Produktdetails
  • Verlag: Dielmann
  • Seitenzahl: 224
  • Erscheinungstermin: 13. Juni 2008
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 344g
  • ISBN-13: 9783866380042
  • ISBN-10: 3866380046
  • Artikelnr.: 23844316
Autorenporträt
Alban Nikolai Herbst, geboren 1955 in Refrath, studierte Philosophie und arbeitete als Broker. Er erhielt den Grimmelshausen-Preis, 1998 einen Jahresaufenthaltin der Deutschen Akademie Villa Massimo Rom, 1999 den Phantastik-Preis. 2007 wurde Herbst auf die Poetik-Dozentur der Universität Heidelberg berufen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.10.2017

Worte, Wunden
Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht: Alban Nikolai Herbsts
Roman „Meere“ gibt es jetzt in der lange verbotenen Originalfassung
VON ANDREAS ZIELCKE
Vierzehn Jahre lang war der Roman „Meere“ von Alban Nikolai Herbst verboten, seit Kurzem ist er wieder erhältlich. Damals, 2003, hatte eine Frau gegen die Verbreitung geklagt, sie sah durch den Roman ihr Persönlichkeitsrecht verletzt. Nach dem gerichtlichen Verbot einigte man sich zwar darauf, dass eine vom Autor abgeänderte Fassung, die keine Rückschlüsse mehr auf sie erlaubt, publiziert werden darf. Doch erst jetzt kann, mit ihrem Einverständnis, „endlich wieder die Wuchtigkeit der Originalausgabe gelesen werden“. So die Literaturagentin des Autors. Ihre Genugtuung dürften nicht wenige Leser teilen.
Wodurch der Sinneswandel der Klägerin ausgelöst wurde, wissen wir nicht. In der langen Zeit „sind wohl“, vermutet Herbst jetzt selbst, „sehr viel Verwundungen geheilt“. Gab es also diese „vielen Verwundungen“, dann wurde, so muss man schließen, das Persönlichkeitsrecht der Frau tatsächlich verletzt. Dafür sind allerdings zwei Ebenen der Verwundung zu unterscheiden. Im Roman selbst wird geschildert, wie sich zwei Liebesbesessene sadomasochistisch ineinander verkeilen, um dann doch bei allem rauschhaften Dauersex und Dauerclinch unter großen seelischen Schmerzen wie in einer emotionalen Zentrifuge wieder auseinanderzufliegen.
Wären diese Rasereien bloße literarische Fantasien, wären auch die Verwundungen nur virtuell. Außerhalb des Buchs täten sie niemandem weh, schon gar nicht bräuchte es anderthalb Jahrzehnte, um sie zu heilen. Offenbar hat sich also der Liebeskampf, der auf den Buchseiten ausgetragen wird, zumindest in Teilen real so oder so ähnlich abgespielt. Und weil das Buch kein privates Tagebuchprotokoll ist, sondern aller Welt zur Lektüre geboten wurde, kam zu den Wunden, die man sich gegenseitig schlug („gegenseitig“ ist hier euphemistisch, der Berserker ist vor allem der Mann, der Ich-Berichterstatter im Buch), kam also für die Frau noch die weitere Verwundung hinzu, sich unfreiwillig aus dem Intimraum dieser Lust- und Unlustorgie an die Öffentlichkeit gezerrt zu sehen. Die Analogie zu heimlichen Nacktaufnahmen, die ins Netz gestellt werden, liegt nicht fern. In der Tat lenkt das Buch den Leserblick mit unnachsichtiger Brennschärfe wieder und wieder auf die sexuellen Praktiken und intimsten Körperregionen der Frau. Der radikalen Entblößung in dem Roman lässt sich durchaus eine expressive und dramaturgische Funktion zuschreiben, das ändert aber nichts an der öffentlichen Bloßstellung der „echten“ Frau.
Jeder Fall, in dem künstlerische Freiheit dem Persönlichkeitsrecht weichen muss, wird auf absehbare Zeit das Zeug zum Skandal haben, jedenfalls aus Sicht der Künstler. Das hat zumindest deshalb sein Gutes, weil es Richter erst recht dazu nötigt, ein Kunstverbot nur im extremen Ausnahmefall zu erwägen und juristisch so skrupulös wie möglich zu begründen. Bei Herbsts „Meere“ allerdings schien es unschwer gewesen zu sein, die elementare Bedingung einer solchen Ausnahme nachzuweisen. Offenkundig war die Klägerin in ihrem sozialen Umfeld durch alle literarische Verfremdung des Romans hindurch als abgebildete Person problemlos zu erkennen. Akzeptiert man dies, dann wurde sie unbestreitbar entwürdigt. Es zählt geradezu zu den Lehrbeispielen schwerer Persönlichkeitsverletzung, wenn die Intimsphäre ohne den Willen der (identifizierbaren) Betroffenen einem Publikum zur Schau gestellt wird.
Alban Nikolai Herbst versichert, er habe, als er den Roman schrieb, nicht im Geringsten daran gedacht, damit seine ehemalige Geliebte zu demütigen. Paradoxerweise kann ihm das jeder abnehmen, der das Buch gelesen hat. Auch wenn das ästhetische Temperament des Schreibstils bei Weitem nicht an den Furor herankommt, von dem das Buch handelt (schon, weil im Rückblick Resignation und Selbstmitleid den wilden Gestus dämpfen), kann von einer literarisch abgekühlten Vergangenheitsbewältigung keine Rede sein. Wenn der Autor nur einen Funken von seinem Alter Ego hat, den er als rabiaten Künstleregomanen und erbärmlichen Realitätsverweigerer zeichnet, dann könnte ihm tatsächlich wie seinem fingierten Protagonisten entgangen sein, was er der Frau eigentlich antut: Dass sein Buch eine weitere Form von Besitzergreifung ist, an der nun auch noch der Leser-Voyeur teilhat.
Da Herbst wahrscheinlich der Vorsatz fehlte, unterscheidet sich sein Buch von Maxim Billers Roman „Esra“, der im selben Jahr wie „Meere“ gerichtlich untersagt wurde, weil auch er sexuelle Intimitäten der erkennbaren Ex-Geliebten preisgab. Doch Biller kokettiert in seinem Buch selbst damit, sich über den Willen der Frau hinwegzusetzen: „Esra hat von Anfang an zu mir gesagt, ich dürfe nie etwas über sie schreiben … Ich will dir nicht meine Brüste zeigen und später irgendwo lesen, dass ich dir meine Brüste gezeigt habe“; ich fand diese „Panik fast unangenehm kleinbürgerlich“. Einen als kleinbürgerlich deklarierten Willen braucht ein Künstler, heißt das wohl, nicht zu respektieren.
Herbst räumte dagegen stets ein, dass „hier zwei Grundrechte, an die ich beide glaube, miteinander kollidieren, nämlich das Persönlichkeitsrecht und das Kunstrecht“. Allerdings hat auch er das Verbot seines Buches nie akzeptiert, weil ihm nicht einleuchtet, dass es den Gerichten schon reicht, wenn die im Kunstwerk abgebildete Person für ihr soziales Umfeld zu erkennen ist. Seiner Ansicht sollte der Schutz nur für „öffentliche Personen“ gelten. Aber warum sollten private Personen in ihrem Stadtviertel, ihrer Firma, ihrer Lebenswelt keinen Schutz vor Entblößung genießen? Der Spießrutenlauf der Scham kann an der nächsten Ecke beginnen.
Noch immer geistert durch viele Kommentare das wütende Argument, mit dem das Verbot von biografischen Kunstwerken ad absurdum geführt werden soll: „Nach den Kriterien, die jetzt gegen Biller und Herbst vorgebracht werden, ließe sich spielend die Hälfte der deutschen Literatur von Goethes ‚Werther‘ bis Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘ verbieten.“ So wie es damals, 2003, in der Taz stand, wird es heute im Brustton der Empörung überall wiederholt, vor Kurzem mit demselben Wortlaut im Deutschlandfunk.
Das Argument führt nichts ad absurdum, es ist selber absurd. Weder gab es zu jenen Zeiten bereits einen konstitutionellen Begriff oder gar Schutz der Menschenwürde oder gar die Idee des Persönlichkeitsrechts – sie ist in Deutschland eine Schöpfung der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Noch wäre allein die Tatsache, dass in jenen berühmten Werken reale Personen erkennbar waren, ein (heutiger) Verbotsgrund. Hinzukommen müsste in jedem Fall eine unzumutbare Verletzung ihrer Persönlichkeit. Worin bestünde die bei Goethes oder Manns Romanen? Darüber wäre zu streiten.
Gerade Deutschland hat sich lange schwer damit getan, einen spezifischen Rechtsschutz der Persönlichkeit zu entwerfen, im Gegensatz etwa zu Frankreich, das schon im napoleonischen Code Civil ein Recht auf das „vie privée“ einführte. Noch fast hundert Jahre danach, bei der Schaffung des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches an der Wende zum 20. Jahrhundert, lehnte man den Gedanken ab, da er angeblich auf ein unziemliches „Eigentum an der eigenen Person“ hinausliefe.
Heute muss sich die Kunst, mag ihr absolutistisches Selbstverständnis noch so starke immanente Gründe haben, wohl oder übel mit der ihr immer noch unvertrauten Idee anfreunden, dass Menschen, die ihr als „Vorlage“ dienen, ihren eigenen Anspruch auf persönliche Achtung dagegenhalten dürfen. Und wie man an der wechselhaften Geschichte von Herbsts „Meere“ sieht, können Kunstwerke, die das ignorieren, sogar zum Spielball der abgebildeten Person werden. Ohne Weiteres kann diese Person ein Kunstwerk auf Dauer verboten halten oder aber mit einem Federstrich wieder öffentlich aufleben lassen. Wer das als bloße Willkür sieht, macht es sich zu leicht. Man nennt es Selbstbestimmung.
Alban Nikolai Herbst: Meere. Roman, Marebuchverlag, Hamburg 2017. 264 Seiten, 22 Euro.
Der Autor versichert, er habe beim
Schreiben nicht vorgehabt, seine
ehemalige Geliebte zu demütigen
Der Spießrutenlauf der Scham
kann an der nächsten Ecke,
im Nahbereich beginnen
Die Kunst muss damit rechnen,
dass sie ein starkes Gegenüber
hat: die Selbstbestimmung
Steckt Dynamit in dem, was ich schreibe? Der Absolutismus der Kunst gilt nicht unbeschränkt.
Foto:  Alfred SchuesslER
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