Göttin der Liebe zu. Die Folgen sind bekannt.
Dem Mythos und seinen Wandlungen im Spiegel der Kunstgeschichte widmet sich Annegret Friedrich. Zwischen 1885 und 1887 schuf der dem Jugendstil und frühen Symbolismus zuzurechnende Bildhauer, Maler und Graphiker Max Klinger sein frühestes monumentales Gemälde, das sich das Urteil des Paris zum Thema nahm. (Heute hängt es im Belvedere in Wien, es ist obenstehend abgebildet.) Dieses Gemälde, seine Entstehung und Rezeption stellt Annegret Friedrich ins Zentrum ihrer Untersuchungen. Sie vergleicht die Motivkonzeption Klingers mit anderen Darstellungen seiner Zeit. Das Bild provozierte und spaltete das zeitgenössische Publikum. Schockierte Ablehnung stand neben ehrerbietiger Bewunderung. Konservative Kritiker tadelten eine unbotmäßige Profanierung der drei olympischen Göttinnen, Klinger nehme den Figuren ihre Idealität. In der Tat lädt der Maler seine Gestalten psychologisch auf, individualisiert sie und sprengt somit den Rahmen einer akademisch-klassizistisch ausgerichteten Deutung des Paris-Urteils. Er sucht Möglichkeiten, den Mythos zu aktualisieren. So legt Klinger die Figur des Paris indifferent und passiv an und ordnet sie infolgedessen nicht eindeutig der Funktion des Wählenden zu, wohingegen die Göttinnen sich dem reinen Betrachtetwerden entziehen und ihre Reize bewußt ins Spiel bringen.
Diese Beobachtung setzt Annegret Friedrich in einen direkten Bezug zur gesellschaftlichen Lage in Klingers Epoche, in der Frauen sich gegen herrschende Normen zur Wehr setzten und ihre Rechte einklagten - darunter bezeichnenderweise das Wahlrecht. Die Autorin wagt die These, daß weibliche Betrachter besonders positiv auf Klingers "Urteil des Paris" reagiert hätten, verweist aber selbst einschränkend auf die problematische Quellenlage. Plausibel jedenfalls verknüpft Annegret Friedrich die Mythengestaltung Klingers mit dem zeitgenössischen Bestreben der Frau, aus ihrer traditionellen "Zuweisung zum schönen sprachlosen Objekt" herauszutreten. Vielfältiger belegt sie, wie Klinger dem sich wandelnden Bild der Frau im neunzehnten Jahrhundert Rechnung zu tragen versuchte.
Das reich mit Materialien und Illustrationen ausgestaltete Buch beweist den Nutzen einer feministischen Perspektive, ohne sie zur einzig möglichen zu erklären. Gelegentliche populärfeministische Floskeln sind nur ein kleiner Schönheitsfehler, über den das Urteil des Lesers mühelos hinwegblicken kann. KIRSTEN MUHLE
Annegret Friedrich: "Das Urteil des Paris". Ein Bild und sein Kontext um die Jahrhundertwende. Jonas Verlag, Marburg 1997. 304 S., Abb., br., 48,- DM.
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