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Unter der Intendanz von Frank Castorf hat die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz die deutsche Theaterlandschaft entscheidend geprägt und verändert. Schauspieler und Regisseure, Dramaturgen und Bühnenbildner erzählen von ihrem weg an der Volksbühne und der Arbeit am Haus. Die Gespräche fangen den besonderen esprit, Humor und die anarchische Kraft der "Republik Castorf" ein.

Produktbeschreibung
Unter der Intendanz von Frank Castorf hat die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz die deutsche Theaterlandschaft entscheidend geprägt und verändert. Schauspieler und Regisseure, Dramaturgen und Bühnenbildner erzählen von ihrem weg an der Volksbühne und der Arbeit am Haus. Die Gespräche fangen den besonderen esprit, Humor und die anarchische Kraft der "Republik Castorf" ein.
Autorenporträt
Gespräche mit Kathrin Angerer, Frank Castorf, Bert Neumann, Henry Hübchen, Herbert Fritsch, Jürgen Kuttner, Matthias Lilienthal, Christoph Marthaler, Rene Pollesch, Sophie Rois, Alexander Scheer, Bernhard Schütz, Lilith Stangenberg und vielen anderen. Mit einem Bildteil von Thomas Aurin
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hubert Spiegel erinnert sich gern an das "Nachwende-Wunder" Volksbühne mit dem von Frank Raddatz herausgegebenen Gesprächsband. Auch wenn der Herausgeber allzu unkritisch still sämtliche Selbstversicherungen und -stilisierungen von Castorf und Co. über den Leser ergehen lässt, wie Spiegel erkennt, lernt er hier viel über die Dehnbarkeit des Theaterbegriffs, die Gemeinsamkeiten in den unterschiedlichen Binnenperspektiven auf das Haus und das Castorf-Regime, in dem laut Spiegel "Anarchie in gesicherten Verhältnissen, Partisanentum bis zur Pensionsgrenze" herrschte.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2017

Und jetzt noch schnell auf den Mount Faust
Im Inselkönigreich der besonderen Zustände: Frank Raddatz präsentiert Gespräche über fünfundzwanzig Jahre Berliner Volksbühne unter Frank Castorf

"Nur Diktaturen überleben" - in welchem Umfeld würde man einen solchen Satz erwarten, wo könnte er ausgesprochen werden, ohne auf Protest zu stoßen? Nur in Nordkorea und im Kulturbetrieb, den vielleicht letzten Bezirken, in denen das Genie, ob echt oder vermeintlich, die Macht, ob verliehen oder erworben, und der Kult, ob aufrichtig oder verlogen, mitunter noch geschmeidig zueinanderfinden.

"Nur Diktaturen überleben" ist ein Satz des Schauspielers Henry Hübchen, und er hat in dem Kontext, in dem er fällt, nichts Anstößiges an sich. Hübchen spricht über seine Zeit an Frank Castorfs Berliner Volksbühne. Er blickt zurück auf eine Ära, die nun, da sie kurz vor ihrem Ende steht, einerseits in das honigfarbene Licht der Verklärung gehüllt wird und sich andererseits keuchend und keifend gegen einen dunklen Schatten stemmt - Chris heißt die Canaille. Hübchen spielte den Franz Moor in Castorfs "Räubern", die elf Tage vor dem Ende der DDR Premiere hatten, am 22. September 1990.

Castorf-Premieren sind eigentlich immer Uraufführungen. Denn die Stücke, die gezeigt werden, ganz gleich, ob es sich um Ibsens "Baumeister Solness" oder um den "Aias" des Sophokles handelt, werden vom Regisseur zerschlagen, neu erfunden, in der Regel mit Fremdmaterial angereichert und in einer Castorf-Variante dargeboten. Das dürfte auch bei Goethes "Faust" nicht anders sein, der letzten großen Produktion des scheidenden Intendanten, für die sich am heutigen Freitagabend der Vorhang der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz heben wird. Die Dramaturgen Sebastian Kaiser und Carl Hegemann haben angekündigt, worauf sich der Zuschauer gefasst machen muss: "Aus dem in der Vergangenheit angehäuften und gesammelten Theaterwissen entsteht so etwas wie ein Volksbühnenfaust am Rosa-Luxemburg-Platz. Ein Mammutprojekt, das nur möglich ist durch seine Spieler und Künstler, von denen viele bis zu 25 Jahre dafür trainiert haben. Ein letztes Mal (?) kommen sie zusammen und ersteigen gemeinsam den Mount Faust."

Wer etwas über das Volksbühnen-Trainingsprogramm der letzten Jahrzehnte erfahren möchte, ist mit dem Band "Republik Castorf. Die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platzt seit 1992" gut bedient. Sein Herausgeber Frank Raddatz versammelt darin zwanzig Gespräche, die zusammen mit etlichen Fotografien von Thomas Aurin fast 380 Seiten füllen: Schauspieler wie Sophie Rois, Kathrin Angerer, Hendrik Arnst und Bernhard Schütz werden ebenso befragt wie der Bühnenbildner Bert Neumann, die Regisseure René Pollesch und Herbert Fritsch sowie die Dramaturgen Carl Hegemann und Matthias Lilienthal und Castorf selbst. Raddatz begnügt sich dabei mit der Position des einvernehmlichen Stichwortgebers, der auch beim größten Unfug nicht nachhakt oder Einwände formuliert, sondern gern und großzügig Weihrauch spendet. Kritische Distanz darf man hier nicht erwarten, es sei denn, die Befragten selbst würden sie entwickeln, wozu sie nur zum Teil gewillt sind.

Selbstvergewisserung, Selbstbefragung, Selbststilisierung - die Übergänge sind fließend, die Temperamente verschieden. Hübchens Volksbühne ist eine andere als die von Kathrin Angerer oder Sophie Rois, René Pollesch vertritt einen anderen Theaterbegriff als Herbert Fritsch, aber in Castorf haben sie alle den diktatorischen Anarchen oder anarchischen Diktator gefunden, der die Gegensätze ganz undialektisch aufzugreifen verstand. Konsens, sagt Castorf, sei der Untergang der Kunst, der Konflikt ihr Lebenselixier. Um so interessanter zu beobachten, wie im Verlauf der Lektüre der zwanzig Gespräche Gemeinsamkeiten auftauchen und das Faszinosum Volksbühne aus der Binnenperspektive erkennbar wird.

Der Anspruch auf Exterritorialität, den das Haus erhob, seitdem es 1992 von Frank Castorf übernommen wurde, scheint schon im Titel des Bandes auf, wobei "Festung Volksbühne" oder "Inselkönigreich Volksbühne" deutlich besser passen würden. Es geht nicht nur um den Theaterapparat, sondern um ein Territorium, das man abgrenzen und verteidigen muss, weil hier alternative Existenzformen möglich sind, vor allem für Schauspieler. Castorf: "Der Punkt ist, über das Spiel in einen besonderen Zustand zu kommen." Hendrik Arnst geht es darum, auf der Bühne "einen Sog zu erzeugen, der die Dinge in Bewegung bringt, der sie schnell macht und der so zwingend ist, dass man als Spieler wie in einem Rausch damit umgehen kann. Das ist wie ein Jimi-Hendrix-Solo." Alexander Scheer: "Hier setzen sich Menschen aufs Spiel. Das ist Selbstgefährdung. Man kann das finden, wie man will, aber man muss sich hier überwinden, auch als Zuschauer. " Bert Neumann, der 2015 verstorbene Bühnenbildner, begriff das subventionierte deutsche Theatermodell als Verpflichtung, nicht dem Publikum, sondern der eigenen Arbeit gegenüber: "Angesichts dessen ist es eine Pflicht, dass man sich als Künstler viele Freiheiten nimmt, wenn man so ein Instrument in die Hand bekommt." Vermutlich meint René Pollesch es nicht viel anders, wenn er sagt: "Wenn du oben signalisierst, du bist für die unten da, dann hast du verloren. Das Ding der Volksbühne war immer, dass sie es auf keinen Fall für die unten machen, denn dann haben die Zuschauer die Macht. Es geht nicht gegen das Publikum. Es geht darum, nicht zu vermitteln." Castorf sieht die Möglichkeiten zur Vermittlung ohnehin stark geschwunden und spricht von einem "simulierten Lebensgefühl, wo man mit Schichten, mit denen man schon lange nichts mehr zu tun hat, versucht, eine Übereinstimmung zu finden."

Noch einmal der abgeklärte Henry Hübchen: "Demokratie im Theater ist zerstörerisch. Nur Diktaturen überleben. Die ,Republik Castorf' ist eine Diktatur, versunken oder schwimmend in Anarchie." Es war Anarchie in gesicherten Verhältnissen, Partisanentum bis zur Pensionsgrenze. Es war ein kleines Nachwende-Wunder aus Wut und Wehleidigkeit. Es hatte seine Zeit.

HUBERT SPIEGEL.

"Republik Castorf". Die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz seit 1992.

Hrsg. von Frank Raddatz. Alexander Verlag, Berlin 2016. 376 S., Abb., br., 18,- [Euro].

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