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Zwanzig Minuten Fußweg sind es von der Lateinerbrücke, an der mit dem Attentat auf das Habsburger Thronfolgerpaar das "kurze 20. Jahrhundert" begann, bis zur Vrbanjabrücke, an der es 1992 mit der Ermordung zweier Studentinnen endete. Nüchtern und unspekulativ hellt Dževad Karahasan die Dunkelheit auf, die über diesem Weg und den Menschen liegt, die ihn gegangen sind.
Karahasan folgt den Spuren, die das 20. Jahrhundert in seiner Heimatstadt Sarajevo und in Bosnien hinterlassen hat. Anatomie der Traurigkeit handelt von dem Sohn eines italienischen Partisanen und einer jugoslawischen
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Produktbeschreibung
Zwanzig Minuten Fußweg sind es von der Lateinerbrücke, an der mit dem Attentat auf das Habsburger Thronfolgerpaar das "kurze 20. Jahrhundert" begann, bis zur Vrbanjabrücke, an der es 1992 mit der Ermordung zweier Studentinnen endete. Nüchtern und unspekulativ hellt Dževad Karahasan die Dunkelheit auf, die über diesem Weg und den Menschen liegt, die ihn gegangen sind.

Karahasan folgt den Spuren, die das 20. Jahrhundert in seiner Heimatstadt Sarajevo und in Bosnien hinterlassen hat. Anatomie der Traurigkeit handelt von dem Sohn eines italienischen Partisanen und einer jugoslawischen Kommunistin, der im Exil sein Leben rekapituliert. In Prinzip Gabriel führen Recherchen den Erzähler nach Theresienstadt. Er entdeckt, daß dort auch Gavrilo Princip, der Attentäter von Sarajevo, inhaftiert war. Die Briefe aus dem Jahre 1993 berichten von einem Studenten, der seinen Dozenten mit den Briefen eines in Sarajevo Umgekommenen konfrontiert.Immer wieder verknüpft dieser Berichterstatter aus einer dunklen Welt scheinbar unzusammenhängende Ereignisse. In einer Prosa, die Authentisches und Fiktives geschickt ineinander verwebt, wird so die "spiralförmige Struktur der Zeit" sichtbar.
Autorenporträt
Dzevad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, zählte zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Essays, Erzählungen und Theaterstücke. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2004 und mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 2020. Dzevad Karahasan verstarb am 19. Mai 2023 im Alter von 70 Jahren in Graz.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2007

Die Armee der gescheiterten Träumer

Was nach dem Bosnien-Krieg übrigblieb: Die neuen Erzählungen von Dzevad Karahasan sind eine einzige Anatomie der Traurigkeit, die keine Grenzen anerkennt.

Von Alexandra Kedves

Eine Nacht im Bosnien-Krieg des Jahres 1993: Eine Granate schlägt in die Wohnung ein, Splitter zerfetzen die geliebte Ausgabe des "Grünen Heinrich", und für den Vorzeige-Bürger Sarajevos, den damals vierzigjährigen Schriftsteller, Theatermann und Hochschullehrer Dzevad Karahasan, ist das Maß voll. Er verlässt Haus und Heimat - und schreibt in Österreich sein "Tagebuch einer Aussiedlung", das 1994 mit dem Essaypreis Charles Veillon ausgezeichnet wird. Auch der Schauplatz seiner beiden Romane "Schahrijârs Ring" (1994) und "Sara und Serafina" (1999) ist Sarajevo; das belagerte Sarajevo. "Der nächtliche Rat" (2005) wiederum skizziert die Vorgeschichte dieses Krieges zu Anfang der neunziger Jahre. Und die Stadt an der Bosna wird Karahasans Hauptfigur bleiben.

In dem eben auf Deutsch erschienenen Erzählband mit dem nur halb ironischen Titel "Berichte aus der dunklen Welt" ist Karahasans Favoritin Mysterium, Mosaik und Multikulti-Ikone in einem. "Zweierlei haben Bosnien und die dunkle Welt zweifelsohne gemein", resümiert der Autor in seinem Nachwort, "das Reale erreicht hier wie dort fast denselben Grad an Intensität . . . Allem Bestehenden wächst in Bosnien augenblicklich sein Antipode zu." Sarajevo scheint wie die Sonne auf Kraut und Unkraut, und alles wächst und wuchert wild durcheinander, politisch und kulturell. Auch die Geschichten.

So stampft durch Sarajevos Gedächtnis in dem Band "Berichte aus der dunklen Welt" der Elefant, den Kalif Harun im Jahr 798 Karl dem Großen schenkte. So gähnen da die versehrten Landschaften, ausgelaugt von den drei bosnischen Auswanderungswellen: 1878 (Einmarsch Österreichs in Bosnien), 1919 (Gründung des jugoslawischen Königreiches) und 1925 (Verfolgungen durch die Serben). Aber irgendwann sitzt man wieder draußen an einem heißen Sommernachmittag, im Frieden, Ende der Neunziger, als wäre nichts gewesen. Doch alles ist anders.

Der Essayist und literarische Rapporteur Karahasan kennt als Prosaautor keine geographischen oder historischen Grenzen: Sarajewo ist der Nabel der Welt, und seine "Berichte" von dort sind vier mäandernde Gänge durch Menschlich-Allzumenschliches, durch Krieg, Liebe und Verachtung, durch Sehnsucht nach Versöhnung und Ausbruch. Der erste, der längste und schönste Text mit dem Titel "Anatomie der Traurigkeit" spannt einen Bogen von der Tristesse im neoliberalen Italien der Neunziger zurück zu den Hoffnungen Mitte der Fünfziger, als in Jugoslawien die Arbeiterräte tagten. Der Held mit dem beziehungsvollen Namen Emiliano war zwar nie ein "Zapata", ein Revolutionär. Für kurze Zeit aber hatte er sich als den "wichtigsten und glücklichsten jungen Mann der Welt" betrachtet. Dann verließ ihn das Mädchen mit den schönsten Brüsten der Stadt, und sein Leben verlief sich irgendwie. Emiliano ist einer der vielen Ritter von der traurigen Gestalt, der vielen Fußsoldaten aus der Armee der gescheiterten Träumer. "Anatomie" setzt dem kleinen Mann, der immer und überall unters Rad der Geschichte gerät, ein schlichtes Wegkreuz. Und keine philosophischen Gedankengebäude erdrücken es.

Die Briefnovelle "Briefe aus dem Jahr 1993" zeichnet dagegen eine Reise voller intellektueller Schnörkel nach. "Wie soll man das innere Sarajevo beschreiben?", fragt ein verwirrter Student. "Als Erzählung oder Theaterstück, in der Flüche Liebe und Geheul Freude bedeuten?" In dieser Stadt geht es mit jedem Satz ums Ganze, um Leben und Tod; und die jungen Leute, die hier Briefe wechseln, fliehen vor diesem russischen Roulette und flehen doch darum: Zerrissenheiten, die den Spiritus loci nahebringen, den Geist der Literatur jedoch eher verscheuchen. Wenn Karahasan, der Professor, (seine) Studenten schildert, sind deren sentimentale Verstrickungen in die eigenen Seminararbeiten unüberhörbar.

Karahasan, der Dramaturg, indessen, bleibt bei den mentalen und realen Reisen seines Alter Egos - eines Regisseurs - auf dem Teppich und auf dem dreckigen Boden von Theresienstadt ("Das Prinzip Gabriel"). "Zu allen Zeiten, in allen Staaten hatte Theresienstadt ein Gefängnis und war eine Garnison." Und der winzige Rasenstreifen namens Bahnhof Terezín fühlt sich an wie das Ende von Raum und Zeit. "Jeder weitere Schritt ist unmöglich."

Immer wieder neu durchlaufen Karahasans Figuren in den vier Erzählungen Pilgerwege durch die Länder und die Jahrhunderte. Und immer wieder neu geraten sie nach Sarajevo und an einen toten Punkt. Die Zeit schnurrt zusammen wie ein alter Luftballon; die Luft ist raus. "Das Intermezzo der für das zwanzigste Jahrhundert charakteristischen bürgerlichen Demokratie endete am 6. April 1992 in Sarajevo. An diesem Tag wurden auf der Vrbanjabrücke Suada Dilberovic und Olga Sucic ermordet. Sie demonstrierten gegen einen Krieg, der offiziell mit ihrer Ermordung begann", stellt Karahasan in seinem Nachwort fest, dem fünften Bericht aus der dunklen Welt.

Wo sich die Geschichten bisweilen verheddern, pointieren diese zehn Seiten, die sich gar nicht erst am Narrativen versuchen. Das ist brillant. Das erzählerische Finale hingegen, "Karl der Große und die traurigen Elefanten", verfährt, wie auch die anderen Texte, sehr stark und bisweilen dann auch zu stark anekdotisch. Zwischen den Wasserpfeifen-Bedächtigkeiten, Hinterhof-Weisheiten und 1001-Nacht-Allegorien verirrt sich da hin und wieder die Story. Aber auch das ist eben Sarajevo.

- Dzevad Karahasan: "Berichte aus der dunklen Welt". Prosa. Aus dem Bosnischen übersetzt von Brigitte Döbert. Mit einem Nachwort des Autors. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007. 216 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2007

Vom Schlafen so weit entfernt wie vom Wachen
Wie war es in Bosnien, in Sarajevo, und was ist davon geblieben? Dzevad Karahasan schickt Berichte aus einer dunklen Welt
Die Belagerung Sarajevos im Jahr 1992 begann mit der Zerstörung des Orientalischen Instituts und seiner museologischen Sammlung. „Mit der Auslöschung der Vergangenheit beginnt die Barbarei, eine ausgelöschte Geschichte: Erinnerung wird gelöscht”, sagt der Autor Dzevad Karahasan. Seit seiner Flucht 1993 aus Bosnien, seit Beginn seines Exils hat er in seinen Büchern Erinnerungen festgehalten, in denen die zerstörte Stadt immer wieder vermessen wird. Er erzählt von den Schönheiten des Lebens in Sarajevo und der mosaikartigen Buntheit Bosniens, die seit dem Krieg nicht mehr existiert. Er schreibt, wie er sagt „ins Ideale, in die Erinnerung, unter die Schatten”.
Ein Fremder in der Nacht
Sein jüngstes Buch „Berichte aus der dunklen Welt” versammelt fünf Prosatexte, die sich auf dem Grenzgebiet zwischen Erfindung und Wirklichkeit bewegen. Der Erzähler ist auf eine Reise gegangen und hat die „dunkle Welt” durchwandert, eine Zwischenwelt von vereinsamten, entwurzelten Menschen, die von Dämmerzuständen heimgesucht werden, „vom Schlaf ebenso weit entfernt wie vom Wachsein”. Dzevad Karahasan hat ihre Geschichten, Erlebnisse und Überlegungen aufgezeichnet. Entstanden ist daraus eine Sammlung von lose zusammenhängenden Berichten über das Leben „in Zeiten der Not und in der Fremde”. Was sie verbindet, ist ihr gemeinsamer Fluchtpunkt: das Land Bosnien und dessen Zentrum, die Hauptstadt Sarajevo.
Karahasan erzählt von Menschen, die erlebt haben, wie die Stadt, in der sie den größten Teil ihres Lebens verbracht haben, in der Zerstörung verschwindet – und sie fangen an, daran zu zweifeln, ob sie das Leben, an das sie sich erinnern, tatsächlich gelebt haben. Ihnen kommt die Wirklichkeit abhanden und wird zu etwas Ungreifbarem. Davon erzählt Emilio, ein bosnischer Exilant in Piacenza, in einem langen Monolog. Es ist ihm nicht gelungen, in seiner neuen Heimat Wurzeln zu schlagen. Als „stranger in the night” führt er ein Leben, das „bequem, leise und tot” geworden ist. Und immer regnet es, der Regen ist nicht auszuhalten. Sosehr er sich bemüht, sich zu erinnern, an konkrete Situationen, an Berührungen oder Gespräche, seine Erinnerungen bleiben „abstrakt, allgemein und unwirklich”. Vergebens zerrt ihn seine Nichte therapeutisch-wohlmeinend in ein Konzert der „Rolling Stones”, um ihn in seine Jugend zurückzuversetzen und an vergessene Möglichkeiten zu erinnern: „Sarajevo ist tot, Onkel, nicht du.” Die Welt zerfällt in Bruchstücke, die Erinnerungen werden von Tag zu Tag blasser, und in Gedanken geht jemand alle Höfe durch, die in den letzten Jahren beim Wiederaufbau des alten Sarajevo vernichtet wurden: „Irgendwo in mir ist bis zum heutigen Tag das Rauschen des Brunnens aufbewahrt,... sind die Schritte auf der Holztreppe noch da, ... hallt das Lachen jenes Mädchens noch nach ...” In fast manischer Präzision rekonstruieren sie ihr Leben, jede kleinste Erinnerung wird verteidigt, wie um sich selbst zu bestätigen, dass die Welt, in der sie gelebt haben, existiert hat.
Die Reise des Erzählers ist auch eine Reise in die Vergangenheit. Die privaten Erinnerungen berühren die historische Erinnerung an die Geschichte Bosniens: „Vorfälle aus der ruhmreichen Vergangenheit meiner Völker, von denen ich nichts wissen und über die ich nicht nachdenken wollte, weil sie zu vieles Unentwirrbares, Unbegreifliches, Bedrohliches und Düsteres enthalten.” Im ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt stößt der Erzähler auf die Spuren von Gavrilo Princip, dem Attentäter von Sarajevo, der 1914 den habsburgischen Thronfolger und dessen Frau erschoss und den Anlass für den Ersten Weltkrieg lieferte. In Istanbul begegnet ihm die Geschichte von Dzelaluddin Ali-Pascha, einem der blutrünstigsten Wesire Bosniens, der seine zärtliche Liebe zu seinem Elefanten nach dessen Tod im Herbst des Jahres 1821 in einer Kalligraphie verewigte: „Auch du, mein Bruder, bist genau wie ich, ein Fremder an diesem Ort.”
Die Berichte gleichen einem Puzzle, dessen Teile den imaginären Raum eines immer wieder beschworenen Bosnien und eine erträumte Welt ins Bild setzen. Dem mitreisenden Leser begegnen dabei vor allem Fragen. Danach, wie es um die Darstellung und Erzählbarkeit dieser Welt steht, wenn es „hinter allem Geschriebenen eine ebenso starke, ebenso wichtige Kehrseite gibt, die zu dem Geschriebenen in direktem Widerspruch steht. Wie soll man das aufschreiben?” - So fragt ein bosnischer Student seinen Professor und schickt ihm anstelle einer Seminararbeit über das „innere Sarajevo” zwei Briefe, die von dem Leben an diesem Ort erzählen.
Über die Brücke gelaufen
In diesen Briefen verbirgt sich eine augenfällige Hommage Dzevad Karahasanas an den großen bosnischen Erzähler Ivo Andric, dessen Erzählung „Brief aus dem Jahre 1920” er in einigen Passagen in seinen Text hineingeschmuggelt hat. Für Andric, der den Orient als „das größte Wunder und das größte Grauen” zugleich bezeichnet hat, war der Begriff der „Brücke” – der Titel seines ersten Epos’ – Inbegriff seines gesamten Schaffens. Karahasan, in der Hoffnung, dass „der zuverlässigste Weg zu verborgenen Wahrheiten über die Literatur führt – zu Wahrheiten, die wir suchen oder verstecken möchten”, folgt Andric, indem er ein vergangenes Bosnien ausschließlich anhand persönlicher Erinnerungen rekonstruiert. Und sich allen Ansprüchen auf Wahrheit entzieht: Denn „wir wissen es nicht und können es nicht wissen, wir können nur hoffen, dass wir etwas von allem dem begreifen oder zumindest erahnen”. YVONNE GEBAUER
DZEVAD KARAHASAN: Berichte aus der dunklen Welt. Prosa. Aus dem Bosnischen von Brigitte Döbert. Insel Verlag. Frankfurt am Main 2007, 216 Seiten, 19,80 Euro.
Muslimischer Junge in Sarajevo, 1993. Foto: Antoine Gyori/Corbis Sygma
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dass der Autor Dzevad Karahasan es nicht so sehr mit der Wahrheit hat, scheint Yvonne Gebauer nicht zu stören. Gern lässt sie sich auf die versammelten, "lose" verbundenen Erlebnisse und Geschichten von Entwurzelten ein, die um die bosnische Hauptstadt Sarajevo kreisen und darum, wie die erinnerte Wirklichkeit an die Zeit vor dem Krieg sich aufzulösen beginnt. Die einzelnen Berichte wirken auf sie wie ein Puzzle, aus dem eine "erträumte Welt" ersteht. Für Gebauer provozieren sie allerdings auch die bange Frage nach ihrer nicht erzählten "wichtigen Kehrseite".

© Perlentaucher Medien GmbH
»Karahasan vermählt das Fragmentarische, die Vielstimmigkeit und Polyperspektivik der westlichen Moderne mit den ausgreifenden Erzähltraditionen des Orients, insbesondere der sufischen Mystik.« Frankfurter Rundschau