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Alle Kulturen müssen mit Ambiguität leben. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch, wie sie damit umgehen. Zweideutigkeit wird hingenommen, ja mitunter wird sie bewußt erzeugt und nimmt wichtige kulturelle Funktionen ein, etwa in Konventionen der Höflichkeit und der Diplomatie, durch Riten oder Kunstwerke. Sie kann aber auch vermieden und bekämpft werden. Kulturen unterscheiden sich also durch ihre unterschiedliche Ambiguitätstoleranz. In islamischen Kulturen ist in dieser Hinsicht während der letzten Jahrhunderte ein Wandel zu beobachten, der sich so deutlich und mit solch drastischen…mehr

Produktbeschreibung
Alle Kulturen müssen mit Ambiguität leben. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch, wie sie damit umgehen. Zweideutigkeit wird hingenommen, ja mitunter wird sie bewußt erzeugt und nimmt wichtige kulturelle Funktionen ein, etwa in Konventionen der Höflichkeit und der Diplomatie, durch Riten oder Kunstwerke. Sie kann aber auch vermieden und bekämpft werden. Kulturen unterscheiden sich also durch ihre unterschiedliche Ambiguitätstoleranz. In islamischen Kulturen ist in dieser Hinsicht während der letzten Jahrhunderte ein Wandel zu beobachten, der sich so deutlich und mit solch drastischen Konsequenzen kaum anderswo zeigt: von einer relativ großen Toleranz hin zu einer bisweilen extremen Intoleranz gegenüber allen Phänomenen von Vieldeutigkeit und Pluralität. Während zum Beispiel im 14. Jahrhundert die Varianten des Korantexts und die Vielzahl an Auslegungsmöglichkeiten als Bereicherung galten, ist dies heute vielen Muslimen ein Ärgernis.Die Erforschung des Umgangs mit kultureller Ambiguität ist ein Gegenstand der Mentalitätsgeschichte. Verläßt man den eurozentrischen Blickwinkel und stellt Denken, Fühlen und Handeln der Menschen in den Mittelpunkt des Interesses, kommt man zu einer alternativen, nicht teleologisch gefärbten Geschichtserzählung. Daher ist auch der Untertitel des Buches - "Eine andere Geschichte des Islams" - mehrdeutig, ambig, zu lesen. Nicht eine andere "Geschichte des Islams" soll erzählt werden, sondern vielmehr eine "andere Geschichte" des Islams, in der aber auch einige scheinbar selbstverständliche Bestandteile der eigenen Kultur in Frage gestellt werden. Diese Sicht macht dieses Buch so interessant und wichtig.
Autorenporträt
Thomas Bauer, geboren 1961, seit 2000 Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2007 Vorstandsmitglied im Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster. 2002-2006 Direktor des »Centrums für Religiöse Studien« der Universität Münster. 2006-2007 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Mentalitätsgeschichte der arabisch-islamischen Welt, klassische arabische Literatur.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.09.2011

Der Weg zur einen Wahrheit
Thomas Bauer über die „Kultur der Ambiguität“ im Islam
Stimmt die Behauptung, dass im Islam Staat und Religion nie ordentlich getrennt worden seien? Ist die islamische Kultur sexfeindlich? Ist der Koran so eindeutig, wie es Islamisten und Islamgegner suggerieren? In seinem bahnbrechenden Großessay über die „Kultur der Ambiguität“ misst Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft in Münster, diese und zahlreiche andere Fragen unserer Islamdebatten an den kulturellen Errungenschaften der klassischen arabischen Kultur – eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Doch wenn sie dieses Buch nach über 400 Seiten aus der Hand legen, wissen Laie und Fachmann gleichermaßen, dass sie etwas Derartiges kaum je gelesen haben. Und sie wissen dann auch, warum.
Je von Ibn Nubata gehört? Der lebte von 1287–1366, war einer der bekanntesten Dichter seiner Zeit und als Sohn eines Hadithgelehrten auch in religiösen Fragen bewandert. Anfang des 14. Jahrhunderts wurde er Hofdichter des Fürsten von Hamah in Syrien, verfasste zahlreiche Lobgedichte und für dessen Sohn auch einen Herrscherratgeber. Thomas Bauer liest diese Schriften und ihm fällt auf: Darin steht nichts über Gott, Religion, Frömmigkeit oder die Verbreitung des Islams. Selbst als der junge Fürst überraschend zum Frömmler wurde (und die Regierungsgeschäfte schleifen ließ) tauchen in den Gedichten auf ihn außer ein paar religiösen Anspielungen keinerlei religiöse Ideale, Attribute oder Zielsetzungen auf. Im Ratgeber, den Ibn Nubata für ihn geschrieben hat, fehlt die Religion ebenfalls, nicht einmal der Prophet wird als Vorbild erwähnt. Und an Machiavellismus übertrifft Ibn Nubata selbst Machiavelli, womit er diesem fast 200 Jahre voraus war. Die Araber könnte man daraus schließen, hatten eine Renaissance für die Säkularisierung ihrer politischen Begriffe gar nicht nötig.
Wer war wann wie tolerant?
Ibn Nubata war keine Ausnahme. Es gab viele ähnliche Schriften, und sie waren in Manuskriptform weit verbreitet. Doch später wurden nur wenige davon gedruckt und kaum jemand interessierte sich dafür. Denn auch unter den Arabern war seit dem neunzehnten Jahrhundert das im Westen verbreitete Bild vom Niedergang der islamischen Kultur im Mittelalter weit verbreitet. Tatsächlich jedoch scheint diese Zeit von einer in der Moderne nicht mehr gewürdigten Kultur der „Ambiguität“ – also der Zwei- oder Mehrdeutigkeit – geprägt gewesen zu sein, ein Begriff, den Bauer den Kulturwissenschaften und der Psychologie entlehnt. Epochen und Kulturen, Gruppen und Individuen unterscheiden sich demnach durch ihre wechselnde Ambiguitätstoleranz oder –intoleranz: Sind wir in der Lage, die Existenz verschiedener, darunter auch gegenläufiger Wahrheiten und Diskurse zu ertragen, oder beharren wir darauf, dass die jeweilige Wahrheit oder Moral eine Monopolstellung innehat?
Anhand zahlreicher Texte aus den unterschiedlichsten Bereichen der islamischen Kultur bis ins 19. Jahrhundert belegt Bauer, dass die klassische islamische Kultur in diese Ambiguität regelrecht vernarrt war und sie herausstellte und pflegte, wo es nur möglich schien. Das galt sogar für Koranforschung und die Rechtspflege, die Bereiche also, in denen der Islam gemäß dem heute verbreiteten Bild so intolerant erscheint. Der Grund für diesen Paradigmenwechsel sieht Bauer darin, dass ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der westliche Einfluss die klassische Kultur des Islams zunehmend verdrängt hat. Der Islam, der uns heute begegnet, hat demnach mehr Gemeinsamkeiten mit dem Westen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg als mit dem eigenen kulturellen Erbe, ganz gleich ob es sich um den Reformislam oder um den Fundamentalismus handelt.
Dabei geht Bauer von der provokanten These aus, dass der westliche Mainstream bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts durch eine hohe Ambiguitätsintoleranz gekennzeichnet war, durch die Fixierung auf eine einzige, aber universelle Gültigkeit beanspruchende Wahrheit. Diesem vehementen Wahrheitsanspruch des Westens habe die ambiguitätstolerante klassische Kultur des Islams wenig entgegenzusetzen gehabt. Der Preis für ihre Modernisierung bestand daher darin, ihrerseits eine Ambiguitätsintoleranz zu entwickeln und dem Westen eine ausschließliche islamische Wahrheit entgegenzuhalten, die dem westlichem Wahrheitsmodell nachgebildet war. So hat etwa die heutige Homosexuellenfeindlichkeit in der islamischen Welt mehr Gemeinsamkeiten mit der viktorianischen Ära als mit der klassischen arabischen Kultur – abertausende Verse populärster klassischer Liebeslyrik auf schöne Jünglinge belegen dies eindrucksvoll.
Auch die modernen Islamgelehrten, gleich welcher Couleur, treten mit einem Absolutheitsanspruch auf, der einen religiös gebildeten Muslim des Mittelalters vermutlich sehr befremdet hätte. Erschreckende Beispiele dafür sind die selektiven, oft bewusst verfälschenden Darstellungen der klassischen Gelehrsamkeit durch heutige saudische Religionsgelehrte.
Bauer entlarvt nicht zuletzt die frappante Unwissenheit der Orientalistik alten Stils, nennt aber auch Gründe dafür, etwa die fehlende Edition maßgeblichen arabischen Schrifttums. Mag die Interpretation der westlichen Kultur vor Achtundsechzig als vorgehend ambiguitätsintolerant auch Widerspruch auf sich ziehen: In der Mischung aus weitgehend konsistenter Grundthese und einschlägigen Beispielen entpuppt sich dieses Buch als eine der besten Darstellungen des Islams seit langem und hat das Zeug, zu einem kulturwissenschaftlichen Klassiker zu werden, der Edward Saids „Orientalismus“ in nichts nachsteht. STEFAN WEIDNER
THOMAS BAUER: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Berlin 2011. 462 S., 32,90 Euro.
Die klassische islamische Kultur – hier eine Darstellung des Ausbrennens von Skrofeln – war noch nicht auf die eine Wahrheit fixiert. Foto: bridgemanart.com
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2011

Wie kommt der Weinpokal in die islamische Kunst?
Toleranz für verschiedene Wege: Thomas Bauer beschreibt die Spielräume muslimischer Kultur

Islamkritiker, islamische Fundamentalisten und sogar islamische Reformer haben einiges gemeinsam. Deshalb könnten sie alle von diesem Buch profitieren: Die sogenannten Islamkritiker verlegen sich in ihren Argumenten und Beispielen ebenso wie die islamischen Fundamentalisten auf eine Art der Sophisterei. Sie suchen Koranverse und Überlieferungen des Propheten hervor und reißen diese aus dem Kontext. Fundamentalisten benutzen dieses Mittel, um die Autorität des Texts in autoritärer Absicht verwenden zu können. Islamkritiker machen dasselbe, allerdings im Namen von Aufklärung und Progressivität. Nicht einmal Islamreformer handeln anders, denn auch sie geben vor zu wissen, was "der Islam" sei. Und indem die drei beschriebenen Gruppen zu wissen behaupten, was "der Islam" ist, essentialisieren sie ihn und reproduzieren das orientalistische Narrativ.

Islamkritiker und Fundamentalisten ignorieren allerdings nicht nur den Kontext, in dem die Texte entstanden sind. Sie ignorieren vor allem die Existenz alternativer Praktiken und Lebensformen. Deshalb ist Thomas Bauers Buch so erhellend. Bauer zeigt, dass früher viele Wahrheiten nebeneinander existierten. Es gab das eine und ebenso das andere: den Weinpokal und das Weinverbot, die Malerei und das Bilderverbot. Die islamische Kultur, so Bauer, zeichnete sich jahrhundertelang durch eine extrem hohe Ambiguitätstoleranz aus. Pluralität war eine Selbstverständlichkeit.

Warum es Ambiguität und Pluralität in Theorie und Praxis in der islamischen Welt jahrhundertelang geben konnte, hat mehrere Gründe. Einer ist, dass die im Westen oft formulierte Aussage, es gebe im Islam keine Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre, von der Praxis widerlegt wird. Abgesehen davon, dass wohl kaum eine Aussage darüber möglich ist, was "der Islam" eigentlich sei, denn dazu gibt es viel zu viele Erscheinungsformen des Islams, ist falsch daran die Grundannahme: "Der Islam" hat in Geschichte und Gegenwart islamischer Gesellschaften keineswegs alle Lebensbereiche durchdrungen. Wesentliche Bereiche - beispielsweise Medizin und sogar das Recht und die Herrschaft, die weltlich organisiert waren - sind in der Geschichte keineswegs vom Islam geprägt oder gar dominiert worden.

Dennoch spricht man im Westen bis heute von islamischer Medizin oder von islamischer Philosophie. Ärzte in der islamischen Welt schwören seit Jahrhunderten den Eid des Hippokrates und nicht auf den Koran, und eine spezifische Heilungslehre leiteten Ärzte muslimischen Glaubens aus dem Koran auch nicht ab. Die Philosophie des Rhazes (gest. 925) wird zwar im Seminar für Orientalistik unter dem Label islamische Philosophie studiert, doch ist sie nicht islamischer, als sagen wir die Philosophie Kants christlich ist. Sie wurde lediglich von einem Manne verfasst, der in einem Teil der Welt lebte, der mehrheitlich von Muslimen bewohnt war. Aber um zu verstehen, worauf sich seine Philosophie bezieht, ist es wichtiger, Aristoteles zu lesen als den Koran.

Bauers Buch enthält eine Fülle solcher Beispiele. Ein weiteres: Islamisiert wurde auch die Kunst. Jedweder Kultur- oder Gebrauchsgegenstand aus dem Teil der Welt, in dem mehrheitlich Muslime leben, wird heute im Westen in einem Museum für islamische Kunst dargeboten. Ein Großteil dieser Objekte stammt aber aus dem weltlichen Leben. Dennoch firmiert die Schale mit figürlichen Darstellungen ebenso wie der Weinpokal als islamische Kunst. Noch merkwürdiger ist: Wenn im Islam tatsächlich immer alle Bereiche so sehr von der Religion durchdrungen waren, wie kommen wir dann zu all diesen Gefäßen mit Abbildungen oder zu den Bildern im Isfahaner Herrscherpalast Ali Qapu oder den Weinpokalen und den Lobgedichten auf den Wein? Besteht nicht im Islam ein Bilder- und vor allem ein Alkoholverbot?

Man macht es sich zu leicht, all diese Beispiele als bloße Abweichung von der Norm abzutun und sie als marginal hinzustellen. Vielleicht, so Bauers These, war eher das die Norm, was wir als Abweichung klassifizieren, nämlich der Pluralismus, und eine allgemein akzeptierte und überall gelebte Norm gab es gar nicht.

KATAJUN AMIRPUR

Thomas Bauer: "Die Kultur der Ambiguität". Eine andere Geschichte des Islams.

Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011. 463 S., geb., 32,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Journalistin und Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur möchte Thomas Bauers Buch über muslimische Kultur allen ans Herz legen, die gern mit aus dem Kontext gerissenen Koranzitaten, sei es als Islamkritiker oder als Fundamentalisten, ihre Thesen apodiktisch zu untermauern pflegen. Der Autor zeigt darin nämlich die vielen alternativen Wahrheiten, die in der muslimischen Kultur herrschten, und belegt, dass der Islam von je her von "Ambiguität" und "Pluralismus" geprägt war. Bauer kann anhand vieler Beispiele aus der Medizin, der Philosophie oder der Kunst, aber auch nachweisen, dass es entgegen gängigen Behauptungen jahrhundertelang keine Trennung zwischen weltlicher und religiöser Sphäre gegeben hat und die Religion durchaus nicht alle Lebensräume durchdrungen hat, so die Rezensentin sehr angetan.

© Perlentaucher Medien GmbH
" ... ein hilfreiches Korrektiv, um den Islam mit seiner über tausend Jahre alten Geschichte nicht voreilig unter dem Vorzeichen eines nach Eindeutigkeit strebenden islamistischen Fundamentalismus zu betrachten. Westliche Beobachter ... sollten auszuhalten lernen, dass es 'den' Islam nicht gibt und dass Pauschalurteile über eine uns immer noch fremde Religion und Kultur weder fürs Verstehen hilfreich sind noch einem gedeihlichen Miteinander dienen."
Kurt Bangert, Freies Crhistentum Juli 2019
Die Kultur der Ambiguität ist eine exzellente Arbeit und regt zum gründlichen Umdenken an.