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Produktdetails
  • Verlag: Stroemfeld
  • Seitenzahl: 939
  • Deutsch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 1726g
  • ISBN-13: 9783878778318
  • ISBN-10: 3878778317
  • Artikelnr.: 11362456
Autorenporträt
Georg Groddeck (18661934) ist der Begründer der Psychosomatik, er wird auch der 'wilde Analytiker' genannt. Nach medizinischem Studium und Ausbildung bei Bismarcks Leibarzt Schweninger läßt sich Groddeck 1897 als Bäderarzt in BadenBaden nieder und entwickelt neben vielfältigen Publikationen eine ungewöhnliche ärztliche Praxis. Von 1900 bis zu seinem Tod 1934 leitet er das Sanatorium 'Marienhöhe' in BadenBaden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2004

Der große Beweger aus dem Schwarzwald des Seins
Georg Groddecks wilder Klassiker "Das Buch vom Es" in der Werkedition

Das Es erschien 1923. Davor war lange Zeit nichts gewesen als Wind, Sand und Sterne. Dann waren die Menschen, die Tiere und die Götter gekommen. Mit den Menschen kamen aber auch die Probleme auf die Erde: die heillosen Fragen nach dem Sinn von allem, dem Leben und dem Tod, nach dem Warum, Woher und Wohin. Die Menschen schleppten sich durch die Jahre, mit Not und sich selbst und den anderen ein Rätsel. Dann verschwanden die Götter in bestimmten Erdkreisen, dann zog sich der Gott des Christentums zurück und zeigte sich nur noch sonntags zwischen zehn und elf. Die Menschen malochten in der Fabrik, gingen ins Labor, saßen im Büro. Arbeit, Experimente, Statistiken. Die Menschen hatten Hautausschläge, Krämpfe, Geschwüre, wüste Träume und eine leise Ahnung, daß das Leben so ganz ohne Geheimnis auch nicht Gottes Erbschaft sein könne. Etwas rumorte.

Im März 1923 sprang es raus - aus dem Bauch des Arztes Georg Groddeck in Baden-Baden: das Es. Das Es war groß, wild und gefährlich. Dunkel, stark und mächtig. Es sprang auf den Menschen zu, warf ihn fast um. Beherrschte ihn. Und Georg Groddeck? Er sprang auf das Es rauf und preschte mit lautem Lachen und fuchtelnden Armen los, den Menschen die frohe Botschaft zu bringen: Das Es sei geboren. Die einen rümpften darüber die Nase, die anderen kicherten, aber bald war das geheimnisvolle Es in die geheimnislosen Herzen der geheimnissuchenden Menschen eingezogen und trieb in manchen Köpfen noch dreißig Jahre später Blüten wie Bücher über "Triebstruktur und Gesellschaft".

Damals aber, 1923, da saß einer ganz still und hielt vor dieser irdisch-irrwitzigen Erscheinung nicht den Atem an: Rudolf Steiner. Er dachte an den üblen Materialismus, der überall wucherte und die Seelen verdarb. Auf eigene Faust hatte er die besten Verbindungen zur Geisteswelt hergestellt, die auf dem besten Weg war, zwischen Fabrik, Labor und Büro verschüttzugehen. Das Heil war: den Aufstieg in die höheren Sphären einer Geheimwissenschaft zu wagen. Steiner machte in den zwanziger Jahren, was er davor landauf und landab gemacht hatte: Er hielt Vorträge, erfolgreich. Über die übersinnliche Erkenntnis, den unsichtbaren Menschen, über Reinkarnation, lebendiges Naturerkennen und Heilkunst. Der Mensch stand im Zeichen der vier: physischer Leib, Äther- oder Lebensleib, Astralleib und die Ich-Orangisation. Der Mensch schien damit nicht verloren, das kosmische Geschehen ließ ihn nicht fallen. Die Folge dieses Drangs nach oben war: Das wilde Es kam nicht bis nach Dornach in der Schweiz, berührte die Seele des Kindes nicht, das bei Steiner unter besonderer theoretischer Obhut stand. In Dornach war Steiner 1923, als Georg Groddeck dem Es die Sporen gab, Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposohischen Gesellschaft geworden.

In Wien standen 1923 die Zeichen für das Es günstiger. Sigmund Freud lächelte entgegenkommend. Auch er hatte seinen Verein, die Internationale Psychoanalytische Vereinigung, und auch er wußte seine Schäfchen ins trockene zu bringen. Die "Traumdeutung" aus dem Jahr 1900 war das Grundbuch seiner Geheimwissenschaft. Von ihm bekam der Mensch damit ebenfalls ein Geheimnis in die Hand gedrückt: das verdrängte Unbewußte. Die Folge dieses Drangs nach unten war: Das wilde Es wurde in Wien mit offenen Armen empfangen und berührte die Seele des Kindes, das auch bei Freud, dem Erfinder des Ödipus-Komplexes, unter besonderer theoretischer Obhut stand. Der Mensch stand bei ihm im Zeichen der drei: Ich, Es, Über-Ich. Freud hatte Groddeck im November 1920 geschrieben, daß er, Groddeck, sein neues Manuskript auf jeden Fall dem Psychoanalytischen Verlag überlassen solle. In diesem Verlag war schon Groddecks Roman "Der Seelensucher" erschienen. Der Arzt aus Baden-Baden ging darauf in ein Holzhäuschen im Schwarzwald und begann mit der Arbeit am "Buch vom Es".

Es sollte etwas Freies, Verrücktes werden. Groddeck nahm keine Rücksichten: "Ich bin weder Pfarrer noch Richter, sondern Arzt. Gut und Böse gehen mich nichts an . . ." Sollten die Leute ihn doch mißverstehen. Er konnte nicht anders. Er ging aufs Ganze. Und heraus kam: Das Es ist alles, nicht nur ein Partikelchen im Menschen, sondern ein Kosmos, ein Beweger, der den Menschen sein Ich denken und fühlen läßt. Das Es spricht wie der Heilige Geist in tausend Zungen, in Symptomen und Symbolen, die gedeutet werden müssen, wenn der Mensch sich selbst näherkommen möchte. Der Mensch ohne Polizei, Sitte und Angst: das wäre Leben, das wäre die Wahrheit vor dem sogenannten "Sündenfall" des kindlichen Begehrens. Groddeck schaut hinter jeden Juckreiz, hinter jeden chronischen Husten, hinter jeden Organschmerz, hinter jeden Beinbruch. Wer sitzt da, reibt sich die Hände? Die unerfüllte Sexualität, die auf diese symptomatische Weise aus ihrer Verdrängung zutage steigt. Groddeck denkt psychosomatisch. Ein krankes Organ ist ihm ein gekränktes Organ, die Kränkung - eine Verdrängung.

Groddeck schickt Freud die ersten Seiten aus dem wüsten Buch, das er in Form von Briefen an eine Freundin abgefaßt hat. Der Absender dieser Briefe unterschreibt mit Patrik Troll. Ein wahrer Reigen von Fallgeschichten aus seiner Praxis als Arzt, ein wahrer Reigen an aberwitzigen Deutungen, die das Heil gebracht haben sollen. Erzählt ohne Scheu und Scham, weder vor sich selbst noch vor anderen. Ein Buch, das selber schon die Freiheit und Unbändigkeit atmen soll, die es für das Leben fordert. Freud schreibt Groddeck zurück, daß die ersten fünf Briefe "charmant" seien. Ganz ein Wiener. Er sei entschlossen, das Buch zu keinem anderen Verlag wandern zu lassen. Ganz der Vereinsvorsitzende. Der arbeitsame Freud aber sieht auch Groddeck auf dem Rücken des Es in die Welt hinausgejagen - ohne wissenschaftliche Bedenken, ohne Rücksichten auf die psychoanalytische Bewegung, ohne theoretische Ambitionen. Hat das wertvolle Es eine solche Behandlung, einen solchen Auftritt verdient?

Im Briefwechsel der beiden Es-Kenner finden kleine spitze Nachhutgefechte statt: Freud erinnert Groddeck daran, wie früh er, Freud, von Groddeck den Begriff des Es "angenommen" habe. Nicht übernommen, sondern angenommen, so wie ein Onkel das Geburtstagsgeschenk seines Neffen annimmt. Er denke, daß Groddeck den Begriff "literarisch" von Nietzsche "hergenommen" habe. Hergenommen: wie wenn einer sich etwas zusteckt, das ihm nicht gehört. Freund zog dann noch mit theoretischer Ordnung nach. Im April 1923 erschien seine Schrift "Das Ich und das Es". Freuds Es ist ziviler, bürgerlicher. Es soll ja, wenn es nach dem Psychoanalytiker ginge, überall dort, wo Es war, einmal das Ich das Sagen haben. Groddeck zuckte mit den Schultern und grummelte im Brief an Emmy Groddeck vom Mai 1923, daß Freuds Schrift für ihn ohne Belang und nur geschrieben sei, um sich der Anleihen bei ihm, Groddeck, heimlich zu "bemächtigen". Auch habe das Es bei Freud nur einen Wert für die Neurosen, nicht aber, wie bei ihm, für das Organische. Im September 1927 schubste Freud feste nach: Groddeck habe mit seiner Es-Mythologie alle Differenzen ausgelöscht und sei in eine unbefriedigende Monotonie geraten.

Doch monoton sind nur Systeme. Im Vergleich mit den fleißigen Baumeistern in Wien und Dornach, die mit Erleuchtung (Steiner) und Assoziation (Freud) der Seelensuche eine Methode und damit dem Menschen eine geheimnisvolle Wahrheit zu geben versuchten, ist Groddeck ein wilder Jägersmann, der auf einem schwarzen Pferd (die Kraft, die uns bewegt) durch die Frühstücksgesellschaft im Kurpark von Baden-Baden galoppiert. Zwischen den völlig unironischen Geheimnissystembauern Steiner und Freud, die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das letzte Wort über den Menschen sprechen wollen, taucht Groddeck, das "Buch vom Es" unterm Arm, auf und quatscht jedem die Hucke mit dem Es und den multipel perversen Kindern und multipel perversen Erwachsenen voll, so lange, bis sich der innere Deckel - neben dem wir nun angelangt sind, weil wir Steiner 1920 nicht bei seiner "Suche nach der neuen Isis der göttlichen Sophia" gefolgt sind - langsam hebt, und dann, ja dann beginnt das Glück des Grauens oder das Grauen des Glücks aufzutauchen: das Es, die Kraft, die uns handeln, denken, wachsen, krank und gesund werden läßt - die Kraft, die uns lebt. Das ist das Skript für eine moderne Horrorvision, weit weg von den anthroposophischen Segnungen und psychoanalytischen Zügelungen. Das ist dann schon Avantgarde: der, die, das große Namenlose unter uns.

EBERHARD RATHGEB

Georg Groddeck: "Werke". Das Buch vom Es. Manuskriptedition und Materialien zum Buch vom Es. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main und Basel 2004. 340 und 599 S., geb., im Schuber, 58,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eberhard Rathgeb macht sich mit sichtlichem Vergnügen daran, das "Buch vom Es" von Georg Groddeck zu besprechen. Im Gegensatz zu Rudolph Steiner, der die Menschen Erleuchtung lehren wollte, und zu Siegmund Freund der sie mittels der Assoziation zu verstehen und zu heilen suchte, erscheint ihm der Arzt Georg Groddeck wie ein "wilder Jägersmann" der jedem mit seinem Es "die Hucke voll quatscht", wie der Rezensent fasziniert schreibt. Der Autor interpretiert in seiner Abhandlung alle Krankheiten und Schmerzen psychosomatisch, erklärt Rathgeb. Er sieht in dem Buch, das als Briefsammlung an eine Freundin verfasst ist, das "Skript für eine moderne Horrorvision", in der der Autor sich in einen "wahren Reigen an aberwitzigen Deutungen" stürzt. Dabei zeigt Groddeck keine "Scheu und Scham, denn er wollte, dass sein Werk eben die "Freiheit und Unbändigkeit atmet", die das Es für ihn verkörpert, so der Rezensent beeindruckt. Was ihn dabei besonders zu faszinieren scheint ist der Gegensatz von Groddecks "wüstem Buch" zu den Ausführungen der "fleißigen Baumeister" Freud und Steiner, die ihre Thesen "völlig unironisch" unter die Leute zu bringen suchten, wie der Rezensent amüsiert betont.

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