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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Wolfgang Schuller verteidigt Cicero gegen den Vorwurf der „Charakterlosigkeit“ und nimmt Anteil an seinem tragischen Schicksal
„Ich rate Ihnen, den Briefwechsel Ciceros zu lesen – das ist das Aktuellste!“ In Ernst Jüngers Tagebucheintrag vom 14. September 1943 findet sich diese pointierte Empfehlung seines französischen Schriftstellerkollegen Marcel Jouhandeau. Ungeschützt steht sie da, ohne historisch-kritisches Differenzbewusstsein, dafür voller Identifikationslust und Verlangen nach Gegenwelt. Erlebte, erlittene Jetztzeit und politische Antike in ein beziehungsreiches, sinnstiftendes Verhältnis gesetzt! Gewiss, unter bildungsbürgerlichen Voraussetzungen kein ganz unüblicher Vorgang. Aber wenn auch eine moderne historische Wissenschaft sich gemeinhin schwertut, dergleichen Verwandtschaften über eine Kluft von zweitausend Jahren anzuerkennen, enthält doch das emphatische Zitat als wahren Kern: Ciceros Sätze, seine stilistische und rhetorische Brillanz wirken über die Epochen hin, und deshalb mag es sogar scheinen, als ob sich zu einem bestimmten historischen Datum, 1943, ihre politische Sendung überhaupt erst erfüllt.
Mit anderen Worten, Cicero ist gewissermaßen noch lange nicht „austransformiert“. Das zeigt nun auch Wolfgang Schullers neue Biografie über den spätrepublikanischen Rostra-Star. Vom Buchumschlag (der die Filmposter-Ästhetik von Antike-Blockbustern wie „Alexander“ imitiert) blickt, schräg am Betrachter vorbei, mit leicht geöffnetem Mund und gekräuselter Stirn, mehr verblüfft als besorgt, der Mann, der – so suggeriert der Untertitel – den „letzten Kampf um die Republik“ geführt habe. Die berühmte trajanische Büste zeigt einen kraftvollen, leicht arrogant wirkenden Cicero, vielleicht kurz vor einem seiner gefürchteten Plädoyers oder zu Beginn einer ätzenden Rede im Senat. Heute sieht man in diesem Bild schnell allein die Physiognomie des Machtmenschen und übersieht dabei die Grübchen an Wange und Schläfen, die einen gern Lächelnden und sinnlich Empfindsamen verraten.
Schullers „Cicero“ ist eine politische Biografie. Den Autor (emeritierter Althistoriker aus Konstanz) interessiert in erster Linie der Tatmensch, nicht der philosophische Schöngeist. Eingeleitet wird mit einem knappen strukturgeschichtlichen Kapitel, das in beachtlicher Prägnanz ein Einmaleins römischer Sozial- und Verfassungsgeschichte liefert, dabei allerdings mit Nonchalance einige Male vom Staatsbegriff Gebrauch macht, obwohl der anachronistische Beiklang der modernen Kategorie „Staat“ bei der Beschreibung der römischen, politisch-sozial integrierten Bürgerschaft mittlerweile größtenteils als problematisch angesehen wird (auch in späteren Kapiteln wird res publica ohne Bedenken mit Staat übersetzt). Danach folgt der Parforceritt durch die Lebensgeschichte.
„Frühe Prägung“, „Aufstieg“, „Höhepunkt“, „Straucheln und Sturz“, „Katastrophe“ lauten die Kapitelüberschriften. So konventionell sie klingen, die Darstellung ist inspiriert. Vor allem das Kapitel zur Catilinarischen Verschwörung, die Cicero 63 v. Chr. aufdeckt – vielleicht sein größter innenpolitischer Erfolg–, liest sich spannend wie eine Enthüllungsreportage. Besonders nah kommt der Autor seinem Protagonisten immer dann, wenn er an seinem tragischen Schicksal „ohne Einschränkung“ Anteil nimmt. Voller Verzweiflung schreibt der ins Exil gezwungene Cicero an seine Frau: „Wir haben doch auch einmal gelebt und es ist uns gut gegangen“. Das ist ebenso berührend wie Schullers Schilderung von Ciceros tiefem Schmerz über den Tod seiner Tochter Tullia, der Anlass der berühmten „Trauerbriefe“ an seinen Freund Atticus ist.
Die Kurzcharakterisierungen der wichtigsten Schriften muten dagegen eher wie eine Pflichtübung an und auch die Faszination des Autors für die rein politische Geschichte ermüdet. Enttäuschend ist auch, dass die für Ciceros Geisteshaltung wahrscheinlich wichtige Begegnung mit dem rhodischen Philosophen und Geschichtsschreiber Poseidonios, überhaupt seine Funktion als intellektueller Transporteur und Vermittler zwischen Griechenland und Rom, allzu beiläufige Erwähnung findet. Es geht dem Autor vornehmlich darum, Ciceros moralisches Verhalten innerhalb der spätrepublikanischen Gemengelage zu bewerten. Seine „Anpassung“ an die jeweilige Machtsituation – von anderen als Gesinnungslosigkeit gebrandmarkt – bewertet Schuller als alternativlose „Neutralität“. In seinen theoretischen Schriften habe Cicero sich dafür deutlich als „unversöhnlicher Gegner“ der Diktatur gezeigt.
Im Großen und Ganzen sei Cicero moralisch integer gewesen, habe ein musterhaftes Verhalten in den Provinzen gezeigt, keine Neigung zu „wie auch immer gearteten erotischen Abenteuern“ gehabt (darüber würde man gern mehr wissen – hat er nicht spät noch eine junge Frau geheiratet?), sich stattdessen an landschaftlicher Schönheit erfreut und eine gesunde Portion Selbstironie und Witz gehabt: „Es war angenehm, mit ihm zusammen zu sein“.
Schuller verfällt gelegentlich ins Psychologisieren, etwa, wenn er suggeriert, durch die Beschäftigung mit philosophischen Fragen habe Cicero „seelische Erleichterung“ gewonnen. Insgesamt entspricht Schullers positives Bild dem Forschungstrend, das in Deutschland lange Zeit dominante negative Cicero-Bild von Theodor Mommsen zu revidieren. Dieser hatte Cicero als einen opportunistischen „politischen Achselträger“ bezeichnet, eine mittelmäßige „Journalistennatur“. Während man Schuller durchaus folgt, wenn er Cicero gegen den Vorwurf der „Charakterlosigkeit“ in Schutz nimmt, stockt man doch, wenn er freimütig zugibt, einen heuchlerischen Brief Ciceros an Caesar „nicht gerne zu lesen“ oder sich angesichts einer anderen liebedienerischen Textstelle wünscht, „die fragmentarische Überlieferung sei auch inhaltlich fehlerhaft“. Hier scheint der um jeden Preis idealisierende „Transformator“ allzu parteiisch.
Und so beschleicht den Leser gegen Ende der durchaus anregenden und kurzweiligen Lektüre das ungute Gefühl, dass der Autor seinen Helden Cicero mitunter um jeden Preis aufs Podest heben will. Schullers Buch regt deshalb nicht zuletzt dazu an, selbst wieder den Blick in Ciceros Schriften zu werfen, um sein Urteil neu zu bilden. Petrarca übrigens schrieb 1350 nach der Lektüre der gerade entdeckten Cicero-Briefe an einen Freund: „Als ich dies alles las, war ich bezaubert und abgestoßen zugleich.“
SIMON STRAUSS
Ein weiterer Versuch, das bei uns
dominante negative Cicero-Bild
Theodor Mommsens zu revidieren
Wolfgang Schuller: Cicero oder Der letzte Kampf um die Republik. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München. 255 Seiten,
24,95 Euro.
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