Sie wird am frühen Abend eines schönen Tages verhaftet. Man sagt ihr nicht, warum. Auf all ihre Fragen heißt es: "Das wissen Sie am besten." Lenka Reinerová weiß es nicht. Nach allem, was sie erlebt hatte in den zurückliegenden Jahren - Verhaftung, Internierung, Exil -, glaubte sie nun endlich in ihrer Heimat mithelfen zu können, die verheißungsvolle Idee einer sozial gerechten Gesellschaft zu verwirklichen. Aber es ist der Frühling 1952 in Prag. Man hat sie vor kurzem aus dem Rundfunk entlassen. Jetzt ist sie nur noch Häftling Nr. 2814 und sitzt Verhörern gegenüber, deren inquisitorische Fragen und Anschuldigungen sie nicht begreift: Hochverrat, Zionismus, Spionage für den Klassenfeind. Wenn sie einsam in ihrer winzigen Zelle ohne Tageslicht grübelt, was ihr geschieht und vor allem warum, scheint es, als ob die Farben der Nacht sich endgültig über sie senken würden. In den Augenblicken höchster Niedergeschlagenheit aber beginnt sie sich zu erinnern: Sie ist nicht allein, ihr ganzes bisheriges Leben ist mit ihr, ihre liebsten Mitmenschen, selbst die Toten unter ihnen. Sie ist nicht von allen verlassen, wie die Verhörer behaupten. Ihr Leben hat die Farben der Sonne. Lenka Reinerová schlägt in diesem eindrucksvollen Bericht eines der schlimmsten Kapitel ihres Lebens auf, eines, dessen Düsternis sie nur durch die seltenen warmen, hellen Momente, die es trotz allem gab, überleben konnte. Als Lenka Reinerová nach Jahren der Verfolgung und des Exils, nach Internierung und Todesgefahr, wieder in Prag lebte und sich endlich in Sicherheit wähnte, geschah das Unglaubliche: Sie wurde erneut verhaftet, diesmal von den eigenen Genossen. In ihrer Zelle schien es ihr, als ob die Farben der Nacht sich endgültig über sie gesenkt hatten. Erst jetzt, nach über fünfzig Jahren, vermag Lenka Reinerová, die letzte deutsch schreibende Literatin in Prag, über dieses dunkle Kapitel ihres Lebens zu berichten.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Memoiren von Lenka Reinerova, der letzten in deutscher Sprache schreibenden Autorin Prags, haben Rezensent Michael Grus sehr beeindruckt. Nach dem Exil während der Nazi-Besetzung der Tschechoslowakei kehrte Reinerova nach Prag zurück, wo sie, Kommunistin und Intellektuelle jüdischer Herkunft, beim Rundfunk arbeitete, bis sie von eigenen Kampfgefährten für fünfzehn Monate in Haft genommen wurde, berichtet Grus. Wie er ausführt, entwickelt Reinerova aus der Verhörsituation in Haft die Struktur des vorliegenden Memoirenbandes: die Inquisitoren fungierten als Stichwortgeber für Erinnerungen an die Stationen eines wechselvollen, von Exil, Haft und Schreibverbot geprägten Lebens. Ihre Schilderungen sind nach Grus' Einschätzung stark "von persönlichem Erleben" geprägt, weswegen man "scharfe politische Analyse" eher nicht erwarten dürfe. Dafür entschädige Reinerova den Leser durch "unverfälschte Offenheit" und ihre "genaue Beobachtung". Er hebt insbesondere Reinerovas optimistische Grundeinstellung hervor, die nur bei "vordergründiger Lektüre" naiv erscheine.
© Perlentaucher Medien GmbH
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