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Im August, dem Monat, der von alters her unter dem Einfluss des Saturn steht, wandert W. G. Sebald durch die einsame Heidelandschaft der englischen Grafschaft Suffolk, besichtigt verfallene Landschlösser, spricht mit alten Gutsbesitzern und stößt immer wieder auf die Spuren wundersamer Geschichten. So erzählt er von den Glanzzeiten viktorianischer Schlösser, berichtet aus dem Leben Joseph Conrads, erinnert an die unglaubliche Liebe des Vicomte de Chateaubriand oder spürt dem europäischen Seidenhandel bis China nach. Mit klarer und präziser Sprache protokolliert er jedoch auch die stillen…mehr

Produktbeschreibung
Im August, dem Monat, der von alters her unter dem Einfluss des Saturn steht, wandert W. G. Sebald durch die einsame Heidelandschaft der englischen Grafschaft Suffolk, besichtigt verfallene Landschlösser, spricht mit alten Gutsbesitzern und stößt immer wieder auf die Spuren wundersamer Geschichten. So erzählt er von den Glanzzeiten viktorianischer Schlösser, berichtet aus dem Leben Joseph Conrads, erinnert an die unglaubliche Liebe des Vicomte de Chateaubriand oder spürt dem europäischen Seidenhandel bis China nach. Mit klarer und präziser Sprache protokolliert er jedoch auch die stillen Katastrophen, die sich mit dem gewaltsamen Eingriff der Menschen in diesen abgelegenen Landstrich vollzogen. So verwandelt sich der Fußmarsch letztlich in einen Gang durch eine Verfallsgeschichte von Kultur und Natur.
Autorenporträt
W. G. Sebald, geboren 1944 in Wertach, starb 2001 in England. Bei Hanser erschienen zuletzt Luftkrieg und Literatur (1999), Austerlitz (Roman, 2001), Unerzählt (2003, mit Bildern von Jan Peter Tripp), Campo Santo (2003) und über das Land und das Wasser (2008).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.1995

Kaltes Herz
W. G. Sebalds "Die Ringe des Saturn" / Von Patrick Bahners

In der Geschichte der Insekten, die weit wundervoller ist als Ovids Metamorphosen, bemerkt Edward Gibbon in der einundsechzigsten Fußnote des vierzigsten Kapitels des "Niedergangs und Falls des Römischen Reiches", hat der Seidenwurm einen besonderen Platz. Vergil hatte berichtet, die Seidenwolle werde von den Bäumen der Chinesen gekämmt. Dieser Irrtum erscheint dem Historiker weniger erstaunlich als die Wahrheit, daß nämlich eine Raupe die Fäden aus sich herausspinnt, die sich von den Blättern des Maulbeerbaums nährt. Das fleißige Insekt ist für den Freund von Adam Smith "the first artificer of the luxury of nations". Der artificer ist zugleich Handwerker und Künstler. Die Zivilisation ist ein kostbares Gewebe, dem man die Mühen der Herstellung nicht ansieht. Der Luxus, der die Reiche stürzt, hat sie erhoben; Fortschritt und Verfall sind eins. Der Stoff der Historiographie ist das Material der Verkleidung. Auch Herrschaft ist Artifice, das Handwerk, das künstliche Machtverhältnisse natürlich aussehen läßt. Der Historiker verstellt sich ebenfalls, lernt die Kunst des Arrangierens von Augustus. Die Objektivität ist eine Lebenslehre der Kälte. Der Faden der Kultur kann reißen.

Der Seidenwurm hat auch einen besonderen Platz in der Geschichte, die W. G. Sebald in seinem Buch "Die Ringe des Saturn" erzählt. Von einem Bericht über eine Wanderung, die der Verfasser im August 1992 durch die gottverlassenen Gegenden der Grafschaft Suffolk unternommen hat, wird kein Leser die Wunder der Metamorphosen erwarten. Und doch kommt die Rede auf Wucherungen, Mißgeburten und Prodigien. Der Erzähler schweift ab; ein Exkurs gebiert den nächsten. Die Menschen, denen der Wanderer begegnet, verwandeln sich in mythologische Gestalten. Aus Dingen werden Zeichen. Sie verweisen zunächst aufeinander und zuletzt auf etwas Abwesendes, von dem nur in der kunstvollen Verhüllung indirektester Rede gesprochen werden kann. Einer der Fäden in diesem Gewebe ist das Seidenmotiv.

Sohn eines Seidenhändlers war Sir Thomas Browne, der 1605 geborene und 1682 verstorbene Gelehrte, Kuriositätensammler und Menschenfreund. Er praktizierte als Arzt in Norwich, der Hauptstadt von Suffolk, an deren Universität Sebald deutsche Literatur lehrt. Simplicius Simplicissimus begegnet im Wald dem Baldanders, der in einem Prozeß des Fressens und Gefressenwerdens seine Gestalt ändert und auch die eines Maulbeerbaums und eines Seidenteppichs annimmt. Ein purpurfarbenes Fetzchen Seide, notiert Browne in seiner Abhandlung über das Urnenbegräbnis, war der Asche des Patroklus beigegeben; für den Christen symbolisiert es die Verheißung des Paradieses. Paradiesvögel sangen auf den Seidentapeten von Somerleyton, dem Palast im italienischen Stil, den sich Sir Morton Peto baute. Die Kaiserinwitwe Tz'u-hsi lauschte gerne den Seidenwürmern, wenn sie das Maulbeerlaub zernagten. Die Art, wie der alte Algernon Swinburne eine Portion Rindfleisch vertilgte, erinnerte einen Besucher an die aschgraue Seidenraupe. Das Schloß der Ashburys, einer Familie von anglo-irischem Adel, ist ein Totenhaus. Einmal dachten sie daran, in den leeren Räumen Seidenraupen zu züchten. Sir Thomas Browne hinterließ unter dem Titel des verschlossenen Museums oder der verborgenen Bibliothek den Katalog eines Schatzhauses der Absonderlichkeiten. In ihm ist das als Wanderstab dienende Bambusrohr verzeichnet, mit dem, wie auch bei Gibbon zu lesen ist, zwei Mönche die Eier des Seidenwurms aus China an den Hof des Kaisers Justinian schmuggelten. So begann die Geschichte der Seidenzucht im Westen. Die hugenottischen Meisterweber von Norwich waren die kultiviertesten Unternehmer des Königreiches, und die Reichsfachgruppe Seidenbauer e. V. arbeitete im Sinne der Rede Adolf Hitlers auf dem Reichsparteitag 1936 für die Autarkie.

Die Seide ist ebenso Naturprodukt wie Handwerkserzeugnis. Als Inbegriff der Vollendung menschlicher Arbeit ist sie Sinnbild des Kunstwerks. So erscheint das aus Hunderten von Seidenfetzchen zusammengesetzte Brautkleid, das die drei Jungfern der Familie Ashbury einer kopflosen Schneiderpuppe um den Leib gehängt haben, dem Gast als "ein beinahe ans Lebendige heranreichendes Farbenkunstwerk". Und von den Besuchern von Somerleyton heißt es, daß sie kaum zu sagen wußten, "wo das Naturgegebene aufhörte und das Kunsthandwerk anfing". So kann auch der Leser dieses Buches Erfindung und Tatsache nicht trennen. Der Autor hat seinem Werk Abbildungen beigegeben, doch sie legen über den Nebel, in dem Erlebtes und Gelesenes nicht zu unterscheiden sind, nur einen weiteren Dunstschleier.

Sebalds schlichter, getragener Erzählton ist als Rückkehr zu realistischer Naivität begrüßt und verurteilt worden, mit gleichem Unrecht. Was hier gesangvoll, mit innigster Empfindung vorgetragen wird, ist ein Kunstlied. Das moderne Mißtrauen gegen die Erkennbarkeit der Welt wird gegen die moderne Kunst gewendet, indem der Autor es sich versagt, überhaupt etwas Neues zu sagen. In manieristischer Manie näht er Hunderte von Fetzen aneinander. Die Poetik dieses Buches säkularisiert die Metaphysik, die Thomas Browne in der "Religio Medici" formuliert: "Alle Dinge sind künstlich, denn die Natur ist die Kunst Gottes."

Wie ist es um die Theologie eines Buches bestellt, das sich im Untertitel eine "Wallfahrt" nennt? Die Figuren, die eine Übereinstimmung von göttlicher und menschlicher Welt vorstellen, werden zitiert, um verworfen zu werden. Genauer gesagt, sie werden in Versionen zitiert, die in der Tradition ihre Verwerfung ankündigten. Im ersten Kapitel berichtet der Erzähler, daß er sich nach einer Operation im Krankenhaus von Norwich "wie ein Ballonreisender" fühlte. "Bisweilen teilten sich die wallenden Tücher, und ich sah hinaus in die indigofarbenen Weiten und hinab auf den Grund, wo ich, unentwirrbar und schwarz, die Erde erahnte. Droben aber am Himmelsgewölbe waren die Sterne, winzige Goldpunkte, in die Öde gestreut." Hier handelt es sich um wörtliche Entlehnungen aus Stifters Erzählung "Der Condor".

Während aus der "prächtigen Sommernacht" von Eichendorffs "Sehnsucht" mit Adorno noch der Himmelsmantel herauszuhören ist, hat der Nachthimmel für Stifters Ballonfahrerin alles Schützende verloren. "Wie zum Hohne" erscheinen die Goldpunkte, die an keinem Himmelszelt mehr haften. Und während dem Einsamen, der an Eichendorffs Fenster steht, "ein Posthorn im stillen Land" erklingt, dringt zum Patienten in Norwich das Martinshorn des Krankenwagens nicht herauf, dessen Blaulicht er sieht. Wo bei Eichendorff der Hornklang die Stille zur Stille erst macht, vernimmt der Rekonvaleszent in der "beinahe völligen, sozusagen künstlichen Lautlosigkeit" nur "das nie ganz nachlassende Sausen in den eigenen Ohren".

Die Entsprechung von Makrokosmos und Mikrokosmos, die Browne in der Natur suchte, gilt bei Sebald nur noch im Kunstwerk, wo jeder Teil auf das Ganze verweist. Die Dichte der motivischen Verschränkungen legt die typologische Exegese nahe, die Figuren der Heilsgeschichte in ein Verhältnis der Verheißung und Erfüllung bringt. Den in dieser Weise ausgelegten Kosmos repräsentiert der Nürnberger Sebaldusschrein. Im Innern des von der Himmelsstadt Jerusalem bekrönten Gehäuses ruhen "die Gebeine des exemplarischen Toten und Vorläufers einer Zeit, in welcher uns die Tränen abgewischt werden von den Augen". Exemplarisch ist dieser Tote, weil er beispielhaft für jeden Vorläufer steht. Die Zeit, in der die Tränen trocknen werden, ist nicht mehr zu erwarten; das ist der unausgesprochene Hauptsatz von Sebalds negativer Geschichtstheologie. Der Erzähler besucht zwar Alec Garrard, der seit zwei Jahrzehnten den Tempel von Jerusalem nachbaut. Aber seine Wallfahrt hat kein Ziel. Darum unterbricht der Autor die Erzählung so häufig. Es soll keine Zeit vergehen, die Hoffnung auf ein Ende wecken könnte.

Der heilige Sebaldus war ein Vorläufer ohne Nachfolger. Wer hätte dem Heiligen nachfolgen sollen? Niemand anderer als derjenige, der seinen Namen trägt. Der Autor macht sich selbst zum Schuldigen in der Geschichte, die erklären muß, warum die Verheißung sich nicht erfüllen wird. Von dieser atemberaubenden theologischen Konstruktion her erschließt sich die Figur des Erzählers.

In Interpretationen der "Langsamen Heimkehr" und der "Lehre der Sainte Victoire" hat Sebald dargelegt, daß Peter Handke den Künstler zum modernen Heiligen stilisiert. Der Flugreisende des älteren Textes ist ein Schamane, der sich im Vogelkostüm auf Himmelfahrt begibt. Diese Ekstasetechnik wird auch bei Sebald erprobt; für sie steht das durch den gesamten Text segelnde Motiv der Ballonfahrt und des Vogelflugs. Aber der Erzähler ist nicht Gibbons philosophischer Historiker, der von außen die Geschichte der Insekten betrachtet. Vielmehr spielt er die Rolle des Protagonisten von Kafkas "Forschungen eines Hundes", der die eigene Art untersucht. Auch er könnte beklagen, daß im Verhältnis zu seinen Artgenossen "seit jeher etwas nicht stimmte, eine kleine Bruchstelle vorhanden war". Aber aus dieser Außenseiterposition, aus der Melancholie des Saturngeborenen, erwächst dem Künstler kein privilegiertes Wissen. Immer wieder scheint der Erzähler an der Küste die Grenze der Welt zu berühren. Doch der Schamane kommt mit leeren Händen zurück. Es gilt der Satz aus Stifters "Bergkristall": "Aber es gab kein Jenseits."

Nun hat Sebald freilich beobachtet, daß sich bei Handke in der "Lehre der Sainte Victoire" der Modus der Fortbewegung ändert. Schon das Alter ego dieses Autors ist gewandert. Doch auf Wanderers Nachtlied folgt nicht ein gleiches. Die Lehre der Sainte Victoire ist der Weg Cézannes von der Darstellung des Schreckens zur Repräsentation des Lichts. Das Amt des Künstlers ist die eschatologische Aufhellung. Sebalds Erzähler geht den umgekehrten Weg. Wo Handkes Wanderer sich am Ende bei einem Waldspaziergang in die eigene Phantasie auflöst, sind es bei Sebald die Wälder, die verschwinden. "Die Verkohlung der höheren Pflanzenarten, die unaufhörliche Verbrennung aller brennbaren Substanz ist der Antrieb für unsere Verbreitung über die Erde." An einer Stelle nennt der Erzähler das Brandopfer, das der Zivilisation gebracht wird, bei seinem alttestamentarischen Namen.

Der Holocaust ist das geheime Zentrum, um den die Eisringe dieses Buches kreisen. Browne erkannte in den Schattenbildern der Welt das Licht der göttlichen Herrlichkeit. Für Sebald liegt selbst auf dem hellsten Fleck der Schatten des Massenmordes. Die Eschatologie ohne Apokalypse, wie sie nach seiner Deutung der bürgerlichen Ästhetik Stifters und Handkes zugrunde lag, ersetzt er durch die Apokalypse ohne Eschatologie. Die typologische Geschichtsinterpretation erhält ihre Funktion zurück, aber verbürgt nun eine Unheilsgeschichte. Nicht Aufklärung ist die Pflicht des Künstlers; der "Verdrängung der Finsternis" soll er entgegenwirken.

Browne wollte nach Sebald die Welt "mit dem Auge des Schöpfers" betrachten. "Und um den dafür notwendigen Grad von Erhabenheit zu erreichen, gab es für ihn nur das einzige Mittel eines gefahrvollen Höhenfluges der Sprache." Sebald spricht nicht direkt von der Ermordung der Juden. Der Schatten, den der Holocaust auf alles wirft, kommt nur ins Blickfeld, wenn man indirekt redet. Sebald schlägt einen Umweg ein, er wagt den denkbar gefährlichsten Höhenflug. Er blickt auf die Welt aus weitester Ferne, mit dem Auge des Schöpfers, und entdeckt in der Menschheitsgeschichte, ja in der Naturgeschichte überall ein Bild jenes "Werks der Zerstörung", das "um ein Vielfaches unser Vorstellungsvermögen" übersteigt. Ob "das giftige Gas" ausströmt oder "Asche" über das Land weht, kein Wort und kein Ort sind mehr unschuldig. Der Wanderer will ein Waffentestgelände besuchen. Ein "Fährmann" setzt ihn zum "jenseitigen Ufer" über. Auf der "Insel der Toten" sieht er "Brausen", "Rampen" und "Sickergruben".

Die Entdeckung, was es mit der "in dem Erzählten verborgenen grauenvollen Wirklichkeit" auf sich hat, hat eine erschütternde Gewalt. Man bewundert die Konsequenz, mit der dieses kalte Herz seine Geschichte vorträgt, und man erschrickt über die Reflexion, ob nicht das Erzählen "die inwendige Vereisung und Verödung" zur Voraussetzung hat. Wie Gibbon liest Sebald die gesamte Geschichte der Zivilisation dem Seidenbau ab. Nach einem deutschen Lehrfilm von 1939 schildert er die Tötung der Raupen über einem Kessel mit siedendem Wasser. "Drei Stunden müssen die in flachen Körben ausgebreiteten Kokons über dem aus dem Schaff aufsteigenden Wasserdampf liegenbleiben, und wenn man mit einer Menge fertig ist, so fährt man mit der nächsten fort, so lange, bis das ganze Tötungsgeschäft vollendet ist."

W. G. Sebald: "Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt". Die andere Bibliothek. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1995. 372 S., geb., 48,- DM.

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