Rund einen Monat, bevor die Wehrmacht Leningrad einkesselt, um die Zivilbevölkerung mit beispielloser Grausamkeit auszuhungern, beginnt Lena Muchina ihr Tagebuch. Sie interessiert sich für das, was alle jungen Mädchen beschäftigt: Wie kann sie das Herz von Wowka, dem Jungen aus ihrer Klasse, gewinnen? Wie schummelt man sich durch die Geometrie-Prüfung? Aber bald gibt es nur noch den einzigen, alles beherrschenden Gedanken: etwas in den Magen zu bekommen, und sei es die Katze der Nachbarn ... Das berührende, dabei unsentimentale Tagebuch eines sechzehn jährigen Mädchens, das die Belagerung von Leningrad überlebte. Aus dem Russischen von Lena Gorelik und Gero Fedtke.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.12.2013Zeugnis der Hungerblockade
1941 bis 1944 wurde Leningrad von der Heeresgruppe Nord belagert. Damals schrieb ein Mädchen Tagebuch. Vor wenigen Jahren erst haben russische
Wissenschaftler Lena Muchinas Aufzeichnungen entdeckt und ediert: Das anrührende Buch erinnert an die Beobachtungen der Anne Frank
VON DORION WEICKMANN
Am 22. Mai 1941, einen Monat bevor Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion überfällt, beginnt die sechzehnjährige Lena Muchina in Leningrad Tagebuch zu schreiben. Ziemlich genau ein Jahr lang wird das Mädchen diese Aufzeichnungen führen – und sich zwischen der ersten und letzten Eintragung in eine vom Schicksal Gezeichnete verwandeln. Am Ende ist sie keine Schülerin mehr, die sich mit Jungsgeschichten, Deutschunterricht und schlechten Noten plagt, sondern eine von Hunger, Tod und Angst getriebene, vom Terror der Belagerung traumatisierte Frau.
Im September 1941 haben die Deutschen die Stadt an der Newa umzingelt und damit begonnen, ihre knapp drei Millionen Bewohner auszuhungern. Lena Muchina nehmen sie im Februar 1942 das Liebste auf der Welt, ihren Daseinsanker: „Ich stellte ihre Füße auf den Boden, allein sie zu berühren war furchtbar. Da begriff ich, dass Mama nicht mehr lange zu leben hatte.“ Obwohl „Mamulja“ nur ihre Ziehmutter ist, hängt Lena mit zärtlicher Liebe an dieser Frau, und dass sie deren Tod nicht als ihren eigenen begreift, grenzt an ein Wunder. Denn weiterleben heißt: sich mit vor Hunger schmerzendem Magen von einem Tag zum nächsten schleppen, eisigen Frost und Luftalarm aushalten, Schlitten mit Abertausenden Toten durch die Straßen ziehen sehen, und warten, warten, warten – auf den Abtransport „aus diesem verfluchten Leningrad“.
Anfang Juni 1942 ist es so weit, Lena Muchina wird evakuiert. Sie kehrt freilich schon drei Jahre später zurück. Dem Schatten der Katastrophe kann sie zeitlebens nicht entrinnen. Das Tagebuch, das jetzt in vorzüglich edierter Übersetzung erschienen ist, dokumentiert den Wendepunkt dieses Daseins, das nie mehr heil wurde.
Nicht von ungefähr fällt im Epilog, den der Historiker Gero Fedtke zum Exkurs über die Blockade ausweitet, der Name Anne Franks. Genau wie die junge Jüdin in Amsterdam Zeugnis ablegte von den Vorstufen des Genozids, tut es Muchina für ihresgleichen, für die Menschen Leningrads, denen die Heeresgruppe Nord neunhundert Tage lang alle Lebensadern abschnitt. Beide Schreiberinnen verbindet nicht nur das jugendliche Alter, sondern ein tiefes Gefühl der Einsamkeit. Genau das ist das Ziel des Terrors: Das Opfer soll ausweglos auf sich selbst zurückgeworfen werden. Für Anne Frank gab es keine Rettung, Lena Muchina entkam im allerletzten Moment, an der Schwelle zur Apathie: „Ich fühle gar nichts mehr“, heißt es am 25. Mai. Ein paar Tage später brachte sie sich bei Verwandten in Nischni Nowgorod in Sicherheit. Über die Kriegserlebnisse bewahrte sie Schweigen, wie so viele. Dass ihr Tagebuch auf verschlungenen Wegen ins Leningrader Staatsarchiv gelangte, wo russische Wissenschaftler es fanden, ist ein Glücksfall. Denn dieses gedruckte Denkmal besitzt die Kraft einer unzensierten Stimme, die zu den Nachgeborenen spricht.
Lena Muchina : Lenas Tagebuch. Leningrad 1941-1942. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Lena Gorelik und Gero Fedtke. Graf Verlag, 2013. 375 S., 18 Euro.
Dorion Weickmann ist freie Journalistin.
Der Terror war erfolgreich. Im
Mai 1942 schrieb Lena Muchina:
„Ich fühle gar nichts mehr.“
Ein Plakat der sowjetischen Rüstung von 1944: „Wir geben der Roten Armee mehr Kampftechnik für die endgültige Zerschlagung des Feindes.“
Foto: Picture Alliance / AKG
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1941 bis 1944 wurde Leningrad von der Heeresgruppe Nord belagert. Damals schrieb ein Mädchen Tagebuch. Vor wenigen Jahren erst haben russische
Wissenschaftler Lena Muchinas Aufzeichnungen entdeckt und ediert: Das anrührende Buch erinnert an die Beobachtungen der Anne Frank
VON DORION WEICKMANN
Am 22. Mai 1941, einen Monat bevor Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion überfällt, beginnt die sechzehnjährige Lena Muchina in Leningrad Tagebuch zu schreiben. Ziemlich genau ein Jahr lang wird das Mädchen diese Aufzeichnungen führen – und sich zwischen der ersten und letzten Eintragung in eine vom Schicksal Gezeichnete verwandeln. Am Ende ist sie keine Schülerin mehr, die sich mit Jungsgeschichten, Deutschunterricht und schlechten Noten plagt, sondern eine von Hunger, Tod und Angst getriebene, vom Terror der Belagerung traumatisierte Frau.
Im September 1941 haben die Deutschen die Stadt an der Newa umzingelt und damit begonnen, ihre knapp drei Millionen Bewohner auszuhungern. Lena Muchina nehmen sie im Februar 1942 das Liebste auf der Welt, ihren Daseinsanker: „Ich stellte ihre Füße auf den Boden, allein sie zu berühren war furchtbar. Da begriff ich, dass Mama nicht mehr lange zu leben hatte.“ Obwohl „Mamulja“ nur ihre Ziehmutter ist, hängt Lena mit zärtlicher Liebe an dieser Frau, und dass sie deren Tod nicht als ihren eigenen begreift, grenzt an ein Wunder. Denn weiterleben heißt: sich mit vor Hunger schmerzendem Magen von einem Tag zum nächsten schleppen, eisigen Frost und Luftalarm aushalten, Schlitten mit Abertausenden Toten durch die Straßen ziehen sehen, und warten, warten, warten – auf den Abtransport „aus diesem verfluchten Leningrad“.
Anfang Juni 1942 ist es so weit, Lena Muchina wird evakuiert. Sie kehrt freilich schon drei Jahre später zurück. Dem Schatten der Katastrophe kann sie zeitlebens nicht entrinnen. Das Tagebuch, das jetzt in vorzüglich edierter Übersetzung erschienen ist, dokumentiert den Wendepunkt dieses Daseins, das nie mehr heil wurde.
Nicht von ungefähr fällt im Epilog, den der Historiker Gero Fedtke zum Exkurs über die Blockade ausweitet, der Name Anne Franks. Genau wie die junge Jüdin in Amsterdam Zeugnis ablegte von den Vorstufen des Genozids, tut es Muchina für ihresgleichen, für die Menschen Leningrads, denen die Heeresgruppe Nord neunhundert Tage lang alle Lebensadern abschnitt. Beide Schreiberinnen verbindet nicht nur das jugendliche Alter, sondern ein tiefes Gefühl der Einsamkeit. Genau das ist das Ziel des Terrors: Das Opfer soll ausweglos auf sich selbst zurückgeworfen werden. Für Anne Frank gab es keine Rettung, Lena Muchina entkam im allerletzten Moment, an der Schwelle zur Apathie: „Ich fühle gar nichts mehr“, heißt es am 25. Mai. Ein paar Tage später brachte sie sich bei Verwandten in Nischni Nowgorod in Sicherheit. Über die Kriegserlebnisse bewahrte sie Schweigen, wie so viele. Dass ihr Tagebuch auf verschlungenen Wegen ins Leningrader Staatsarchiv gelangte, wo russische Wissenschaftler es fanden, ist ein Glücksfall. Denn dieses gedruckte Denkmal besitzt die Kraft einer unzensierten Stimme, die zu den Nachgeborenen spricht.
Lena Muchina : Lenas Tagebuch. Leningrad 1941-1942. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Lena Gorelik und Gero Fedtke. Graf Verlag, 2013. 375 S., 18 Euro.
Dorion Weickmann ist freie Journalistin.
Der Terror war erfolgreich. Im
Mai 1942 schrieb Lena Muchina:
„Ich fühle gar nichts mehr.“
Ein Plakat der sowjetischen Rüstung von 1944: „Wir geben der Roten Armee mehr Kampftechnik für die endgültige Zerschlagung des Feindes.“
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"Ein eindrucksvolles Zeugnis dieser menschlichen Katastrophe." Marc von Lüpke-Schwarz Deutsche Welle 20130430