Über fünfzehn Jahre lang hat Ivan Ivanji in den 1970er und 1980er Jahren die Begegnungen von Josip Broz Tito und anderer führender jugoslawischer Politiker mit Staatsmännern des deutschsprachigen Raumes gedolmetscht. Auf diese Weise nahm der Schriftsteller in der Rolle des Übersetzers unmittelbar am historischen Zeitgeschehen teil. "Titos Dolmetscher" beschreibt Weltgeschichte, gesehen mit den Augen eines Literaten und Übersetzers. Als Teilnehmer von drei großen internationalen Konferenzen - der Gründungskonferenz der KSZE (deren Nachfolge die OSZE angetreten hat) 1975 in Helsinki, der Versammlung der kommunistischen und Arbeiterparteien 1976 in Ostberlin und der Gipfelkonferenz der Blockfreien in Havanna 1979 - entwirft Ivan Ivanji ein sehr lebendiges Bild der so genannten multilateralen Diplomatie der 1970er Jahre, als Jugoslawien im Konzert der Staatengemeinschaft eine allseits anerkannte Rolle gespielt hat. Jahrelang verbringt Ivanji an der Seite Titos und lernt dabei die interessantesten und einflussreichsten Persönlichkeiten der westdeutschen, ostdeutschen und österreichischen Politik kennen: Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt; Walter Ulbricht, Erich Honecker und Willy Stoph; Bruno Kreisky, Franz Jonas und Kurt Waldheim. "Titos Dolmetscher" ist ein Zeitdokument der besonderen Art. Ivanji nimmt darin die Rolle des exakten Beobachters ein, distanziert in der politischen Herangehensweise und dennoch mit großer persönlicher Nähe zu den Repräsentanten der europäischen Politik in den 1970er und 1980er Jahren. Am Ende seines Buches drückt der Autor, einem unzeitgemäßen Bekenntnis gleich, seine Sympathie mit dem in schrecklichen Kriegswirren der 1990er Jahre untergegangenen Vielvölkerstaat Jugoslawien und dessen eindrucksvollstem Politiker, Tito, aus.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Christian Jostmann hat mit dem Schriftsteller Ivan Ivanji in einem Wiener Cafe gesprochen und stellt nun dessen Buch vor, in dem Ivanji seine Erlebnisse als Dolmetscher Titos gesammelt hat. Als Dolmetscher war der Autor zugleich ganz nah dran und dennoch Außenstehender, wodurch sich der besondere und nicht selten "süffisante" Blick auf die Zeit und ihre Protagonisten ergibt, findet der Rezensent. Ivanji sei kraft seines Jobs vielen großen Politikern seiner Zeit begegnet, habe sogar einmal mit Erich Mielke "Bruderschaft" trinken müssen, berichtet der Rezensent, dem es aber mindestens genauso wichtig ist, den Autor als Schriftsteller vorzustellen. Ivanji, im Banat dreisprachig aufgewachsen, wurde 1944 nach Auschwitz und Buchenwald deportiert, seine Eltern ermordet, erklärt der Rezensent. Der Autor habe ein umfangreiches, beachtenswertes Oeuvre von Romanen, Erzählungen, Essays und Gedichten geschaffen und das Dolmetschen lediglich als Nebentätigkeit betrieben, betont Jostmann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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