Produktdetails
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.08.2004

Einst war München Klein-Venedig
Auer Mühlbach & Co: Ein opulenter Geschichtsband über die Bäche der Stadt
Von Franz Freisleder
Als im Jahr 1493 das Angerkloster auf seinem Gelände mit einem Ausbruch des kleinen Angerbächls zu kämpfen hatte, holten sich die Schwestern Hilfe bei einem Sachverständigen, dessen Name, in diesem Zusammenhang genannt, selbst gute Kenner der Münchner Stadtgeschichte überraschen dürfte: Erasmus Grasser. Der Schöpfer der Moriskentänzer war nämlich auch ein gesuchter Experte für Stadtbäche- und Schöpfwerkbau. Das ist nicht die einzige stadthistorische Delikatesse, die Christine Rädlinger dem Leser ihrer reich mit Gemälden, Zeichnungen und Fotos illustrierten „Geschichte der Münchner Stadtbäche“ zu servieren weiß.
Wer denkt noch daran, dass zum Beispiel bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bach, ausgestattet mit Brücke und Pferdefurt, das Tal in zwei Hälften teilte? Dass noch zwischen1890 und 1900 am nordöstlichen Stachus-Rand, wo heute das Künstlerhaus steht, neben einem Hofbrunnhaus ebenfalls das Wasser floss? Dass München generell über Jahrhunderte hin von mehr als hundert über- und unterirdisch geführten Bächen und Kanälen durchzogen wurde und man deshalb seinerzeit gern vom venezianischen Charakter der Stadt sprach? Oder dass die Stadtbäche im Zweiten Weltkrieg – trotz des hohen Risikos von Wassereinbrüchen in Luftschutzkeller – nicht abgelassen wurden, weil sie den Feuerwehren nach Bombenangriffen unentbehrliches und unerschöpfliches Reservoir waren?
Ihren Anfang mag die Münchner Stadt der Brücke verdanken, die Heinrich der Löwe über die Isar schlagen ließ. Der wirtschaftliche Aufschwung aber wäre nicht denkbar gewesen ohne die zahlreichen, ursprünglich ungebändigten Verästelungen des Flusses, die man – neben den künstlichen Ableitungen aus der Hauptader – in kontrollierte Gewässer verwandelte. Vom Mittelalter bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts war dieses Netzwerk Energieversorger der Stadt, hat Mühlen, Eisenhämmer, Sägewerke und Pumpen zur Förderung des Trinkwassers angetrieben. Stadtbäche bewässerten die Gräben vor den mittelalterlichen Stadtmauern und entsorgten die Abwässer.
Im Zug des Baubooms, der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, wurden sie mehr und mehr überwölbt, tauchten in der Altstadt nur mehr an wenigen Stellen auf - wildromantisch rauschend etwa auf einer kurzen Strecke bei der Pfistermühle. Der in den Sechziger-Jahren beginnende U- und S-Bahnbau brachte für fast alle diese Wasserläufe vollends das Aus. Ein Umdenken vollzog sich erst in jüngster Zeit. Um die Stadt zu verschönern und auch ihr Klima zu verbessern, will man das Münchner Bachsystem nun neu beleben. Erste Beispiele: der Auer Mühlbach im Bereich Am Neudeck oder der Köglmühlbach vor der Staatskanzlei.
Mit dem Buch liegt erstmals ein Standardwerk vor, das ein bislang vernachlässigtes Terrain der Stadtgeschichte gründlich, ja geradezu enzyklopädisch ausleuchtet. Denn Christine Rädlinger ergänzt ihre Beschreibungen durch eine faktenreiche Auflistung aller je registrierten Stadtbäche, durch einen Nachdruck des ersten Münchner Stadtplans von Tobias Volckmer aus dem Jahr 1613 und durch eine großformatige Übersichtskarte der bestehenden und aufgelassenen Bäche. Den Zugriff zu Forschungsmaterial aus erster Hand verschafften der Autorin Stadtwerke, Bau- und Kulturreferat. Als Herausgeber zeichnet das Stadtarchiv München, dessen Direktor Richard Bauer ebenso mit einem Vorwort vertreten ist wie Baureferent Horst Haffner.
CHRISTINE RÄDLINGER, „Geschichte der Münchner Stadtbäche“, 212 Seiten; 173 vielfach farbige Abbildungen; 38.50 Euro; erhältlich im Stadtarchiv (Fax 089/233 308 31) und im Buchhandel.
Der Schwabinger Bach war nicht nur Idylle, er diente auch als Pferdeschwemme, zum Waschen und zum Fischen. Dieses Aquarell hat Joseph Anton Sedlmayr im Jahr 1825 gemalt. Repro: Münchner Stadtmuseum
…mehr