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Was haben Laufen, Weben, Beobachten, Singen, Erzählen, Zeichnen und Schreiben gemeinsam? Tim Ingolds originelle Antwort lautet: Der Mensch vollzieht all diese Tätigkeiten linear. Seitdem Menschen miteinander durch Sprache oder Gesten kommunizieren, haben sie dabei auch Linien hervorgebracht.Ingolds brillantes Buch, das längst ein Klassiker der Anthropologie der Gegenwart ist, liegt hier nun endlich in deutscher Übersetzung vor. Seine kurze Geschichte der Linien besticht durch eine ebenso originelle wie umfassende Erkundung eines wissenschaftlich noch kaum erforschten Terrains. Indem Ingold die…mehr

Produktbeschreibung
Was haben Laufen, Weben, Beobachten, Singen, Erzählen, Zeichnen und Schreiben gemeinsam? Tim Ingolds originelle Antwort lautet: Der Mensch vollzieht all diese Tätigkeiten linear. Seitdem Menschen miteinander durch Sprache oder Gesten kommunizieren, haben sie dabei auch Linien hervorgebracht.Ingolds brillantes Buch, das längst ein Klassiker der Anthropologie der Gegenwart ist, liegt hier nun endlich in deutscher Übersetzung vor. Seine kurze Geschichte der Linien besticht durch eine ebenso originelle wie umfassende Erkundung eines wissenschaftlich noch kaum erforschten Terrains. Indem Ingold die Struktur und das Wesen der Linie anhand der unterschiedlichsten Beispiele (von sibirischen Labyrinthen über römische Straßen, indigene Strick- und Webartefakte, mittelalterliche Manuskripte, moderne Partituren in Japan, musikalische Rezitationsweisen im antiken Griechenland etc.) untersucht, ergibt sich eine Vielzahl überraschender Perspektiven. In sechs Kapiteln lädt der Autor seine Leser dazu ein, die Geschichte der Linie in unterschiedlichen kulturellen Kontexten über einen Zeitraum von mehr als 2000 Jahren zu ergründen. Welche Arten von Linien gibt es überhaupt? Was für eine Materialität kann eine Linie besitzen? Wie hat sich unser Verständnis von Linearität gewandelt? Was hat dieser Wandel mit unserem Verständnis von Sprache, Gesang, Zeichnen oder unserem Lese- und Flächenempfinden gemacht? Unsere moderne Konzeption von Linearität als etwas Statischem und Organisiertem erweist sich dabei als überaus eingeschränkt. Tim Ingold führt anschaulich vor Augen, wie die Linie einen neuen Blick auf den Menschen und seine Kultur eröffnet.
Autorenporträt
Tim Ingold ist ein britischer Anthropologe und Professor für Sozialanthropologie an der Universität Aberdeen in Schottland. Zuletzt erschien Eine kurze Geschichte der Linien bei KUP.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Karl-Heinz Kohl sucht die gerade Linie in Tim Ingolds Abhandlung und findet sie erste ganz am Ende des Buches. Zuvor verwirrt ihn der Autor mit allerhand Klassifizierungen, die Kohl nicht wirklich weiterhelfen, die Linie zu fassen zu kriegen. All das gleicht für Kohl mehr einer ethnologischen Studie. Die allerdings findet der Rezensent durchaus lesenswert, zeigt ihm der Autor doch jede Menge Querbezüge auf, zwischen verschiedenen Jenseitsvorstellungen etwa oder religiösen Praktiken. Vor lauter Webmustern und Labyrinthen (mit und ohne Ariadnefaden) vergisst Kohl fast, was der Titel eigentlich verspricht. Wenn der Autor schließlich den Kreis zurückschlägt zur Linie, wird es ziemlich kulturpessimistisch und metaphysisch, findet Kohl, fast wie Handleserei.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2021

In jedem Körper versteckt sich ein Ornament

Wenn das Vertraute fremd erscheint: Tim Ingold versucht sich an einer Abhandlung über die Linie, in der er von Sandzeichnungen über Partituren bis hin zur Architektur springt, um am Ende eine finstere Prognose zu wagen.

Es gibt bekanntlich nichts, worüber man nicht schreiben könnte. Aber eine kurze Geschichte der Linie: das ist schon ein mehr als vermessenes Unterfangen. Linien sind omnipräsent, es gibt keinen Ort und keine Stelle, an dem wir sie nicht finden. Dabei haben wir es im Deutschen noch relativ einfach, da wir das Wort vor allem mit Geradlinigkeit assoziieren, während sein Bedeutungsfeld im Englischen weit umfassender ist. Der britische Ethnologe Tim Ingold subsumiert unter den Begriff daher neben Sandzeichnungen, Schreibschriften, Klangfolgen, Partituren und anderen Notationsweisen auch dreidimensionale Dinge wie Strick- und Webmuster, Netze, Zelte, Labyrinthe und vieles andere mehr.

Um etwas Ordnung in das Wirrwarr zu bringen, versucht er sich nach einem langen Eingangsexkurs dann doch an einer Taxonomie, indem er zwei Hauptklassen von Linien unterscheidet. Da sind zum einen die "Fäden", durch deren Verknüpfungen etwa die dreidimensionalen besagten Gebilde zustande kommen. Und da sind zum anderen die "Spuren", wie sie etwa ein Wanderer beim ziellosen Umherschlendern hinterlässt. Der Sorgfalt des Übersetzers, der in zweifelhaften Fällen die englischen Wörter in Klammern angibt, ist es zu verdanken, dass man dieser zunächst ziemlich rätselhaft anmutenden Unterscheidung bald auf die Schliche kommt. Denn auch hier sind es wiederum die im Deutschen schwer wiederzugebenden Bedeutungsfelder der Wörter "threads" und "traces", mit denen der Autor spielt: ein "pun" also.

Tatsächlich trägt die Unterscheidung denn auch nicht sehr weit, so dass der Autor nicht darum herumkommt, weitere Kategorien und Gegensatzpaare einzuführen. Auf diese Weise entsteht ein komplexes Gefüge von taxonomischen Begriffen, das er mit zahllosen Beispielen aus der europäischen Kulturgeschichte und seinem eigenen Fachgebiet, der Ethnologie, füllt. Es sind die in den manchmal etwas überstrapazierten und auch nicht immer stimmigen kategorialen Webrahmen des Buches eingespannten Belegstücke, die zu lesen sich vor allem lohnt, treten dadurch doch einige überraschende Querbezüge zutage, die das uns Vertraute mit einem Mal fremd und das Fremde vertraut erscheinen lassen.

So stellen sich zum Beispiel die sibirischen Tschuktschen die Unterwelt, in der ihre Toten hilflos umherirren und vergeblich einen Ausgang suchen, ähnlich vor wie die alten Griechen das Labyrinth des Minotaurus, aus dem Theseus nur mit Hilfe des "Fadens" der Ariadne herausfindet. Hängt das Vergnügen, das wir beim Besuch moderner Irrgärten empfinden, aber nicht auch damit zusammen, dass es uns letztlich immer gelingt, dem Reich der Toten und bösen Geister zu entrinnen? Oder man nehme die Shipibo-Conibo im peruanischen Amazonasgebiet. Sie sind der Überzeugung, dass der Körper jedes Menschen von einem ornamentalen Muster durchdrungen ist. Doch können das Muster nur ihre Schamanen erkennen, die es bei ihren Heilungszeremonien verwenden. Auch in Europa ist der Glaube weit verbreitet, dass Hellseher aus den Handlinien nicht nur die Krankheiten und den Charakter, sondern auch das zukünftige Schicksal eines Menschen ablesen können.

In vielem erinnert Ingolds Buch an die Zusammenstellungen von mehr oder weniger kuriosen Gebräuchen, religiösen Praktiken und Glaubensvorstellungen aus aller Welt, die in der Hochzeit der evolutionistischen Ethnologie im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert von Universalgelehrten wie Edward B. Tylor oder James G. Frazer in voluminösen Abhandlungen vorgelegt worden sind. Seine "vergleichende Anthropologie der Linie" gleicht deren Vorgehen auch darin, dass der abstrakte Kategorienapparat ihm weit wichtiger ist als der kulturelle Kontext, aus dem er seine Beispiele bezieht. Ein fortschrittsgläubiger Evolutionist ist er allerdings nicht.

Das zeigt sich im Schlusskapitel, in dem er nach langen Umwegen schließlich doch noch auf die gerade Linie zu sprechen kommt. Kaum je in der Natur vorkommend, stand sie einmal für deren Zähmung durch den Menschen, für die Vernunft und die Kultur überhaupt. Nicht von ungefähr habe man sie daher nicht nur in der Architektur zum Sinnbild der Moderne erhoben. Tatsächlich aber habe sie nur eine Maske für Intoleranz, Unterdrückung und Desorientierung geboten. Und nicht ohne Grund sei deswegen in der Postmoderne an ihre Stelle die fragmentierte Linie getreten, wie es Ingold am Beispiel des Grundrisses des von Daniel Libeskind entworfenen Jüdischen Museums in Berlin demonstriert: Sie führe nicht mehr von Fortschrittsziel zu Fortschrittsziel, sondern nur noch von Bruch zu Bruch. Ingolds Geschichte der Linien mündet so schließlich in eine finstere kulturpessimistische Prognose, die mit ihrem metaphysischen Charakter und Pathos der klassischen Handleserei in nichts nachsteht.

KARL-HEINZ KOHL

Tim Ingold: "Eine kurze

Geschichte der Linien".

Aus dem Englischen von Quirin Rieder.

Konstanz University Press, Göttingen 2021.

236 S., Abb., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Tim Ingolds (...) 'Kurze Geschichte der Linien' besticht durch eine ebenso originelle wie umfassende Erkundung eines wissenschaftlich noch kaum erforschten Terrains.« (Kunst & Material, September/Oktober 2021)