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Jonathan Carr zeichnet auf unterhaltsame, bisweilen humorvolle Weise ein Bild des "wirklichen" Gustav Mahler, des Menschen und Künstlers. Die Schwerpunkte bilden dabei die stürmisch verlaufene Ehe mit Alma Mahler-Werfel, seine Triumphe und Niederlagen als Operndirektor in Wien um die Jahrhundertwende und die letzten Dirigentenjahre in Amerika.

Produktbeschreibung
Jonathan Carr zeichnet auf unterhaltsame, bisweilen humorvolle Weise ein Bild des "wirklichen" Gustav Mahler, des Menschen und Künstlers. Die Schwerpunkte bilden dabei die stürmisch verlaufene Ehe mit Alma Mahler-Werfel, seine Triumphe und Niederlagen als Operndirektor in Wien um die Jahrhundertwende und die letzten Dirigentenjahre in Amerika.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1997

Sternmarsch zum Rätsel
Jonathan Carr über Gustav Mahler / Von Eckhard Henscheid

Der Verfasser liebt das Lapidare: "Sein Leben lang hat Mahler Tausende von Briefen geschrieben." Das ehern Lapidare con brio: "In wenigen stürmischen Jahren hatte er diese Einrichtung im Herzen des Kulturlebens der Stadt auf einen Leistungshöhepunkt geführt, den sie vielleicht nie mehr erreichen wird." Trotz Karajan, trotz Thomas Muster. Denn: "Mahler war" - in Wien - "nicht bloß der geniale Dirigent und Direktor, sondern ein großer schöpferischer Künstler, für manche gar ein Heiliger."

Nach Sätzen dieser hammerhaften Primitivgestalt beeindrucken Einblicke, die auch das Dialektische in Mahler, den "kräftigen Kontrast zwischen Tragik und Banalität", mitnichten überhören. Den haben zwar andere schon besser ausgedrückt. Auch geht es genaugenommen bei Gustav Mahler weniger um den Kontrast als um ein konstitutives Ineinander, eine Legierung oder zumindest Amalgamierung, vielleicht um eine speziell österreichische Melange - aber egal, dialektisch geht's nicht nur in den Sinfonien, sondern auch im Theater zu: "Mahler verachtete viel an der Oper, dirigierte sie aber, nicht zuletzt Wagner, ganz hervorragend." Und da hört man immer (und es stimmt auch insgesamt), daß die Engländer sich über ernste Musik differenzierter ausdrücken können als die Deutschen und sogar die amerikanischen Konzertführer, die da auch noch dem letzten Cowboy Beethoven und Tschaikowsky schmackhaft machen müssen - es geht aber auch so: "Er identifizierte sich vollständig mit dem gerade vorliegenden Werk", nämlich: "So vollständig klinkte sich Mahler in den ,Wunderhorn'-Stil ein", mit dem für ihn so typischen Einklink-Allegro. Mein Gott.

Denn bei Mahler handelt es sich nicht um "Gigantismus um seiner selbst willen, sondern um die Intensität des Suchens" - hier kommt also der gute alte Jargon der Eigentlichkeit und Innerlichkeit von der Insel herüber, die offenbar doch international zeitlose Journalschmach als Stil. Gleichzeitig ist Carrs Tonfall nur allzuoft von grandioser Plattheit: Aus sich holte Mahler "heraus, soviel nur ging", dabei hatte er gleichzeitig "eine kaum abreißende Kette von Liebesaffären", "schnarrend verlangte er absoluten Gehorsam" (Carr lauschte hinter der Tür auf das unverkennbare Knarr-Schnarren); allein "Mahler hatte Pech", und also "stürzte sich Mahler in eine weitere Liebesaffäre, seine bislang verwickeltste", in ein "Liebeserlebnis", das "gewissermaßen als Bombe" "die Schleusen aufriß" - wie das wohl wasserpolizeilich durchgegangen sein mag?

Manches könnte an der Übersetzung liegen, aber die meisten Katachresen und Katastrophen gehen schon auf Carrs Kappe. Und auch vor allem Platitüden scheut der Biograph ganz und gar nicht: "Sämtliche Mahler-Sinfonien sind Annäherungsversuche aus verschiedenen Richtungen" - im Sternmarsch? - "an die größten Menschheitsfragen, die Bedeutung des Lebens und das Paradox des Todes. Manchmal geschieht der Klärungsversuch" - der die Sinfonien außer dem Küss'-die-Hand-Annäherungsversuch auch sind - "ganz offen"; und jedenfalls für solch einen Stil- und Denkramsch führt Carr zu Buchbeginn sage und schnarre siebzehn Danksagungsadressen als geistliche Berater auf - es ist dies alles wie eine große Selbst- und Formparodie.

Phrasen, Phrasen bis hin zum vollkommenen Weltverschwinden, läßt Carr, als ginge es um ein Gelöbnis, nicht eine einzige aus: "Mahler war sich im klaren, daß seine Musik ein Buch mit sieben Siegeln blieb": worüber die Wiener Presse natürlich "schnaubte" (und eben nicht: schnarrte); und die zu Mahlers Amerika-Abreise angerückten Schönberg, Berg und Webern sind selbstverständlich "das avantgardistische Triumvirat", wo sie doch u. W. vielmehr die bekannte Wiener Ménage à trois als Dream-Team der Moderne sind.

Eine Art Späthollywood als Glamoursound einer neuen und international konformen Allround-Biographik - bestenfalls kommt dabei wieder recht altmodisches Feuilleton heraus: "Obwohl Mahler als Ziel Wien fest im Auge hatte, mußte er sich vorläufig mit Prag begnügen." Es ist das populistische Stilflair des Fluidisch-Atmosphärischen, in dem das auratisch Alte, hier die Welt der großen Schaffenden, treuherzig wiedererstehen soll - oft als purer Kitsch: "Vielmehr brauste (Mahler) wie ein Meteor durch die Leipziger Szene" - gab's die damals wirklich schon, in der Prä-DDR-Zeit? -, später fand dann logisch Mahlers Begräbnis 1911 "an jenem sturmgepeitschten Nachmittag statt", der die Strafe war für all die Affären und Annäherungsversuche und Banalitätsbomben - es ist der offenbar unverzichtbare Ganghofer-Konnex aus Wetter und Seele respektive Geniewesen, kombiniert mit dem nicht nur US-amerikanischen, sondern scheint's auch in England beliebten doppelten Hörmodell: 1. Viel Aufregung und viel Weiber machen stürmische Sinfonien. 2. Diese funktionieren nach der Regel Dur = Seelenfrieden, Moll = Zerwürfnis mit Alma oder Wien. Denn siehe: "Der Kampf zwischen Feuer und Wasser war gewissermaßen schon bei der Geburt in Mahler verankert und hat nie zu toben aufgehört"- und bei diesem Metaphernkatarakt wäre man ja doch zu gern mit dem Mahler-Zeitgenossen (und Sympathisanten) Karl Kraus dabeigewesen, um zu erleben, wie der Anker im kämpfenden Baby tobt. Das dann etwas später "die deutschen Klassiker in sich hineinfraß", während es gleichzeitig selbstverständlich über Don Quixote "Tränen lachte".

"Belassen wir es also bei der Feststellung" (Carr), daß man nach wie vor nicht alles weiß, daß man auch nach der allerneuesten inständig hingeschluderten Instant-Biographie des englischen Journalisten Jonathan C. Carr, der zuvor, seltsam genug, auch schon mit einer buchförmigen Helmut-Schmidt-Huldigung hervorgetreten war, über Mahler nichts ganz Gewisses weiß. Dabei hätte "The Real Mahler" (Originaltitel, item 1997) beinahe einige Verdienste; dabei hätte eine sinnige Mahler-Gesamtdarstellung im Augenblick durchaus gutgetan.

Der späte und weltweite und nach dem Zweiten Weltkrieg sich erst so recht massierende Exzessiverfolg Gustav Mahlers, er dürfte sich zu großen Teilen und nach wie vor dem schieren Mißverständnis danken: als Anbetung von Leistung. Die dicksten der neun beziehungsweise zehneinhalb Sinfonien erreichen neunzig Minuten und mehr und gebieten über allzeit maximalen Orchester- und Choraufwand - und insofern war und wäre der Breitenerfolg gar kein Mißverständnis, sondern Sache und Echo sind doch eben ziemlich eins und identisch: nichts adoriert das Publikum so innig wie die Kausalitätsschaukel Aufwand - Leistung - Erfolg. Bei Mahler tritt steigernd hinzu der purifikatorisch-parareligiöse Gestus fast aller seiner Musik, wie er dann etwa als modernes Märchen in der Vereinnahmung des Komponisten, speziell seiner Auferstehungs-Zweiten, durch den exklusiv diese dirigierenden Wall-Street-Börsenmann Gilbert Kaplan mündet: im Grunde die reaktivierte Religionsideologie von Kunst.

Neben dieser Anmutung besonderer Prätention aus Kraft und Länge und Weihe trug zu Mahlers Späterfolg (allerdings gab es auch den frühen; dessen Ausbleiben war immer schon Mahler-Mythe und Legende) ihre aposteriorische und für nachwachsende Ohren anheimelnde Affinität zu breitkolorierter Filmmusik bei (genaugenommen hat sie diese, umgekehrt, schwer animiert) - in der Summe: wo noch vor fünf Lustren einem befremdeten Frankfurter Musikchef Georg Solti den Mahler erst ein Adorno hat nahe- und beibringen müssen, da prangt dieser heute, laut Platten- und Konzertstatistik, als der beliebteste und kurrenteste aller (!) Sinfoniker, an dem schon darum kein ehrgeiziger Großdirigent vorbeikommt; als Kanon, praktisch als sakrosankt.

Schon deshalb also verdienstvoll, wieder nachzufragen, ob das einstige Mahler-Klischee von der größenwahnsinnig gewordenen Kapellmeistermusik eben vielleicht doch nicht so ganz verkehrt war und ist; es kann die Einsicht nicht schaden, daß beispielsweise der Schlußsatz der Siebten schon ein rechter Schmarren ist; daß die bekannte Hans-Pfitznersche Ranküne hinsichtlich des "Veni Creator Spiritus" der Achten - "Aber wenn er halt nicht kommt?" - eventuell auch ans durchaus dubiose Auferstehungspathos der Zweiten zurückzurichten wäre; daß Mahlers Kunstmoderne einem im Kern recht altbackenen Geniegetue gehorcht - veranstaltet allerdings ganz fraglos von einem Genie, mindestens vor einer superieuren und singulären Kraftnatur. "Alles muß Überlebensgröße haben" bei Mahler, so einst halb staunend, halb spottend und synchron zu Schönberg der Kritiker Ernest Newman - allein: gerade wer größte Teile des sinfonischen Riesencorpus schätzt und liebt, dem schadet die Erleuchtung keineswegs, daß das Werk Mahlers auch seine Leerläufe hat, sein Kunstobskurantisches; daß die Mahler-Sinfonie und der nachmals nochmals entfesselte Profankult um den "heiligen Menschen Gustav Mahler" (so eine Grabkranzschleifeninschrift) partiell nur ganz stupiden altneuen Kapitalverwertungsinteressen parieren, nach dem erwähnten Schema lang = groß = erfolgreich = wiederum ertragreich. Und immer wieder rundet sich's dabei zum Mißverständnis, zur Mésalliance: Mahlers sozusagen global favorisiertestes Stück ist eins seiner eher flachsten: das Adagietto aus der Fünften - spätestens seit Viscontis ziemlich wüstem Mahler-Thomas-Mann-Gebräu "Morte a Venezia" von 1970 ist es zur Animiermusik für etwas sklerotische Jungverliebte heruntergekommen; nicht einmal ganz zu Unrecht.

Hier, in dieser aktuellen öligen Grauzone, hätte Carrs Buch ansetzen sollen, hätte neue Optiken und wer weiß Erkenntnisse gewinnen können; und, der Gerechtigkeit sei es nicht verhehlt: es tut es gelegentlich auch, ist wißbegierig und manchmal nah an neuer Wahrheit dran. Etwa in der Demontage des schon frühen Geniekults um Mahler als einen wild tanzenden und fuchtelnden Übermenschen; eines E. T. A.-Hoffmannschen Dämons auch; der aber als Imago von Heimatlosigkeit auch wieder stimmt; dem nämlich "das österreichische Idiom" (Adorno) ähnlich wie seinem Nächstverwandten Karl Kraus eben doch nie "Heimat" wurde. Recht hat Carr auch mit seiner Distanz zu der schon von Richard Strauss als überinstrumentiert gewitterten Sechsten, auch mit seiner Neigung in ihrem allerdings wieder überwältigend schönen und unheimlichen Scherzo, "kleine Kinder torkelnd durch den Sand laufend" (Mahler) - in diesem Passus wird spürbar, daß Carr sogar wirklich ein Ohr für Musik und Mahler hat.

Den die Eingebung als Welterkenntnis im Sinne seiner "Weltanschauungsmusik" (Hermann Scherchen) allzeit "wie der Blitz" trifft, nicht nur bei seiner Zweiten; der laut Natalie Bauer-Lechners Erinnerungen von 1923 Orchestermusikern gegenüber sein Amt in dem "Terrorismus" ersah, "jeden einzelnen (zu) zwingen, aus seinem kleinen Ich herauszufahren": der war als Künstlertypus Terrorist weit noch über dies vielleicht zufällige Diktum hinaus. "Gewaltlose Gewalt" differenziert Adorno an Mahlers Sinfonie - aber es ist nicht nur das: Musikzelebration, Musikprätention und Musikpräsentation selber nehmen bei Mahler, noch über Bruckner hinaus, Züge eines Diktatorisch-Terroristischen an; wie im italienischen Futurismus Bezüglichkeit zu präfaschistischen Ideengebilden besteht, so wird in Mahlers Gigantomanie mal Blitz mal Terrorismus eine entfernteste Ähnlichkeit mit dem dummen und jüngeren Braunauer Landsmann erahnbar, hier wie dort als eine alles andere als lupenreine, vielmehr heiligmäßig gschlamperte Persönlichkeitszurüstung - und abermals kommt Bauer-Lechners Anekdote über die Steinbacher Attersee-Zeit von 1895 der Sache nahe: beschwerdeführende Bauern habe man hinsichtlich des im "Schnützelputzhäusel" komponierenden Mahler mit Bier und der Versicherung beruhigt: "Der Herr ist nicht ganz richtig im Kopf."

Der Wille zur Entheiligung, er wird an vielen Stellen von Carrs Buch angenehm spürbar, gegen die waltende und wohl noch zunehmende Heiligmäßigkeit. Kenntlicher als in manchen anderen Mahler-Büchern, inklusive dem Adornos, mit ihrem gar zu herrscherlöblich-hagiographischen Hochton ersteht über eine mehr pragmatische Optik die durchaus zwiefältige Gestalt Mahlers, der Karrierist und Opportunist, der zuweilen widerliche Taktiker, der "workaholic", der Autoritär und Kunstfetischist, der Polizist und eben Terrorist, was alles Mahler außer dem Genie und Großgenie auch und maßlos war, als ein letzten Endes frappant obsoleter Künstlerarchetypus. Hier vermag Carr manches zurechtzurücken. In Anflügen von Aufklärung verwehrt er es sich dabei auch, aus Charakter und Vita ein Werk erklären zu wollen - und verfällt doch schon im nächsten Satz wieder der unausrottbar altvorderischen biographistischen Methode. Und sei's über der nutzlosesten aller Fragen, ob das genannte Adagietto ein "Porträt" Almas sei; jener gespenstisch törichten und distinktionslosen und aber musikalisch sehr begabten Ehefrau, der Mahler schroff alles Komponieren untersagte - diesem idealtypischen Männerunheil hätte Carr ruhig genauer nachgehen dürfen.

Jonathan C. Carr: "Gustav Mahler". Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Hermann Kusterer. List Verlag, München 1997. 352 S., geb., 44,- DM.

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