend hat Norbert Mecklenburg das eigentümliche Schicksal des von ihm herausgegebenen Buches beschrieben. Was Johnson sich 1983 vornahm, beruhte auf sehr viel älteren Arbeiten. Die Typoskripte, mit denen er arbeiten wollte und die jetzt die Textgrundlage der Veröffentlichung bilden, waren 1975 angefertigt worden, und dies bereits als Klärung und Fixierung älterer Arbeiten. Aus Textzeugen und Briefen läßt sich nicht viel rekonstruieren. Nur der interpretierende Vergleich ermöglicht es, eine Entstehungsgeschichte plausibel zu machen.

Danach ist es unwahrscheinlich, daß Johnson sein großes Werk, Anstrengung und Erfüllung seines Lebens, auf eine nicht bloß kürzere, sondern auch simplere Fassung herunterstimmte. Sehr viel näher liegt es anzunehmen, er habe in der ersten Arbeitsphase der "Jahrestage" eine Skizze angefertigt, die als Chronologie der öffentlichen und privaten Ereignisse dienen konnte. Auch daß "Heute Neunzig Jahr" die Ereignisse in ziemlich gleichmäßiger Kürze aufreiht, wo die "Jahrestage" sich sehr unterschiedliche Ausgiebigkeiten herausnehmen, spricht für die Chronologie Norbert Mecklenburgs.

Danach wären also drei Zeitschichten zu unterscheiden: zunächst, sehr hypothetisch, die ursprüngliche Fassung kurz vor Entstehung des ersten Bandes der "Jahrestage" als frühe Fixierungen des Unternehmens. Dann die Wiedervornahme, zu der die Reinschrift 1975 gehört, als Johnson in seine Schreibkrise geriet, an der die Fortführung der "Jahrestage" schon zu scheitern drohte. Und zuletzt das Jahr 1983. Der letzte Band war vollendet, und um die Bitterkeit des erreichten Ziels zu übertönen, könnte Johnson eine Arbeit vorgenommen haben, die jedenfalls einen raschen Abschluß versprach.

Dazu ist es nicht mehr gekommen. Der Titel "Heute Neunzig Jahr", der sich auf Heinrich Cresspahls Geburtsdatum 1888 bezieht, setzte die Beobachtungsposition von 1978 voraus. Das ist nicht erreicht, nicht einmal begonnen worden, der erhaltene Text ist aus der Sicht des Jahres 1968 geschrieben. Was Gesine, mutmaßliches Opfer der Niederschlagung des Prager Frühlings, nach 1968 erfahren hat, bleibt ungesagt. Das neue Werk ist eine Hilfskonstruktion der "Jahrestage", eine technische zu Anfang, eine psychische zuletzt. Trotzdem ist es ein mehr als nur philologisch interessantes Dokument. Der Johnson-Leser wird in seiner Sucht nach weiterem Material sein Glück finden. Der Autor hat andere Bewertungsmöglichkeiten angedeutet, die auch die Lektüremöglichkeiten der "Jahrestage" ergänzen können. Und zuletzt hat auch diese Minderfassung, als die man "Heute Neunzig Jahr" wohl bezeichnen darf gegenüber der Größe der "Jahrestage", ihren Rang in Sprache und Haltung des Autors.

In der Sprödigkeit, sprachlich in der Bevorzugung von Parataxe und betont unsensationeller Wortwahl, in der nur sanft ironischen Umständlichkeit sprechen sich Gefühle aus, die ihren Ernst bewiesen haben in der Kollision mit der Zeit. Durch das ganze Johnsonsche Werk zieht sich der Versuchscharakter, im schriftstellerischen Verfahren wie in den Lebensentwürfen seiner Figuren. Auch in dieser letzten Arbeit, die der Autor sich vornahm, zeigt sich dessen Substanz, die Doppelnatur des Versuchs: Anteil an der Wissenschaftlichkeit des Jahrhunderts und seiner ergebnislosen Suche nach einem richtigen Leben, altmodisch gesprochen, Anteil an seiner Unerlöstheit.

Uwe Johnson: "Heute Neunzig Jahr". Aus dem Nachlaß herausgegeben von Norbert Mecklenburg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 205 S., geb., 36,- DM. Das erste Viertel des Textes hat Johnson für den Rundfunk gelesen. Eine Tonkassette ist veröffentlicht: "Versuch einen Vater zu finden. Marthas Ferien". Text und Tonkassette. Herausgegeben von Norbert Mecklenburg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988. Br., 18,- DM.

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