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Sven Hillenkamp zeigt, warum die besten Bedingungen, die Liebe je hatte, ihr zum Verhängnis werden
Vielleicht wäre es besser für uns alle, von der Liebe zu schweigen? Und womöglich bedeutet es für das moderne Gemüt einen Akt heilsamer Abstinenz, sämtlichen Büchern, die mit dem Wort „Liebe” wie mit einem klebrigen Köder nach Lesern angeln, aus dem Weg zu gehen? Wer so verfährt, erspart sich gewiss eine Menge schlauer Verlogenheit. Er entzieht sich aber auch der Ausnahme, jenem Text, der das übliche, verkaufsgeile Gesäusel meilenweit hinter sich lässt. Sven Hillenkamps langer Essay „Das Ende der Liebe” ist ein solches Buch. Wohltuend rabiat widerfährt dem Lesenden gleich mit den ersten Seiten die Einsicht, dass es sich weder um einen Ratgeber in amourösen Konflikten, noch um eines jener Bücher handelt, die ein larmoyantes Einverständnis in Sachen Liebesklage anstreben. Die Erzählstimme, die nicht „Ich” sagt, will stattdessen deutend beschreiben, was der gegenwärtige Stand jener Sache ist, für die wir trotz moderner Platzhalter wie „Sex”, „Begehren” oder „Partnerschaft” noch immer kein besseres Wort als den lippennahen Zweisilber „Liebe” besitzen.
Liebe ist bei Hillenkamp der psychische und soziale Komplex, der vor gut zweihundert Jahren als „romantische Liebe” zu seiner unverwechselbaren Gestalt fand und seitdem kontinuierlich an Geltung für das moderne Individuum gewonnen hat. Zu Beginn der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts kam es jedoch zu einer Verschärfung der gesellschaftlichen Bedingungen. Das Phänomen „Liebe” erreichte danach in rasanter Beschleunigung seinen „historischen Zenit”. Der Zuwachs an Liebesmöglichkeiten führte schließlich zu einem paradoxen Umschlag: „Die Liebe verschwindet im Zeitalter ihres historischen Triumphs.”
Kann man von der beklemmenden, der nahezu totalitären Gegenwart einer verschwundenen Sache erzählen? Ist Liebe, die zu „Nichtliebe” geworden ist, noch deskriptiv oder analytisch zu fassen? Hillenkamp gelingt es auf erstaunlich klare Weise. Er erspart uns jeden sozialhistorischen, mentalitätsgeschichtlichen oder psychotherapeutischen Jargon und operiert mit einer Handvoll allgemeinsprachlicher Begriffe, die im Gang der Darstellung plastisch werden: Freiheit, Möglichkeit, Unendlichkeit, Suche, Wahl, Sehnsucht, Scham und Ekel.
Lange, bis hinein die Anfänge der Beschleunigungsphase um 1960, zehrte die Liebe von den Zwängen, die ihr entgegenstanden. Kulturelle Verbote und gesellschaftliche Schranken verhinderten, dass die Liebenden umstandslos zueinander kamen. Die romantische Liebe stand unter dem Zeichen ihrer Behinderung und Verhinderung, ihrer potentiellen Unmöglichkeit, ja sogar ihrer Unerreichbarkeit. Gerade dies schärfte ihren einzigartigen Ereignis-Charakter. Das Ideal der Freiheit, dem sich auch auf anderen Gebieten so viel in den Weg stellte, schien dabei der natürliche Verbündete der Liebe zu sein.
Die gegenwärtigen Suchenden gehorchen einem neuen Gesetz. Sie stehen in einer Welt, die eine unendliche Menge von Liebesmöglichkeiten verspricht. Die Zahl der potentiellen Sex- oder Beziehungspartner scheint unbegrenzt. Die Wahl des einen ist zur Auswahl aus unüberschaubar vielen geworden. Der Totalität der Möglichkeiten entsprechen die Totalität der Suche und die Totalität der eigenen Verfügbarkeit. Denn auch derjenige, der nach einem Partner sucht, bedeutet in der „Liebesmasse” den anderen eine weitere Gelegenheit. Die Freiheit ist damit nach dem Abbau der meisten Hindernisse in den modernen Konsumgesellschaften zum entscheidenden Feind der Liebe geworden. Die besten Bedingungen, die Liebe je hatte, werden ihr zum Verhängnis.
Das Unheil, das in der Suggestion maximaler Freiheit liegt, ist nicht leicht in Thesen oder Bilder zu zwingen, die der eigentümlichen Totalität, dem Terror des Freiheitsdiktats gerecht würden. Hillenkamp wirkt der Entschärfung, die jeder Abstraktion, jedem allzu hübsch passenden Beispiel innewohnt, entgegen, indem er den Lesenden in einen eigentümlichen Spiralgang hineinzieht. Von der ersten Zeile an setzt seine Darlegung zugleich auf radikale Typisierung und schmerzhaft steile Übertreibung. Das Subjekt des Geschehens ist „der freie Mensch”, öfter noch die „freien Menschen”. Jede Relativierung, jede Differenzierung nach gesellschaftlicher Lage, Lebensalter oder Geschlecht wird vermieden, oft sogar explizit verworfen: „Auch wer kein Single ist, wird wie einer wahrgenommen.” Die aggressive Generalisierung ist eine der Stärken dieses Buches. Dass es die Schlupflöcher des „Halb-so-schlimm!” verschlossen hält, bewahrt den Druck seiner Wahrhaftigkeit. Obwohl es nicht „du” oder „ihr” sagt, ist es unmöglich, sich der Direktheit der Ansprache zu entziehen.
In immer neuem wuchtigen Ansetzen werden die Orte beschrieben, an denen die neue Nichtliebe exzessiv praktiziert wird: Die Großraumdiskothek, das Café, die Wartebereiche der Flughäfen, die Parks, die Büros, die Strände und Boulevards der Ferieninseln und die virtuellen Plätze des Internets. Die professionelle Partnervermittlung im Netz, der Zugriff auf viele tausend ebenfalls Suchende inszeniert die Totalität der Möglichkeiten in nie zuvor dagewesener Weise. Das Internet ermöglicht die Steigerung der bisherigen Unterhaltungs-, Vergnügungs- und Sexindustrie zu einer „Industrie der Erotik im umfassenden Sinn”, zu einer „Industrie der Liebe und der Partnersuche”.
In diese Darstellung unserer Welt als System hochorganisierter „Genussgemeinschaften” ist verschränkt, was den Seelen der Menschen unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen zustößt. Seelenlage und Weltlage stehen unter dem Diktat der gleichen Universalität, dem gleichen Möglichkeitsdruck. Das Individuum, das einmal durch seine Beschränkungen bestimmt war, gerät in einen völlig neuartigen Entgrenzungswahn. Die unablässige Suche, der permanente Zwang zur Wahl, verflüssigen das Bild, das sich einer von sich selbst, von seinem denkbaren Partner wie von der Welt und ihren Orten machen kann.
Mit insistierender Gründlichkeit schreitet der Text nach und nach die Räume aus, die im modernen Verständnis die Wohnung der Seele bilden: die Erinnerung und die damit verbundene Lebenserzählung, Erfahrung und Wirklichkeitssinn, Selbstbild und angestrebte Selbstverwirklichung und das Repertoire der Gefühlszustände. Auch die Winkel der Ängste, bis hinein in das fensterlose Kabuff der Todesfurcht werden nicht unbesucht gelassen. Dabei erfahren respektable Begriffsgefährten der romantischen Liebe eine radikale Neubewertung. Die Sehnsucht, die einst dem zweifellos Einzigen galt, wird zum universellen Sehnsuchtswahn. Die Phantasie, die ein Leben, mit diesem vom Schicksal Zugeteilten ausmalte, wird zur pornographischen Reproduktion der zahlreichen bisherigen Partner und zur ebenso obszön seriellen Imagination der das Auge bedrängenden Gelegenheiten. Ausgerechnet die Hoffnung erweist sich für den freien Menschen nun immer wieder als zuverlässig grausame Garantin von Selbstentwertung und erbärmlich beschämendem Ungenügen: „Ihre Hoffnung nimmt ihnen ihre Würde.”
Wie es bei einem außergewöhnlich guten Buch nicht anders sein kann, bleibt jede Zusammenfassung, auch jede Rezension auf signifikante Weise hinter dem zurück, was der Text an Gedankendichte bietet und an bestürzend heller Einsicht ermöglicht. Hillenkamps Essay ist mehr als das, was man an Thesen, Schlagworten oder Kernsätzen aus ihm herauslösen kann. Das Fleisch, die stets angespannte Muskulatur der Darstellung, der angespannte Stil, die nicht nachlassende Emphase sind in diesem Fall genauso wichtig wie die empirisch und logisch durchaus stabilen Knochen der Argumentation.
Zweifellos will dieses Buch unseren Verstand wie unser Herz erschrecken. Im tiefen erkennenden Erschrecken sieht der Autor zumindest ein Heil des Augenblicks: „Der große Sprung heraus aus der Unendlichkeit, hinein in die Liebe, ist mir unmöglich. Doch mit einem Sprung meines Bewusstseins löse ich mich für eine Sekunde von der Welt, aus der Epoche.”
Ist dies alles, was sich im Guten über die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft unserer Liebe sagen lässt? Da unser Zeithorizont begrenzt ist, bedeutet es keinen Trost, dass auch der Irrsinn der momentanen Nichtliebe sich eines Tages wie die romantische Liebe als „historisch” erweisen muss, „als Besonderheit, die mit ihren Bedingungen kommt und geht”. Hillenkamp versagt sich eine Spekulation über dasjenige, das irgendwann auf die herrschenden Verhältnisse folgen könnte. Aber an der Peripherie dieser zornigen Rede leuchten wie gnadenreiche Irrlichter immer wieder erstaunliche Wendungen auf, die auf ein gewesenes oder erneutes Gelingen von Zweisamkeit verweisen. Ich widerstehe der Versuchung, ich versage mir die allzu billige Möglichkeit, auch nur eine einzige dieser anrührenden, dieser wahrhaft herzöffnenden Stellen zu zitieren. Viel schöner, viel heilsamer ist es, sie am Wegrand des Lesens selbst zu entdecken. GEORG KLEIN
SVEN HILLENKAMP: Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, 312 Seiten, 22,90 Euro.
Sven Hillenkamp Foto: Marijan Murat
Die Zahl der potentiellen Partner scheint unbegrenzt. Die Wahl des einen ist zur Auswahl aus unüberschaubar vielen geworden. Der Totalität der Möglichkeiten entsprechen die Totalität der Suche und die Totalität der eigenen Verfügbarkeit – auch in dieser Galerie. Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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