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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
„Lauter Leben“, das neu erschienene Debüt von Bachmann-Preisträgerin
Helga Schubert, skizziert Biografien in der deutschen Diktatur
VON RENATUS DECKERT
Als Helga Schubert vor zwei Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, war das ein Triumph, der ihr Glückwünsche, Lobeshymnen und ein unentwegt klingelndes Telefon bescherte. Für den Literaturbetrieb war es ein Armutszeugnis: Wie konnte es sein, dass diese Autorin, deren Erzählung „Vom Aufstehen“ Jury und Publikum gleichermaßen verzauberte, zwanzig Jahre lang für die Schublade hatte schreiben müssen? Warum hatte kein Verlag sich für sie interessiert?
Helga Schubert war kein unbeschriebenes Blatt, sondern eine gestandene Autorin von gut einem Dutzend Büchern, von denen die meisten zu DDR-Zeiten, einige auch im wiedervereinigten Deutschland erschienen waren. An Wertschätzung durch andere Autoren mangelte es nicht: Sarah Kirsch schrieb ein preisendes Nachwort zu ihrem ersten Buch, Günter Kunert empfahl sie bereits 1980 für das Wettlesen in Klagenfurt – die Ausreise wurde ihr damals jedoch verwehrt.
Das Missverhältnis zwischen ihrem literarischen Rang und der Ignoranz durch den Literaturbetrieb wurde noch augenfälliger, als im vergangenen Jahr der Band „Vom Aufstehen“ erschien. Außer der Titelerzählung über das Leben und Sterben ihrer vom Krieg traumatisierten Mutter enthielt er zwei Dutzend Texte aus den letzten Jahren. Geschichten, wie man sie lange nicht gelesen hat: autobiografisch grundiert, voller Lebenserfahrung und Zartsinn, von einer beiläufigen Poesie.
Dass sie keinen Roman vorlegte, sondern einen Band mit Erzählungen (von Verlegern gern als „Kassengift“ geschmäht), erwies sich nicht als Nachteil. „Vom Aufstehen“ verkaufte sich zweihunderttausend Mal. Bei einer Lesung in Berlin hat Helga Schubert vergnügt erzählt, wie sich nach dem Bachmann-Preis die Verlage um sie rissen und sie erst unterschrieb, als ihr versprochen wurde, ihre früheren Bücher wiederaufzulegen. So kommt es, dass jetzt wieder in den Buchhandlungen zu finden ist, was man bis vor Kurzem noch im Antiquariat suchen musste.
Als Erstes wurden zwei Bände neu veröffentlicht, die sich Schuberts Interesse an den Mechanismen der Diktatur verdanken. „Die Welt da drinnen“ erzählt von den 1941 als „lebensunwert“ ermordeten Patienten der Schweriner Nervenklinik, „Judasfrauen“ von Denunziantinnen im Dritten Reich. Es sind Bücher, die einem an die Nieren gehen durch die Genauigkeit der Schilderung und den sachlichen Ton, der das Ungeheuerliche für sich sprechen lässt. Beide waren erstmals nach dem Mauerfall erschienen. In der DDR wären sie kaum gedruckt worden: Kein Leser im Osten hätte die beschriebenen Erfahrungen in einer, wie die Autorin es nennt, „geschlossenen Gesellschaft“ nur auf die Nazizeit bezogen.
Unter ganz anderen Voraussetzungen entstand Helga Schuberts erstes Buch, der jetzt neu aufgelegte Erzählungsband „Lauter Leben“ (1975). In einem Debüt auf so direkte Weise der Macht den Spiegel vorzuhalten, wäre aussichtslos gewesen, wie zur gleichen Zeit Hans Joachim Schädlich erleben musste, dessen Erstling „Versuchte Nähe“ in der DDR nicht erscheinen durfte. Bei ihrem zweiten Buch erging es Schubert nicht anders: Die Druckgenehmigung wurde verweigert; man forderte sie auf, mit dem Schreiben aufzuhören.
Das heißt nicht, dass „Lauter Leben“ in irgendeiner Weise staatstragend wäre. Im Gegenteil: Von sozialistischer Herrlichkeit ist in diesen Geschichten nichts zu entdecken, in ihrem Zentrum stehen die Außenseiter der Gesellschaft. Das fängt schon mit der ersten Erzählung „Meine alleinstehenden Freundinnen“ an, bei deren Lektüre man an die früheren Bewohner der Hinterhäuser von Prenzlauer Berg denkt und Gesichter vor Augen hat, wie man sie von den Fotografien von Helga Paris kennt.
Auch Schuberts andere Protagonisten dürften wohl eher kein Parteibuch besessen haben: Der Friseur, der sich den Kopf darüber zerbricht, wie sein Freund die DDR-Grenzer überlisten und das schon dreimal konfiszierte Buch in den Osten schmuggeln könnte. Oder Anna, die als polnische Partisanin mit SS-Offizieren flirtete, um sie in einen Hinterhalt zu locken – und der man nach dem Einmarsch der Roten Armee als vermeintlicher Verräterin die Zähne ausschlug.
Ein glänzendes Beispiel für Schuberts Fähigkeit, mit wenigen Strichen ein Leben zu skizzieren, mit seinen Schlüsselmomenten und seinen Bruchstellen, ist die Erzählung „Der Schimmel“. Ein vor Einsamkeit redseliger Alter, dem nichts geblieben ist als ein Ölgemälde mit einem Pferd, erzählt von seiner Arbeit als Schlachter, seiner Ehe, vom Krieg und schließlich von dem Schimmel, bei dessen Tod ihm, wie er sich erinnert, Tränen „wie Enteneier“ aus den Augen liefen.
Längst ist die beschriebene Welt dahin, aber noch 50 Jahre später sind diese Porträts von einer ergreifenden Lebendigkeit. Man spürt deutlich die Empathie der Autorin gegenüber ihren Figuren. Eine Empathie, die sofort verschwindet, wenn ihr das Imponiergehabe der Diktatur in den Blick gerät. Einen propagandistischen Aufmarsch betrachtet sie so distanziert, als würde sie durch ein Fernrohr schauen. Erst als der Zug ins Stocken gerät und die Marionetten menschliche Züge annehmen, erwacht ihr Interesse.
Auch für die im Sozialismus allgegenwärtige Normierung hat sie nur Spott übrig. Die Schilderung eines staatlich organisierten Urlaubs, ironisch als „Schöne Reise“ betitelt, klingt dann zum Beispiel so: „Die Damen gingen alle in langen weißen Hosen und die Herren in kurzen weißen Hosen. Eine lange Reihe, aber wir brauchten uns nicht anzufassen.“
Helga Schubert war in ihren Dreißigern, als sie diese Geschichten schrieb, und der Reiz der Lektüre liegt auch darin, ihr zuzusehen, wie sie sich an verschiedenen Arten des Erzählens versucht. Der „Unmöglichen Geschichte“ mit ihren hochkomplizierten Paarkonstellationen glaubt man anzumerken, dass die Autorin als Psychotherapeutin tätig war. Und die rhythmische Prosa von „Vogelschreien“ erinnert daran, dass sie mit Gedichten begann.
Ein Blick in die Ausgabe aus dem Jahr 1975 zeigt, dass sie der Versuchung widerstanden hat, wegzulassen oder umzuschreiben. Es ist diese Redlichkeit, mit der Helga Schubert in allen ihren Büchern auf die Vergangenheit blickt.
Für die im Sozialismus
allgegenwärtige Normierung
hat sie nur Spott übrig
Geschlossene Gesellschaft: Straßenverkauf in Ost-Berlin 1976.
Foto: Leber/Imago
Helga Schubert:
Lauter Leben. Erzählungen. dtv, München 2022.
176 Seiten, 12 Euro.
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