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Niemals aufgeben: ein Buch voller zweiter Chancen
Alleinerziehende Mütter, Alkoholikerinnen auf Entzug, Haushaltshilfen, Krankenschwestern und Sekretärinnen - Lucia Berlin erzählt von unterprivilegierten Frauen, die um ein besseres Leben kämpfen. In Waschsalons, Cafés und Restaurants, Krankenhäusern und Arztpraxen zeigen sich die kleinen Wunder des Lebens oder entwickeln sich herzzerreißende Tragödien, denen die Autorin mal mit abgründigem Humor, dann wieder voller Melancholie, aber stets mit ergreifender Empathie auf den Grund geht.
Unsentimental und unaufgeregt erkundet Lucia Berlin
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Produktbeschreibung
Niemals aufgeben: ein Buch voller zweiter Chancen

Alleinerziehende Mütter, Alkoholikerinnen auf Entzug, Haushaltshilfen, Krankenschwestern und Sekretärinnen - Lucia Berlin erzählt von unterprivilegierten Frauen, die um ein besseres Leben kämpfen. In Waschsalons, Cafés und Restaurants, Krankenhäusern und Arztpraxen zeigen sich die kleinen Wunder des Lebens oder entwickeln sich herzzerreißende Tragödien, denen die Autorin mal mit abgründigem Humor, dann wieder voller Melancholie, aber stets mit ergreifender Empathie auf den Grund geht.

Unsentimental und unaufgeregt erkundet Lucia Berlin die Warteräume des Lebens und richtet ihren Blick nicht nur auf die schmutzigen Winkel, sondern auch auf die Sonnenstrahlen mitten im prosaischen Alltag.
Autorenporträt
Lucia Berlin wurde 1936 in Alaska geboren und starb 2004 in Marina del Rey. Die Tochter eines Bergbauingenieurs zog schon als Kind mit ihrer Familie von Minenstadt zu Minenstadt auf dem amerikanischen Kontinent. Nach der Scheidung der Eltern wächst sie bei ihrer alkoholsüchtigen Mutter auf. Lucia Berlin führt auch als Erwachsene ein ruheloses Leben: Sie lebt in New York, Mexiko, Kalifornien. Sie trinkt, lässt sich dreimal scheiden, zieht ihre vier Söhne allein groß, indem sie sich als Krankenschwester, Putzfrau, Leherein, Telefonistin durchschlägt. Ihre Erzählungen entstanden in den 1960er bis 1980er Jahren, sie wurden in Zeitschriften und später in drei Erzählungsbänden veröffentlicht. Von 1994 bis 2000 war Lucia Berlin Dozentin an der Universität von Boulder, Colorado.
Rezensionen
Lucia Berlin erzählt in 'Was ich sonst noch verpasst habe' von bewegenden Frauen-Schicksalen. Freundin 20171018

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Christopher Schmidt hat viel übrig für Lucia Berlin, die schmutzige Schwester von Doris Day, wie er schreibt, und für ihre autofiktionalen, grausam pointierten und verdichteten Geschichten aus der Hölle des alkohol- und drogenkranken Prekariats, der Erniedrigten und Beleidigten, die sich an Flaubert und Tschechow anlehnen und an John Williams. "Präzise Feuerstöße aus dem Pandämonium der Deklassierten", lobt er. Die von Antje Ravic Strubel besorgte Auswahl einer Auswahl ihrer Storys bedenkt der Rezensent daher mit besonderer Aufmerksamkeit - und einer Kritik an der Einordnung der Autorin durch die Herausgeberin als "urwüchsig". Auch die chronologische Anordnung der Texte erscheint Schmidt irreführend, da sie eine vermeintliche Naturhaftigkeit von Berlins Schreibens konstruiert, die es nicht gibt, wie er findet. Die Herausgeberin als Kurator der Texte ist ein Konzept, das laut Rezensent nicht immer aufgeht. An Ravic Strubels Übersetzung hat Schmidt aber nur wenig auszusetzen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2016

Was, wenn die Körper durchsichtig wären?

Zu Lebzeiten war die amerikanische Autorin Lucia Berlin nahezu unbekannt. Jetzt ist sie mit ihren aufregenden Stories "Was ich sonst noch verpasst habe" auf Deutsch zu entdecken.

Ruhelos war das Leben der amerikanischen Autorin Lucia Berlin von Beginn an. 1936 als Tochter eines Bergbauingenieurs geboren, zog die Familie den Arbeitsstätten des Vaters hinterher, in die Minenfelder Alaskas und den Mittleren Westen, nach Idaho, Kentucky und El Paso. Die Rastlosigkeit legte sie auch als Erwachsene nicht ab und ebenso wenig den prekären Status. Denn auch wenn zwischenzeitlich Geld vorhanden war, folgten die Abstürze verlässlich. Dann schlug sich Lucia Berlin mit schlechtbezahlten Jobs als Telefonistin, Putzfrau oder Hilfslehrerin durch. Als sie zweiunddreißig war, hatte sie bereits dreimal geheiratet und vier Söhne, die sie allein aufzog. Und außerdem ein handfestes Alkoholproblem.

Dieses aufreibende Leben ist der Stoff, aus dem Lucia Berlin ihre Geschichten destilliert. Lange vor der neuerlichen Begeisterung für die Autofiktionen von Schriftstellern wie Karl-Ove Knausgård oder Tomas Espedal mischte sie, die zu Lebzeiten nur wenigen Insidern bekannt war, Erfundenes mit autobiographischem Material. Man muss ihre Lebensgeschichte nicht kennen, um sich diese Prosa zu schätzen. Aber es belegt, was Hemingway einst gesagt haben soll: dass man gelebt haben muss, um schreiben zu können.

Lucia Berlin konnte schreiben, und wie. Ihre Stories sind atemberaubend, intensiv, gegenwärtig und voller verblüffender Wendungen. Auf drei Seiten bündeln sie den ganzen Schmerz einer Existenz und sind dabei zugleich von einem unbändigen Hunger auf das Leben getrieben. Zwölf Jahre nach ihrem Tod ist Lucia Berlin nun auch auf Deutsch zu entdecken: "Was ich sonst noch verpasst habe" heißt der Band, der dreißig ihrer Stories versammelt. Die Übersetzerin Antje Rávic Strubel hat für dieses quer durch alle Klassen und Slangs mäandernde Amerikanisch überzeugende Entsprechungen gefunden.

Wovon Lucia Berlin erzählt, kennt sie genau. Es sind die düsteren Seiten des amerikanischen Borderline-Lebens, Geschichten vom Umherwandern, Alkoholmissbrauch und dysfunktionalen Beziehungen. Sie beobachtet und schreibt, ohne sich an den Krisen zu weiden. "Ich mag Diane Arbus nicht", heißt es über die Fotografin mit den schonungslosen Porträts amerikanischer Randfiguren in einer Geschichte. "Als ich Kind war, gab es in Texas Freak-Shows, und schon damals hasste ich die Leute, die mit Fingern auf die Missgebildeten zeigten und über sie lachten. Aber ich war auch fasziniert." Die Autorin, die als Kind an Sklerose erkrankte und ein eisernes Korsett tragen musste, war selbst oft genug Opfer von Hänseleien. Und Einsamkeit ist eine Konstante ihrer Geschichten, und doch schimmert ein rettender Witz immer durch.

Dann wieder wird es urplötzlich brutal. Da werden in einem Satz alle vorherigen Gewissheiten über Bord geworfen. "Stille" erzählt von dem Mädchen, das vor der Langeweile von El Paso zu ihrem Onkel flieht. Er ist der Einzige, der sich um das vernachlässigte Kind kümmert. Er macht ihr Puffweizen mit Milch, während er Bourbon trinkt. Und manchmal nimmt er sie mit in seinem Lastwagen. Bei einer dieser Touren fährt er einen Jungen und dessen Hund an. "Halt an", kreischt das Mädchen, doch der Onkel fährt weiter. Erst Jahre später, lautet der letzte Satz, weiß sie, warum: "Denn mittlerweile war ich selbst eine Alkoholikerin."

In einer anderen Geschichte plagt sich eine junge Frau auf dem Weg zu einem Familienfest mit der Frage, ob sie abtreiben soll oder nicht. Sie denkt, schlimmer könne es nicht kommen, bis sie erfährt, dass sich ihre Mutter soeben die Pulsadern aufgeschnitten hat: "Na ja, nicht schlimm", sagt man ihr: "Sie hat einen Abschiedsbrief geschrieben, in dem steht, dass du ihr Leben ruiniert hast. Unterschrieben mit Bloody Mary!". Es ist diese seltsame Mischung aus Erbarmungslosigkeit und eruptivem Witz, die sich durch diese Prosa zieht. "Ich arbeite gern in der Notaufnahme - jedenfalls lernt man dort Männer kennen", kann so eine Geschichte beginnen. An den Röntgenaufnahmen von Jockeys hat die Erzählerin die meiste Freude: Sie brechen sich so häufig die Knochen, "ihre Skelette sehen aus wie Bäume".

Die meist weiblichen Protagonisten entstammen der Arbeitswelt, sie sind Krankenschwestern, Putzfrauen oder Hilfslehrerinnen. Sie verdienen wenig und finden kaum Beachtung, dafür haben sie ihre eigenen Weisheiten: "Je schwerer die Krankheit der Patienten ist, umso weniger Lärm machen sie", weiß eine Krankenhausmitarbeiterin in "Temps Perdu". Deshalb überhört sie Rufe der Patienten durch die Sprechanlage. Gleichgültigkeit ist ihre Waffe gegen das Leiden. "Bekämpfe es, merze es aus. Ignoriere es, wenn es sein muss", meint sie, aber ermutige niemals Patienten, ihr Kranksein zu mögen. Und dann kommt der Stationsschwester beim Anblick des Kolostomiebeutels am Bett eines Patienten plötzlich ein hinreißender Gedanke: "Was, wenn unsere Körper durchsichtig wären, ausgestattet mit einem Fenster wie Waschmaschinen?" Dann könnte man, räsoniert sie, sich selbst zuschauen, wie das Blut und die Körpersäfte durch den Organismus fließen.

Mit Transparenz hat auch die Literatur von Lucia Berlin etwas zu tun. Denn sie macht aus ihren Geschichten kein Geheimnis. Ihre Sprache ist direkt, durchdringend, und sie kommt ohne formale Spielereien aus. Trotzdem ist ihr Zugang zur Welt kein journalistischer, sondern die Texte, die mal eine halbe Seite lang sind oder mehrere Dutzend, sind eigenwillig und poetisch arrangiert. Sie beginnen ansatzlos und ohne den Kontext näher zu erläutern, bisweilen taumeln sie regelrecht durch die Zeit. Einfache Antworten, moralische Gewissheiten hat Lucia Berlin nicht zu bieten. Wer in "Mijito" über eine illegal in Oakland lebende Mexikanerin, deren Kind stirbt, am Ende die Schuld trägt, ist nicht ausgemacht. Alle sind hier überfordert, die Ärzte, die zu übermüdet sind, um die Anzeichen von Gewalt zu erkennen. Die Mutter, die in ihrer Gastfamilie selbst ein Missbrauchsopfer wird, nachdem ihr Mann ins Gefängnis kommt. Losgesagt von der Schuld wird niemand am Tod des kleinen Jesus.

Unter den vielen Leben, die Lucia Berlin führte, zieht sich ihre Alkoholsucht durch viele Stories. "Unbeherrschbar" erzählt auf fünf atemlosen Seiten von einer Mutter, die noch in der Nacht, ehe ihre Söhne aufwachen, versucht, an Alkohol zu kommen. Der Fußweg zum nächsten Laden dauert eine Dreiviertelstunde. "Sie wünschte sich, sie hätte einen Hund zum Gassiführen", um nicht aufzufallen. Sie schafft es, gerade so, aber die Kinder müssen trotzdem mit nassen Socken in die Schule gehen.

Die Geschichten stehen zwar für sich, aber es ist ratsam, sie nacheinander zu lesen, denn das Auftauchen bestimmter Personen und Orte folgt einer inneren Logik. Lucia Berlin, schrieb anlässlich eines frühen Bandes einmal ein amerikanischer Kritiker, sei eines "der bestgehüteten Geheimnisse Amerikas". Damit ist es nun endgültig vorbei.

SANDRA KEGEL

Lucia Berlin: "Was ich sonst noch verpasst habe". Stories.

Aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel. Arche Verlag, Hamburg 2016. 382 S. geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2016

Mrs.
Misfit
Comeback aus dem Nirgendwo:
Zwölf Jahre nach ihrem Tod ist Lucia Berlin,
die große Unbekannte der
amerikanischen Literatur, endlich
zu entdecken – mit einer Auswahl ihrer
besten Geschichten
Lucia Berlin in „Point of View“
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Wer war diese hochgewachsene Frau, die ein bisschen aussah wie Liz Taylor, eine southern belle, stets elegant, aber mit einem Flachmann in der Clutch, eine Sechzigerjahre-Erscheinung in Kostüm oder Twinset wie für die Serie „Mad Men“ gecastet, auch wenn sie nur zum nächsten Liquor Store schlurfte, zum Waschsalon oder zurück zum Trailerpark? Eine Frau, die in ihrem Leben durchschnittlich alle neun Monate umgezogen ist, von Montana nach Texas, von Texas nach Chile, von Chile nach New Mexico, von dort weiter nach New York City und wieder zurück in den Süden: nach Kalifornien, Mexiko, Arizona und Colorado und zuletzt wieder nach Kalifornien. Die ganz allein vier Söhne großzog, obwohl sie drei Mal verheiratet war, sich als Putzfrau durchschlug, als Nachtschwester, Hilfslehrerin, Telefonistin und Arzthelferin. Die dem Alkohol verfiel, die Sucht besiegte, um ihr erneut zu erliegen. Die abstürzte und immer wieder aufstand. Und die nebenher Geschichten schrieb, wüste Geschichten von leuchtender Dunkelheit, Geschichten einer Frau, die eine Heilerin sein wollte in einer heillosen Welt. 76 dieser Geschichten veröffentlichte sie bis zu ihrem Tod an ihrem 68. Geburtstag im November 2004. In den Achtzigerjahren erschienen sie in drei Bänden und dann noch einmal, ergänzt um weitere Arbeiten, in den Neunzigern.
  Zeitlebens hatte Lucia Berlin nur einen kleinen Kreis von Lesern. Bis im vergangenen Jahr 43 ihrer Geschichten unter dem Titel „A Manual for Cleaning Women“ bei Farrar, Straus and Giroux erschienen, zum Bestseller wurden und ihren Rang bestätigten als eine der besten Autorinnen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Elf Jahre über ihren Tod hinaus hatte dieser Durchbruch auf sich warten lassen, keine literarische Wiederauferstehung, sondern ein Comeback aus dem Nirgendwo, ein posthumes, zweites Debüt.
Nun ist der Band auf Deutsch verfügbar, genauer gesagt eine Auswahl der Auswahl. 30 Geschichten umfasst die von Antje Rávic Strubel übersetzte Ausgabe „Was ich sonst noch verpasst habe“.   
  Lucia Berlin schrieb über das, was sie nur zu gut kannte: über vernachlässigte Kinder und zerrüttete Ehen, über Krankheit, Alter und Tod. Sie schrieb über ein Schulmädchen, das zur Verräterin wird, als sie eine kommunistische Lehrerin denunziert. Oder über einen alten Apachenhäuptling, der nur noch über einen Waschsalon herrscht, ein lebender Totempfahl der domestizierten Freiheit. Oder über eine schwangere Drogenkurierin, die ihr Baby verliert, weil sie den Stoff in ihrem Unterleib transportiert. Lucia Berlin fand ihre Geschichten an den Hintertüren des amerikanischen Traums, sie war eine Desillusionistin, wie Richard Yates oder John Williams Desillusionisten waren, und eine Mimose aus Stahl, die ihr Schreibideal einmal so beschrieb: „Keine Gefühle zeigen. Nicht weinen. Lass niemanden an dich ran.“ Aber ohne alle Elendsbukolik oder Larmoyanz. Ihre Geschichten sind keine Prekariats-Pornografie, sondern präzise Feuerstöße aus dem Pandämonium der Deklassierten.
  Lucia Berlin zu lesen ist manchmal, als müsste man Diamanten essen. Ihre Geschichten bestehen aus hochverdichteter Wirklichkeit und sind so geschliffen, dass man daran innerlich verbluten kann – so wie die Autorin selbst, die ein entgleisendes Leben mit einer Fassung trug, als sähe sie nur aus der Ferne einem Unfall zu, obwohl sie zugleich dessen Opfer ist. Am scharfkantigsten an ihrem Schreiben aber ist ihr schneidender Humor. In einer Geschichte beispielsweise muss der Vater mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden. Darauf sagt die Mutter: „Könnt ihr unterwegs anhalten und ein paar Bananen kaufen?“ In einer anderen hat eine junge, illegal eingewanderte Mexikanerin ihr Baby zu Tode geschüttelt, damit es aufhört zu schreien, sonst wären beide aus dem Obdachlosenheim geflogen. Als sie erfährt, dass das Kind tot ist, sagt sie bloß: „Fuck a duck.“ Denn das ist eine der Floskeln, die sie in den USA aufgeschnappt hat. Diese Pointe ist so grausam, dass es einen schier zerreißt. In einer der kürzesten Geschichten „Mein Jockey“ arbeitet die Ich-Erzählerin in der Notaufnahme, und sie tut es gern, weil man dort Männer kennenlernt: „Echte Männer, Helden, Feuerwehrmänner und Jockeys.“ Besonders die Jockeys haben es ihr angetan, weil sie so klein und zierlich sind und weil sie sich ständig die Knochen brechen, weshalb es von ihnen „wundervolle Röntgenaufnahmen“ gibt. „Ihre Skelette sahen aus wie Bäume, wie rekonstruierte Brontosaurier. Wie der heilige Sebastian.“ Einer dieser Jockeys, der bewusstlos eingeliefert wird, erinnert sie an die „Miniatur eines Aztekengotts“, als sie ihn entkleidet, „ein verzauberter Prinz“ mit dem prachtvoll zerbrochenen Körper einer antiken Statuette. Und als sie ihn zum Röntgen bringen soll und er sich nicht auf die Bahre legen will, da „trug ich ihn über den Flur, wie King Kong“. Mit dem Vergleich spielt Lucia Berlin auf ihre eigene Körpergröße an, „Bohnenstange“ riefen ihr die Kinder in der Schule nach. „Ich war sicher, wenn sie (die Ärzte) meine Wirbelsäule richten würden, wäre ich zweieinhalb Meter groß“, heißt es in „Nach Hause finden“ einmal. Seit ihrer Jugend litt Lucia Berlin an einer Skoliose, einer krankhaften Verkrümmung der Wirbelsäule, die sie zeitlebens zwang, ein Stahlkorsett zu tragen. In ihren letzten Lebensjahren brauchte sie stets eine Sauerstoffflasche in ihrer Nähe.
  Lucia Berlin, die so tief im Bergwerk der amerikanischen Seele schürfte, wird 1936 als Tochter eines Bergbauingenieurs in Alaska geboren. Die Familie folgt dem Vater in die Minenstädte von Idaho, Kentucky und Montana; als er 1941 eingezogen wird, lebt Lucia mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester in El Paso, wo der Großvater als Zahnarzt praktiziert. An den Fenstern steht in riesigen goldenen Lettern „Dr. H. A. Moynihan. Ich arbeite nicht für Neger.“ An einem Sonntagmorgen, erzählt sie in einer Geschichte, nimmt der Großvater sie mit in die Praxis. Das Mädchen soll ihm zur Hand gehen, wenn er sich, nur mit Bourbon betäubt, sämtliche Zähne zieht. In das noch wunde Zahnfleisch setzt er das vorbereitete künstliche Duplikat seines Gebisses ein und fletscht die falschen Zähne zu einem „Bela-Lugosi-Lächeln“. Eine grausig-komische Kastrationsszene ist das und doch kein Sieg über das Monster, das seine Enkelin und deren jüngere Schwester sexuell missbraucht.  
  Nach dem Krieg und der Rückkehr des Vaters übersiedelt man nach Santiago de Chile, nippt für kurze Zeit am Kelch des mondänen Lebens. Lucia heiratet früh, noch während des Studiums bekommt sie zwei Söhne, und sie beginnt zu schreiben. Mit 34 Jahren steht sie als Alleinerziehende mit vier Kindern und drei gescheiterten Ehen da. Es folgen ruhelose Jahre. Lucia Berlin zieht von einem Ort zum anderen, von einem Aushilfsjob zum nächsten. Von 1994 an unterrichtet sie kreatives Schreiben an der Universität von Colorado in Boulder. Drei Jahre vor ihrem Tod gibt sie diese Tätigkeit wegen ihrer schlechter werdenden Gesundheit auf und geht erneut nach Kalifornien, um in der Nähe ihrer Söhne zu sein. Sie wohnt dort bis zu ihrem Tod in einer umgebauten Garage.
  Die vielen Umzüge hängen auch damit zusammen, dass Lucia Berlin wegen ihres Alkoholproblems immer wieder ihre Arbeit und ihr Ansehen verliert. Eine Geschichte handelt von einer Frau, die nachts nicht in den Schlaf findet, weil sie weiß, ohne Alkohol wird sie nicht durchhalten bis zum Morgen, wenn sie funktionieren und ihre Söhne auf den Weg zur Schule bringen muss. „In der tiefen, dunklen Nacht der Seele sind die Spirituosenläden und die Bars geschlossen“, so beginnt diese Geschichte. Also kramt sie ihre letzten vier Dollar zusammen, Geld, das sie nach dem letzten Entzug überall im Haus versteckt hat. Der Bottle Shop in Berkeley öffnet erst um sieben Uhr, bleibt nur der weite Weg zu Fuß zum Uptown-Laden, der schon um sechs aufmacht. Dort warten bereits die anderen Alkis im Morgengrauen und überbrücken die letzten zittrigen Minuten mit Hustensaft, dem blauen Tod, wie er genannt wird. Ein alter Mann lächelt sie an: „Was ist, Mama, ist dir schlecht? Tun dir die Haare weh?“ – An diesem Morgen müssen die Söhne mit nassen Socken zur Schule gehen. Ihre Mutter war nicht rechtzeitig zurück, um den Wäschetrockner anzuwerfen.
  Die Alkoholkrankheit ist Teil der täglichen Normalität, so wie der schlimmste anzunehmende Zustand immer der Normalzustand ist bei Lucia Berlin. Am prononciertesten kommt diese Gleichzeitigkeit in der Titelgeschichte der amerikanischen Ausgabe zum Ausdruck. Dort geht es um eine Frau, die als Putzhilfe in den tagsüber verwaisten Häusern von Suburbia zur Spurenleserin der schleichenden Entfremdung in den Ehen und Familien wird. Sie klaut, wie so viele andere Putzfrauen auch, aber sie klaut keine Perlenohrringe oder Silberlöffel, sie klaut sich eine tödliche Dosis Schlaftabletten zusammen. Denn bei ihren Reflexionen über das verwüstete Leben in aufgeräumten Häusern läuft immer die Trauer um den geliebten Mann mit, der vor Kurzem gestorben ist. „Was wirst du nur ohne mich machen, Maggie?“, hatte er sie wieder und wieder gefragt. Darauf sie: „Makramee, du Drecksack.“ Die tragische Wucht trifft einen hier wie ein Handkantenschlag, aber die Wirkung kommt gerade durch den lässigen Ton zustande, diese lapidare Lockenwickler-Lakonie, mit der Lucia Berlin die Totenklage camoufliert. Und durch viele Beobachtungsdetails, die Erinnerungen wachrufen und die Fülle eines Lebens heraufbeschwören, das für die Erzählerin jeden Sinn verloren hat. Wenn sie kündigt, das hat sie sich geschworen, dann will sie alle Stecker der Digitaluhren herausziehen. Denn für sie ist die Zeit bereits stehen geblieben, als ihr Mann starb.
  Man sagt bei solchen Geschichten gerne, dass sie das Leben schreibt. Aber das Leben schreibt keine Geschichten, kaum ein anderer Autor zeigt das so deutlich wie Lucia Berlin, deren Geschichten wie pure Osmose wirken. Doch damit der Soundtrack des Lebens vernehmbar wird, bedarf es der scheinbar kunstlosen Kunst einer großen Erzählerin. In „Point of View“ erläutert sie, warum manche Geschichten als Ich-Erzählung nicht funktionieren. Eine Geschichte beispielsweise über eine alleinstehende Frau Ende fünfzig, die mit dem Bus zur Arbeit fährt und jeden Samstag ihre Wäsche macht, die also „all diese zwanghaften, obsessiv langweiligen Details im Leben dieser Frau“ ausbreite, funktioniere nur, wenn sie in der dritten Person geschrieben ist. Erst die auktoriale Erzählhaltung verleihe der Geschichte Gewicht, denn: „Der Leser denkt: Zur Hölle, wenn der Erzähler meint, dass etwas an dieser traurigen Kreatur es wert ist, darüber zu schreiben, dann muss es wohl so sein.“
  Es ist nahezu unverzeihlich, dass dieser Text, in dem Lucia Berlin Auskunft gibt über ihr Schreiben, genauso wenig in die deutsche Ausgabe aufgenommen wurde wie das erhellende Vorwort von Lydia David, die eng mit ihr befreundet war. Denn Berlins Schreiben war eben nicht „unbehauen“ und „urwüchsig“, wie Antje Rável Strubel in ihrem Vorwort behauptet. Berlin war vielmehr eine überaus selbstreflektierte, formbewusste und skrupulöse Autorin. Über Raymond Carver, mit dem sie ebenso oft verglichen wird wie mit Renata Adler oder Joan Didion, schrieb sie einmal, sie habe seine Geschichten gemocht, „bevor er ausnüchterte & den Schluss seiner Texte versüßte“. Und in einer Geschichte, die in Mexiko spielt, übersetzt die Hauptfigur in Gedanken ein Gedicht aus dem Spanischen. Doch wie die letzte Zeile heißen muss, fällt ihr erst ein, als ein Muscheltaucher ertrinkt: „Und so kehrt alles Blut / an den Ort seines inneren Friedens zurück“. Das Gedicht bildet die Klammer der Erzählung, aber Kunst, so die implizite Aussage, gelingt erst, wenn das Leben den Worten Atem einhaucht. Und manchmal bedarf es des schwarzen Kairos eines Unglücks, um die richtigen Worte zu finden.
  Lucia Berlins eigene Vorbilder waren Flaubert und Tschechow. Und auf Proust bezog sie sich, als sie in „B. F. und ich“, ihrer letzten Geschichte, schrieb: „Seine Ausdünstungen waren für mich wie eine Madeleine.“ Ausdünstungen, nicht der Duft von Gebäck und Lindenblütentee in einem Pariser Salon. Das ist der Unterschied. Denn es geht hier um einen verfetteten, alten Fliesenleger mit Schnapsfahne, der ins Haus kommt und von dem es heißt: „Ich mochte ihn sofort.“ Denn: „Üble Gerüche können nett sein.“
  Die Geschichten von Lucia Berlin sind autofiktional, aber sie sind deshalb nicht unmittelbar autobiografisch. Manchmal wird jedoch gesagt, sie seien Teile eines Ganzen, ein Roman in Splittern. Diesen Eindruck unterstützt auch die deutsche Ausgabe, indem sie die Geschichten so anordnet, als ergäben sie die fortlaufende Chronologie eines Frauenlebens von der Jugend bis zum Alter. Dadurch wird eine scheinbare Authentizität des Schreibens konstruiert, die im Grunde die schöpferische Leistung der Autorin herabsetzt und so tut, als wäre alles nur aus ihr herausgeflossen. Zudem ist es irreführend für den Leser, der verleitet wird, nach einem stärkeren inneren Zusammenhang der einzelnen Geschichten untereinander zu suchen, als es ihn tatsächlich gibt. Das Beispiel zeigt, dass es nicht immer von Vorteil ist, wenn der Übersetzer zugleich das Vorwort schreibt und sozusagen zum Kurator wird. In diesem Fall zwingt die gewählte Abfolge den Korpus der Geschichten in das Korsett eines künstlichen Narrativs.
  Die Übersetzung dagegen schmiegt sich so eng ans Original, wie das dem starren Fachwerk des deutschen Satzbaus möglich ist. Nur kleine Ungenauigkeiten sind zu bemängeln: „round swing“ wird einmal mit „Schaukel“ übersetzt, gemeint ist aber ein Karussell. Und wenn eine Krankenschwester den diensthabenden Arzt ruft, wäre „anpiepen“ gewiss verständlicher und einfacher als „anpagen“. Ebenso ist ein „charity case“ eher ein „Sozialfall“ als „ein Fall für die Nächstenliebe“, und „pussywillows“ sind eindeutig Weidenkätzchen, nicht „Kätzchenweiden“. Die Ordenstracht der Nonnen, den Habit, übersetzt Antje Rávic Strubel im Plural originellerweise mehrmals mit „Habitate“ statt mit „Habite“.  
  Lucia Berlin war so etwas wie die ungewaschene Schwester von Doris Day, eine Hausfrau der Hölle, wenn man so will, die mitten durchs Fegefeuer flanierte. Eine Schutzflehende der Sozialfälle und eine schreibende Kümmermutter schon auch. Bleiben aber wird sie als ungekrönte Gypsy Queen der kleinen literarischen Form. Rückblickend schrieb Lucia Berlin einmal: „Wie oft war ich in meinem Leben gewissermaßen auf der hinteren Veranda statt auf der vorderen?“ Mit so schlichten Worten kann man ein ganzes Leben zusammenfassen – ein Leben, unter dessen Veranda direkt der Abgrund lauerte.
             
Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe.
Stories. Aus dem Englischen von Antje Rávic Strubel. Arche Verlag, Zürich 2016. 384 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Das Leben schreibt keine
Geschichten. Dazu bedarf es
der Kunst des Erzählens
Der Leser denkt:
Zur Hölle,
wenn der Erzähler meint,
dass etwas an dieser
traurigen Kreatur es wert ist,
darüber zu schreiben,
dann muss es wohl so sein.“
Bleiben wird Lucia Berlin
als ungekrönte Gypsy Queen
der kleinen Form
Heilerin einer
heillosen Welt mit den
Mitteln der Literatur:
Lucia Berlin in den
Sechzigerjahren.
Foto: Buddy Berlin, Literary Estate of Lucia Berlin
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