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Produktdetails
  • Verlag: Merve
  • 1994.
  • Seitenzahl: 260
  • Deutsch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 478g
  • ISBN-13: 9783883960906
  • ISBN-10: 388396090X
  • Artikelnr.: 05468473
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.1995

Meerengen, Eisberge
Michel Serres sucht die Nordwest-Passage zum Menschen

Er inszeniert sich gern als Ärgernis. Der ausgebildete Mathematiker und ehemalige Marineoffizier Michel Serres sieht sich als Einzelgänger, der jene "Passage" sucht, "die von der exakten Wissenschaft zur Wissenschaft vom Menschen führt": "Seit dreißig Jahren fahre ich jetzt schon in diesen Gewässern. Sie sind nahezu verlassen, vergessen, fast verboten." Manchmal, dafür kann Michel Serres in diesem Fall wenig, holt eine Kultur ihre Philosophen ein. Vor allem, wenn Bücher spät übersetzt werden. Schon 1980 hat Serres sein aufwendiges, fünf Bände umfassendes, vor nun mehr als fünfundzwanzig Jahren begonnenes Werk "Hermes" abgeschlossen. Jetzt erst ist der letzte Band im Merve-Verlag, der gleichwohl Dank verdient, auf deutsch erschienen.

Er liest sich ungerechterweise etwas abgestanden. Was in den siebziger Jahren als Forderung einer neuen Wissenschaft zwischen den Wissenschaften originell war, ist inzwischen theoretisch so sehr in aller Munde, daß die mit großer Geste vorgetragene Programmatik, die auch im letzten Band von "Hermes" überwiegt, nicht mehr beeindruckt. Man muß schon Serres' 1993 auf deutsch erschienenes Werk "Die fünf Sinne" zur Hand nehmen - beim Erscheinen der Übersetzung ebenfalls acht Jahre alt -, um zu sehen, daß Serres selbst jene innovativen Gedanken in sinnlich-präziser Sprache auch gelingen, die er bei weniger inspirierten Kollegen immer wieder einklagt.

Doch das zentrale Motiv wirkt auch heute noch gut gewählt: Die Nordwest-Passage, die dem Buch den Untertitel gibt, verbindet im Norden Kanadas den Atlantik mit dem Pazifik "in einer unendlich komplizierten Zickzacklinie. Das große Labyrinth des Weges wiederholt sich im kleinen allmorgendlich vor dem Bug des Schiffes. Man umfährt Packeis, Treibeisfelder und Eisberge, schlängelt sich durch kleine Buchten, enge Kanäle, flache Becken und schmale Meerengen." Genau so stellt sich für Michel Serres der Übergang zwischen Geistes- und Naturwissenschaften bildlich dar, als "gewaltiger, fraktaler arktischer Archipel", bestimmt durch eine unabsehbare Folge von "Zufallsverteilung und strenger Regelmäßigkeit, Unordnung und Gesetz".

Serres geht in Anlehnung an die "ungenaue" Konstitution des Kontinents den Spuren nach, die "unregelmäßiges Wissen" in den Wissenschaften hinterlassen habe, vor allem in jener Disziplin der Linien, Punkte und Winkel, die Aristoteles an den Anfang seiner "Elemente" gestellt hat. Serres feiert die fraktale Geometrie Mandelbrots, die die traditionelle als Machtwissen enttarne. Sie entspreche der fraktalen Struktur der Erde am ehesten. Der wahre Geometer sei allerdings jener, der die Übergänge zwischen Wasser, Land und Eis reisend vermesse, der Nordwest-Passage mit seinen Sinnen folge. Das eigentliche Ziel alles Wissen- und Lebenwollens, das bei Serres in mystischer Tradition stehende "Reale", sei letzlich nur so, nämlich "nicht-rational", zu erfahren. HANS-PETER KUNISCH

Michel Serres: "Hermes V". Die Nordwest-Passage. Aus dem Französischen übersetzt von Michael Bischoff. Merve-Verlag, Berlin 1994. 260 S., geb., 68,- DM.

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