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»Ein gescheites Buch gegen das Vergessen. Brandaktuell.« Der Bund, Bern
Dieter Wellershoff macht im Frühjahr 1994 eine Kur in Bad Reichenhall, wo er als verwundeter Soldat den letzten Kriegswinter im Lazarett verbrachte. Diese Wiederbegegnung mit der Vergangenheit, ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wird für ihn zum Auslöser einer Rückschau: Er führt sich noch einmal vor Augen, wie er als 17- bis 19jähriger Soldat, der sich freiwillig gemeldet hatte, die letzten beiden Kriegsjahre erlebte und überlebte.
Sein Erinnerungsprozeß führt ihn zurück ins besetzte
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Produktbeschreibung
»Ein gescheites Buch gegen das Vergessen. Brandaktuell.« Der Bund, Bern

Dieter Wellershoff macht im Frühjahr 1994 eine Kur in Bad Reichenhall, wo er als verwundeter Soldat den letzten Kriegswinter im Lazarett verbrachte. Diese Wiederbegegnung mit der Vergangenheit, ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wird für ihn zum Auslöser einer Rückschau: Er führt sich noch einmal vor Augen, wie er als 17- bis 19jähriger Soldat, der sich freiwillig gemeldet hatte, die letzten beiden Kriegsjahre erlebte und überlebte.

Sein Erinnerungsprozeß führt ihn zurück ins besetzte Holland, von dort nach Berlin, schließlich an die Ostfront, wo er verwundet wird und dem Untergang seiner Kompanie gerade noch entkommt. Lazarettaufenthalte in Oberschlesien und eben Bad Reichenhall folgen, dann noch einmal die letzte deutsche Frontstellung an der Oder im Frühjahr 1945 und die Flucht nach Westen in amerikanische Gefangenschaft. Den äußeren Schauplätzen des Krieges steht die Gedanken- und Gefühlswelt eines jungen Menschen gegenüber, der befremdliche und erschütternde Erfahrungen macht, die er mit großer Aufmerksamkeit und unsentimentaler Genauigkeit registriert.

So entsteht ein außergewöhnliches Kriegsbuch mit doppeltem Blick - aus unmittelbarem Erleben und Reflexion, Überwältigung und historischem Überblick.
Autorenporträt
Dieter Wellershoff, geboren am 3. November 1925 in Neuss, starb am 15. Juni 2018 in Köln. Er schrieb Romane, Novellen, Erzählungen, Essays und autobiographische Bücher, z.B. 'Der Ernstfall', 1995, über seine Erfahrungen im 2. Weltkrieg. Wellershoff hielt poetologische Vorlesungen an in- und ausländischen Universitäten, zuletzt in Frankfurt a.M. Er erhielt u.a. den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den Heinrich-Böll-Preis, den Hölderlin-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik. Übersetzungen erschienen in bisher 15 Sprachen. Das Werk von Dieter Wellershoff ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.1995

Die Welt, ein Stolperfeld
Auch Dieter Wellershoff erinnert sich an das Kriegsende

Mitunter fallen historische Gedenktage und biographische Zäsuren zusammen, in diesem Jahr entspricht deren Koinzidenz allen Erwartungen. So erinnert sich Dieter Wellershoff, Kölner Schriftsteller und Heinrich-Böll-Preisträger, der 1995 siebzig Jahre alt wird, rechtzeitig zum 8. Mai seiner Kriegszeit 1944/45 und läßt die Leser fünfzig Jahre später wissen, wie er die Welt des zerbrechenden Nazi-Reichs erlebt hat. Entstanden ist ein Dokument deutscher Ahnungslosigkeit.

Mit siebzehn Jahren meldete sich Wellershoff von der Schulbank weg freiwillig in den Krieg, nicht aus Begeisterung oder Opferbereitschaft, sondern, wie er es nennt, aus einer noch fortbestehenden patriotischen Konvention und dem jugendlichen Wunsch nach Bewährung. Der Krieg schien der Ort zu sein, um erwachsen zu werden. Zwar hatte der junge Mann heimlich BBC gehört, wußte um Stalingrad ebenso wie um die Niederlage des deutschen Afrikakorps. Aber die Besorgnis, der Stimmungsumschwung in diesen Wochen, den Walter Kempowski in Briefen und Tagebüchern ausgelotet hat, haben den jungen Dieter Wellershoff offensichtlich nicht berührt. Seine Sorge galt der Frage, zu welcher Truppe er sich melden sollte, und in Absprache mit seinem Vater, damals Major der Reserve bei einem Luftwaffenstab in Münster, wählte er die Division "Hermann Göring".

Keine schlechte Wahl, denn entgegen allen Bewährungsambitionen blieben die Soldaten des Leibregiments des Reichsmarschalls weit fern der Front in Berlin. Die Begabtesten unter ihnen einschließlich Wellershoffs durften als Laienspielgruppe sogar in Karinhall ein Stück von Rehberg zum besten geben. Nicht das Unwirkliche, wie Wellershoff schreibt, ist das Bestürzende, sondern das Unwissende. Als habe es seit 1941 nicht auch im heimatlichen Grevenbroich Menschen gegeben, die sich plötzlich mit einem gelben Stern in der Öffenlichkeit zeigen mußten, erinnert sich Wellershoff nur an eine Mitschülerin, die plötzlich fehlte, und an den Satz seiner Mutter nach dem Pogrom im November 1938: "Die arme Frau Goldstein." Der junge Mann dachte sich nichts weiter dabei, ebensowenig wie bei den Exekutionskommandos, die seine Einheit zuweilen stellen mußte. Die Teilnahme war freiwillig, und Wellershoff hat mehrmals überlegt, sich zu melden, um einmal wie die anderen zu erleben, wie es ist, jemanden zu erschießen.

Es ist diese Gefühlsdiffusion, dieses Bild eines jungen Mannes, der, ohne näher hinzuschauen oder tiefer nachzudenken, durch die Welt stolpert, das Wellershoff fünfzig Jahre später nicht schmachvoll für sich behält, was dieses Buch so schwer erträglich macht. Niemand ist zum Helden geboren, die Angst vor der ungewissen Zukunft blieb bis zum Ende bei den meisten immer noch größer als der Mut, mit dem Regime und dem Krieg Schluß zu machen. Aber es gab nur wenige, die so unbedarft und unwillig waren, den Zusammenbruch um sie herum wahrzunehmen, wie der junge Dieter Wellershoff.

Die Leere von damals versucht der alte Wellershoff heute durch Passagen zu füllen, in denen er als Geschichtslehrer die Strategien und Pläne der Großen erläutert, über Hitler, Speer, Schellenberg und den deutschen Generalstab doziert, ohne selbst jetzt jene Ehrfürchtigkeit abzulegen, die in diesem Land den Staats- und Menschenlenkern gern entgegengebracht wird. Und da Wellershoff es immer noch nicht so genau wissen will, sind diese Abschnitte häufig vom Konjunktiv, von "vielleicht", "womöglich" und "vermutlich" geprägt, wo doch der Blick in ein paar gängige Taschenbücher schon Aufklärung geboten hätte.

Ende August 1944 kommt Wellershoff an die Front, erlebt den öden, ereignislosen Stellungsalltag, der jäh unterbrochen werden kann durch den tödlichen Schuß eines Scharfschützen oder einen plötzlichen Artillerieüberfall. Die Russen sind nicht mehr als feindliche Schemen, ihre Lautsprecherpropaganda empfindet der junge Mann als Psychoterror. Ein Sinn erschließt sich ihm nicht. Statt dessen schildert er den Soldatenalltag mit einer versteckten, dennoch unüberhörbaren nachträglichen Genugtuung darüber, das alles überlebt zu haben: Granatangriffe, Schlamm in den Gräben, Läuse in den Haaren und den unvermeidlich rauhen, aber herzlichen Vorgesetzten, der hier Bulli heißt. Alles wird mit jener Sentimentalität und in jenem Jargon ausgebreitet, die diese Generation immer wieder dem Verdacht aussetzt, daß sie trotz aller Ostermärsche und Friedensgebete den Vernichtungskrieg in ihrer Erinnerung als Jugendabenteuer bewahren möchte.

Wellershoff hatte Glück, er erhielt bei einem aussichtslosen Angriff auf die russischen Stellungen einen Schuß in den Oberschenkel, konnte sich hinter die Linien retten und kam nach Bad Reichenhall ins Lazarett. Noch einmal, im März 1945, wurde er nach Osten in Marsch gesetzt, um vor Berlin Gräben gegen die Rote Armee auszuheben. Aber er geriet in eine sich bereits auflösende Wehrmacht, flüchtete wie die übrigen in dem Moment, als die russischen Panzer auftauchten, und suchte, ohne sich um das Leben anderer zu kümmern, sein eigenes zu retten. Der Krieg endete für ihn am Abend des 2. Mai südöstlich von Schwerin mit einem Sauf- und Freßgelage, auf dem alle noch einmal Nazi- und Landserlieder grölten und sich am nächsten Morgen in alliierte Gefangenschaft begaben.

Die Kapitulation als Kater ist eines der ehrlichsten Bilder in diesen Erinnerungen, die so erschreckend wenig eigene Gefühle und Gedanken erkennen lassen. Changierend zwischen Erlebnisbericht und Geschichtsbuch, bleibt die Kluft des Unverständnisses erhalten. Die Fassungslosigkeit über das "sechs Jahre dauernde Massenschlachten", die Wellershoff am Schluß seines Buches befällt, hat ihn auch beim Schreiben nie verlassen. MICHAEL WILD

Dieter Wellershoff: "Der Ernstfall". Innenansichten des Krieges. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995, 330 S., geb., 39,80 DM.

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»Ein aufrichtiges persönliches Bekenntnis von großem zeitgeschichtlichen Wert.« Berliner Zeitung