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Am Anfang steht der Tod. Jemand versinkt zwischen geborstenen Eisschollen und eine Leiche baumelt von der Decke eines Theaters. Die Todesfälle liegen Jahrzehnte auseinander, doch es ist der gleiche Todestag: der 16. Januar. Im Winter 1912 ertrank Georg Heym beim Schlittschuhlaufen, 1995 werden die Novizen einer elitären Schauspielschule im gerade wiedervereinten Berlin auf sein verrätseltes Faust-Fragment angesetzt. Angestachelt von ihrem Professor verstricken sie sich immer tiefer in den Gedankenlabyrinthen des genialischen Dichters. Der psychologische Druck steigt, Konkurrenz entflammt, Wahn…mehr

Produktbeschreibung
Am Anfang steht der Tod. Jemand versinkt zwischen geborstenen Eisschollen und eine Leiche baumelt von der Decke eines Theaters. Die Todesfälle liegen Jahrzehnte auseinander, doch es ist der gleiche Todestag: der 16. Januar. Im Winter 1912 ertrank Georg Heym beim Schlittschuhlaufen, 1995 werden die Novizen einer elitären Schauspielschule im gerade wiedervereinten Berlin auf sein verrätseltes Faust-Fragment angesetzt. Angestachelt von ihrem Professor verstricken sie sich immer tiefer in den Gedankenlabyrinthen des genialischen Dichters. Der psychologische Druck steigt, Konkurrenz entflammt, Wahn und Wirklichkeit beginnen zu verschwimmen. Dann wird ein Toter auf der Probebühne der Schule gefunden. War es Mord, Selbstmord - oder doch ein Teufelspakt?
Autorenporträt
Christiane Neudecker, geb. 1974, studierte Theaterregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und lebt als freie Schriftstellerin und Diplom-Regisseurin in Berlin. Seit 2001 arbeitet sie mit dem Künstlerkollektiv phase7 zusammen, u.a. am Forum Neues Musiktheater, bei den Internationalen Festspielen Bergen oder dem New Vision Arts Festival Hongkong. Für die Deutsche Oper Berlin verfasste sie das Libretto zu »Himmelsmechanik - eine Entortung«. Christiane Neudecker wurde für ihre Romane und Kurzgeschichten mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, stand auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und erhielt ein begeistertes Presseecho. Zuletzt erschien der Roman »Der Gott der Stadt«.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019

Georg Heym
als Idol
Christine Neudeckers dritter
Roman „Der Gott der Stadt“
Wirkt Kunst ansteckend? Kann man sich an ihr den Tod holen? In Christiane Neudeckers Roman „Der Gott der Stadt“ scheint das Dämonische eines Werks auf den Künstler überzugreifen. Fünf Regie-studenten im Berlin der Neunzigerjahre treibt die Frage um, wie man wohl das Genie in sich weckt. Als Projektionsfläche dient ihnen der expressionistische Dichter Georg Heym, dessen Faust-Fragment aus dem Jahr 1911 sie auf die Bühne bringen sollen. Das ist die Aufgabenstellung für ihr erstes Semester, an dessen Ende eine Leiche an einem Strick von der Decke der Studiobühne baumelt.
Der Roman beginnt mit zwei Todesfällen, deren enge Verbindung nach und nach aufgedeckt wird. Da ist nicht nur der Tote im Zuschauerraum. Auch der Tod des Dichters Georg Heym war tragisch: Seine Skizze für eine Bühnenfassung des „Faust“ schrieb er wenige Monate, bevor er im Januar 1912 beim Schlittschuhlaufen in der Havel ertrank. Obwohl er nur 24 Jahre alt wurde, gilt er als einer der wichtigsten Lyriker des literarischen Expressionismus. Ein Genie eben.
Die Hauptfigur im dritten Roman der 197e geborenen Schriftstellerin Christiane Neudecker, ist die Regiestudentin Katharina Nachtrab. Die junge Frau beginnt, zusammen mit vier Kommilitonen, an einer renommierten Regieschule im wiedervereinigten Berlin zu studieren. „Der Gott der Stadt“ ist – und hier liegt erzählerisch seine größte Stärke – ein Hauptstadt-Roman der jungen Post-Wendezeit. Er zeigt die zerrissene und zusammengeklebte Stadt als Labyrinth, durch das sich die Protagonistin kämpft. Aus der bayerischen Provinz kommend gerät Katharina immer wieder in Situationen, in denen sie sich als Wessi empfindet, einen Teil ihrer Identität spürt, über den sie bislang nie nachdenken musste.
Neudecker, gebürtige Fränkin, die selbst Ende der Neunziger an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin Regie studierte, arbeitet im Roman stark autobiografisch und inszeniert eine fließende Grenze zwischen Biografie und Fiktion. An eben dieser Grenze bewegt sich die tragende Frage des Romans, die die fünf Jungregisseure umkreisen: „Wie kann man (…) zum Genie werden?“ Gehört das Geniale zur Veranlagung, kann man es erlernen oder entsteht es erst durch eine besonders schwierige Biografie? Georg Heym hatte eine solche, stellt die Erzählerin fest: „Ihn verstand niemand. (…) Das machte ihn fremd. Hinzu kam, dass er nicht blieb, nirgends. Er wechselte von Schule zu Schule zu Schule. Im Vergleich zu mir stünde es für Heym 1:0.“
So naiv dieser Vergleich aus Katharinas Mund, so stringent zieht sich Heyms Geschichte als Ebene der Selbst- und Fremdprojektion durch den Roman. Die Lehrer weisen die angehenden Regisseure an, die eigenen Dämonen kennenzulernen, sie sollen „das Teuflische ergründen“. Ein kitschiges Bild vom Künstler wird an dieser Schule heraufbeschworen und den Erstsemestern eingetrichtert: Der Beruf des Regisseurs, erklärt der vergötterte Lehrer Brandner, ist „nicht einfach irgendeine Arbeit“, sondern „eine Berufung, die nur von wahrhaft Berufenen ausgeführt werden kann“.
Mehr Pathos, mehr Geniekult geht nicht. Und manchmal ist es beim Lesen kaum erträglich, dass die Protagonistin in ihrer Naivität dieses Narrativ nicht wenigstens einmal in Frage stellt. Stattdessen tun sie und ihre Mitstudenten alles dafür, sich vom Wahn des Genies ergreifen zu lassen: der eine mit Drogen, der andere, indem er sich Satanisten anschließt, und Katharina, indem sie sich in die Recherche nach der Bedeutung von Heyms kryptischem Faust-Text stürzt. Sie wollen Heym nah sein. Sich in sein Werk versenken, um es zu verstehen.
Es scheint nur subtil auf, aber Neudeckers Roman kommentiert in dieser Verklärung des Genialischen und der Identifikation von Künstler und Werk auch ein Phänomen unserer Zeit: den übervorsichtigen Umgang mit Kunst, als sei diese hochansteckend. Nicht nur an US-Universitäten rufen Studierende nach Triggerwarnungen, die sie vor dem unmittelbaren Zugriff allzu expliziter Werke schützen sollen. Etwa vor Ovids Metamorphosen. Die Tate Modern in London warnte jüngst in einer Ausstellung über den Expressionismus der Weimarer Republik, einige der Werke könnten Betrachter erschüttern. Als wäre dies ein Sonderfall. „Der Gott der Stadt“ erzählt davon, was es heißt, mit einem Werk verschmelzen zu wollen. Und entlarvt diesen Wunsch als ebenso naiv wie die Angst vor Ansteckung. Kunst verlangt beides: das Versenken und das Begreifen.
KARIN JANKER
Nur subtil wird auch der
übervorsichtige Umgang mit
Kunst kommentiert
Christiane Neudecker: Der Gott der Stadt. Roman. Luchterhand Verlag, München 2019. 667 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2019

Die Fleischerfaust des Genies

"Der Gott der Stadt": Christiane Neudeckers Künstler-, Wende- und Berlin-Roman um Georg Heym

Breitbeinig mit blutrotem Bauch wie Baal hockt der Gott der Stadt auf dem Häusermeer, "streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust" und entfesselt den Feuersturm. Georg Heym sah in seinem Gedicht "Der Gott der Stadt" 1910 die Menschheitsdämmerung voraus; dass er 1912, im Alter von gerade mal 24 Jahren, beim Schlittschuhlaufen auf der Havel ertrank, machte ihn vollends zum Mythos. Das Eis war zu dünn. Heym, der Frühvollendete, wagte sich bis an die Abbruchkante vor, dort, wo es nicht mehr trug und expressionistisch zersplitterte.

Korbinian Brandner, DDR-Theaterlegende und Professor an der berühmten Theaterakademie Erwin Piscator (Christiane Neudecker studierte selber in den Neunzigern an der Ernst-Busch-Schauspielschule Regie), sieht in Heym ein Genie, wie es sein soll: finster, kraftvoll, rätselhaft, kompromisslos. Seine Regieschüler aus dem Westen hält Brandner für deutlich weniger begabt: keine Ahnung, kein Mumm, keine Idee. "Künstler müssen sich aussetzen, mein Junge", doziert der Meister. "Stelle dich deinen Dämonen." Aber François, der sensible, dickliche, nette Franzose, fühlt sich einsam in Berlin und will lieber Baumkuchen im Café essen als aufs Eis oder gar aufs Ganze gehen. Die schöne Nele stammt aus reichem Haus, hat schon ein Kind und einen Freund aus DDR-Schauspieleradel. Katharina Nachtrab, ein Selbstporträt der Autorin als Regiestudentin, ist der Gegenentwurf zur Überfliegerin: provinziell, naiv, unsicher, aber immerhin auch neugierig und ehrgeizig. Schwarz fährt auf Drogen, Raves und Horrorfilme ab; Splattermovies und Pop sagen ihm mehr zu als der elitäre Kulturscheiß von Schiller bis Heiner Müller. Tadeusz verbindet ein dunkles Familiengeheimnis mit seinem Onkel Korbinian: Als IM Puntila trieb der Nationalpreisträger Tadeusz' Vater in den Selbstmord.

Brandner, das Möchtegern-Genie aus der Heiner-Müller-Schule, stellt seinen Schülern eine Prüfungsaufgabe, an der sie eigentlich nur scheitern können: Sie sollen das nur bruchstückhaft überlieferte Faust-Fragment Heyms erstmals inszenieren, aus kryptischen Kritzeleien wie "Diebe leuchten im Dunkeln" oder "die Schwarzen als Ringkämpfer" eine Welturaufführung erschaffen, die Dramaturgen und Kritiker zufrieden stellt. Die Zurüstungen für die Premiere und die Gruppendynamik der Klasse füllen einen guten Teil der siebenhundert Seiten des Romans. Neudecker kann sehr lebendig und spannend (wenn auch nicht ganz so leicht und lustig wie Joachim Meyerhoff) aus dem Innern einer Schauspielschule erzählen: Konkurrenz und Solidarität, kleine Affären, Prüfungsstress, Selbstzweifel, existentielle Krisen.

Manchmal wird es allerdings ein wenig zu episch und pathetisch. Neudecker lässt sich ausführlich über Technik und okkulte Aspekte der Teufelsmaskenbildnerei aus, und wenn Katharina auf fünfzig Seiten in den Archiven der Vor-Wikipedia-Zeit herauszufinden versucht, was Heym mit der rätselhaften Regieanweisung "Spiritistische Sitzung. Die Geister des ermordeten Winter in Konitz" meinte, gerät es zu einer akademischen Schnitzeljagd à la Dan Brown: Die bestialische Ermordung des Studenten Winter rief im Jahr 1900 Amateurkriminologen und antisemitische Verschwörungstheoretiker aus dem ganzen Reich auf den Plan. Und manchmal wird es dann doch zu schicksalhaft: So hängt sich der überforderte Kuchenesser François just am 16. Januar 1996 auf der Bühne der Schauspielschule auf, genau 84 Jahre nach Heyms Tod, am Tag von Heiner Müllers Beisetzung.

Dabei gehört die schicksalhafte Verquickung von Heym und seinen Epigonen zu den Stärken von Neudeckers drittem Roman. Anfangs belauern sich die fünf unter dem strengen Regiment Brandners misstrauisch und eifersüchtig. Aber dann lernen sie die Schwächen ihres Dämons kennen und gewinnen an Selbstbewusstsein, kreativer Autonomie, Gruppenidentität. Am Ende sind die "Discipuli Piscatorum" zwar keine Genies, aber doch eine verschworene Gemeinschaft begabter Regisseure. Ihr Idol verkaufte seine Künstlerseele an die Stasi, aber alle haben auf ihre Weise einen Teufelspakt geschlossen, alle bewegen sich auf glattem, dünnem Eis. François in seiner Verzweiflung ließ sich auf Séancen mit einer Satanisten-Gruppe auf dem Friedhof ein; die gemeinsame Reise zu seiner Beerdigung in die Provence schmiedet die Piscator-Schüler noch einmal zusammen.

"Der Gott der Stadt" ist Heym-Hommage, Faust-Überschreibung, Künstler- und Bildungsroman und Autobiographie, aber vor allem ist es ein Berlin-Roman. Brandner setzt seine ungelehrigen Schüler mit großen Fragen unter Druck: Wie kann man heute noch ein Genie werden? Und: "Wie weit geht man für die Kunst?" Das ist anachronistisch und fast so naiv wie Katharinas alte Laienspielgruppe "Die Musenjunkies", aber immerhin sind Neudeckers Regieschüler konkret in Zeit und Raum verortet. Der Gott der Stadt lebt in den Köpfen von "Heyms Armee" weiter, im Berlin der Nachwendezeit, als noch alles möglich schien. Es war eine winterlich kalte, harte Zeit, nicht jeder war ihr gewachsen. Aber alle Wege führten ins Offene: Die in der Luft hängenden Brücken, die verwaisten Schwimmbäder, die dunklen Hinterhöfe, der Wasserturm am Prenzlauer Berg, die Mauerreste waren, auch für Neudecker selbst, Spielplätze und Zukunftsversprechen und nicht bloß Ruinen der Vergangenheit. Sie beschwört den Dämon Berlin, das Genie Heym, die Bestie mit dem mephistophelischen Grinsen und der drohend gereckten Fleischerfaust vielleicht ein wenig zu brav. Aber der Roman ist trotz einiger Schwächen und Längen ihr bislang persönlichster und zweifellos bester.

MARTIN HALTER

Christiane Neudecker:

"Der Gott der Stadt".

Roman.

Luchterhand Literaturverlag, München 2019. 670 S., geb., 24,- [Euro].

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»So viel Lesevergnügen bei so viel stofflicher und gedanklicher Tiefe hat man selten.« Olaf Przybilla / Süddeutsche Zeitung