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»Während alle auf den Sieg anstoßen, warte ich nur auf Papa.« - »1953 haben wir in unserer Wohnung Telefon bekommen, eines für alle Bewohner. Es steht im Flur.« - »Der erste Mensch im All! Ein Sowjetmensch!« In einem alten Haus in Moskau lebt eine Familie. 100 Jahre lang. Kriege, Frieden, Revolutionen, gesellschaftliche und technische Entwicklungen: Alles, was die Welt in den Jahren zwischen 1902 und 2002 bewegt, spiegelt sich im Mikrokosmos rund um Familie Muromzew wider - und wird von Generation zu Generation aus Sicht der Kinder erzählt. Detailreiche Illustrationen liefern authentische…mehr

Produktbeschreibung
»Während alle auf den Sieg anstoßen, warte ich nur auf Papa.« - »1953 haben wir in unserer Wohnung Telefon bekommen, eines für alle Bewohner. Es steht im Flur.« - »Der erste Mensch im All! Ein Sowjetmensch!« In einem alten Haus in Moskau lebt eine Familie. 100 Jahre lang. Kriege, Frieden, Revolutionen, gesellschaftliche und technische Entwicklungen: Alles, was die Welt in den Jahren zwischen 1902 und 2002 bewegt, spiegelt sich im Mikrokosmos rund um Familie Muromzew wider - und wird von Generation zu Generation aus Sicht der Kinder erzählt. Detailreiche Illustrationen liefern authentische Einblicke in die Wohnung und das Lebensumfeld der Familie. Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution: ein einzigartiger, unverstellter Blick auf die russische Geschichte und das Weltgeschehen des 20. Jahrhunderts.
Autorenporträt
Alexandra Litwina wurde 1975 in Moskau geboren und studierte Philologie an der dortigen Lomonossow-Universität. Sie ist Autorin zahlreicher Kinderbücher und Spiele zu geschichtlichen Themen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2017

Als der Genosse abgeholt wurde

Kann man ein knappes Jahrhundert russischer Geschichte in einem Bilderbuch erzählen? Alexandra Litwina und Anna Desnitskaya zeigen, was die kluge Beschränkung auf ein Haus bewirkt.

Die Vergangenheit sei ein fremdes Land, sagt man, dort würden die Dinge anders gemacht. Doch zugleich ist die Vergangenheit überall, sie kann ja nirgendwohin verschwinden. In Gegenständen und Gebäuden steckt auch die Geschichte unserer Familien und unserer Länder. Und alle Kinder fragen sich irgendwann, wie wohl ihre Eltern und Großeltern mit diesen Gegenständen und Gebäuden gelebt haben und wer wohl auf den Aufnahmen in den alten Fotoalben sonst noch zu sehen ist. Je nachdem wie die Erwachsenen auf diese Fragen antworten, erschließt sich den Heranwachsenden die Geschichte der eigenen Familie, in der sich aber auch die Geschichte des ganzen Landes spiegelt.

Zugleich können Kinder aller Länder einander zumeist auf Anhieb verstehen. Sie haben vieles gemeinsam. Die Welt ist für sie neu. Soziale Schranken existieren für sie nicht. Sie sind abhängig und passen sich schnell an. Sie haben keine Wahl und deshalb auch oft wenig Angst. Konflikte oder Krieg erleben sie aus der Perspektive der menschlichen Dramen. Beispielsweise weil der Vater bei einem wichtigen Familienfest fehlt oder weil die Angehörigen über etwas Wichtiges, das sie belastet, schweigen.

Deswegen haben die Moskauer Künstlerin Anna Desnitskaya und die Autorin Alexandra Litwina einen Bildband gestaltet, in dem Kinder selbst von der Geschichte ihrer Familie erzählen - und anderen Kindern damit auch die "große" Geschichte nahebringen. Desnitskayas und Litiwinas Buch "In einem alten Haus in Moskau", das durch das gesamte zwanzigste Jahrhundert führt, ist nicht zuletzt eine Antwort auf die Versuche der Staatsmacht, die russische Geschichte als eine Abfolge großer Herrscher darzustellen. Im Schulunterricht und in Geschichtsausstellungen für die Jugend wird gelehrt, dass die Russen vor allem heldenhaft Invasoren abgewehrt hätten, die die Einheit ihres Riesenlandes gefährdeten. Deswegen wurde "In einem alten Haus in Moskau" auch bei der historischen und Menschenrechtsgesellschaft "Memorial" vorgestellt, die anhand von Briefen, Zeichnungen und Gebrauchsgegenständen aus dem GULag die erlebte Geschichte des zwanzigsten Jahrhundert dokumentiert und zugänglich macht. Außerdem zeichnet "Memorial" jedes Jahr Schüleraufsätze aus, die historische Themen durch die Befragung von Zeitzeugen oder Archivakten erschließen.

Alexandra Litwina hat ihr Material aus der wissenschaftlichen Literatur, aus Memoiren, aber auch über Facebook zusammengetragen. Als fiktive und zugleich exemplarische Helden erschafft sie daraus die Nachkommenschaft des Moskauer Arztes Ilja Muromzew, deren Lebenswege durch Krieg, Revolution, sozialistischen Umbau und Säuberungen bestimmt werden. "Je besser den Historikern die Zeiten taugen, je ärger lebt es sich in ihrer Gegenwart", lautete das Verdikt des sowjetrussischen Dichters Nikolai Glaskow (1919 bis 1979) über das zwanzigste Jahrhundert, das dem Buch als Motto vorangestellt ist. Umso neugieriger ist man auf die Jungen, die diese Epoche von vorn betrachten und nicht aus der Rückschau.

Die Einführung macht Irina Muromzewa, die älteste Tochter des Doktors. Irina ist sechs Jahre alt, als ihre Eltern mit Köchin, Kinderfrau, alleinstehender Tante, Hund und Kater im Jahr 1902 eine Sechszimmerwohnung in einem jener Moskauer Mietshäuser bezieht, wie sie in den Boomjahren des beginnenden Jahrhunderts im erweiterten Stadtzentrum vielerorts entstanden. Das doppelseitige Schaubild zeigt, wie Papa im Arbeitszimmer mit Kachelofen Bücher einräumt, wie die Schlaftruhe der Köchin in deren niedrige Kammer getragen wird. Irina, ganz wohlerzogenes Töchterchen, ist begeistert, weil sie ein eigenes Zimmer hat, weil heißes Wasser direkt aus der Leitung fließt, und weil alle Sachen an dem neuen Ort irgendwie anders und geheimnisvoll wirken. Einige davon, etwa des Vaters Arztkoffer oder des Tantchens Jugendstilschirm, tauchen noch einmal vergrößert am Seitenrand auf und verwandeln die Panoramadarstellung auch in ein Suchbild.

Die nächste Doppelseite zeigt das Weihnachtsfest des Jahres 1914. Es ist Krieg, und das zweite Kind des Doktors, der sieben Jahre alte Nikolai, wartet darauf, dass sein Vater vom Frontdienst heimkehrt. Nikolai will den russischen Helden helfen, er hat sein Taschengeld dem Roten Kreuz gespendet und hofft, dass, wie die Zeitungen schreiben, der deutsche Kaiser bald so enden wird wie Napoleon. Doch ab jetzt folgt dem Schaubild eine Doppelseite, die den Ersten Weltkrieg in ein paar Sätzen zusammenfasst und Schlüsselszenen zeigt: Wie der Vater von schrecklichen russischen Verlusten wegen Versorgungsmängeln berichtet, wie der Verlobte von Irina, ein junger Offizier, gegen den Zaren wettert. Es fehlen auch nicht die vor allem bei den Kindern heißgeliebten Schichttorten und Hörnchen aus der Wiener Bäckerei, die, obwohl der Bäcker ebenfalls das Rote Kreuz unterstützte, nach einem Pogrom schließen musste.

Nach der Oktoberrevolution müssen die Muromzews zusammenrücken. Den mittlerweile neun Personen bleibt das große Zimmer, das sie durch Schrankwände und einen Wandschirm dreiteilen. In ein Zimmer wird ein Parteimitglied, Genosse Orlik, zwangseinquartiert. Ein zweites bekommen die Petuchows, die durch die in den zwanziger Jahren vorübergehend wieder erlaubten Handelsgeschäfte reich wurden. Petja, der Enkel der Köchin, der mit seinen Eltern ebenfalls ein Zimmer bewohnt, schildert die in der Enge unvermeidlichen Konflikte aus der Sicht des zehnjährigen Proletarierkindes. Die Frau Doktor, die sich von der Genossin Orlik angiften lasse, habe keinen Mumm, registriert Petja, der aber auch die Tangotanzerei der Frau Petuchowa deplaziert findet.

Es kommen unruhige Zeiten. Im Jahr der Großen Säuberungen 1937, der viele Parteikader zum Opfer fielen, wird eines Nachts der Genosse Orlik abgeholt. Um sich zu schützen, schneidet seine Frau aus ihren Fotoalben alle Gesichter von Verwandten und Freunden heraus, die in Haft sind. Trotzdem wird auch sie festgenommen. Die acht Jahre alte Toma Muromzewa, Nikolais Tochter und strebsames "Oktoberkind", hört den nächtlichen Lärm und sieht am Morgen die verstörten Mienen der Erwachsenen. Vier Jahre später ist Krieg. Toma, jetzt eine rote Pionierin, schreibt ihrem Vater tapfere Briefe an die Front. Zum Glück weiß sie nicht, dass sie ihn nicht wiedersehen wird.

Deswegen ist das Bild der großen Freude über den siegreichen Kriegsausgang im Haus Muromzew, das uns Tomas Cousin, der 1945 acht Jahre alte Fedja Schtejn - mit geschorenem Kopf, zur Vorbeugung gegen Läuse - präsentiert, auch nur eine Momentaufnahme. Die Kosten des Sieges bekommen gleich auf der nächsten Seite Gesichter: Petja, der Enkel der Köchin, kam als einfacher Soldat schon in den ersten Kriegswochen um, Nikolai Muromzew fiel bei Stalingrad, Großvater Ilja Muromzew wurde in Moskau durch einen Bombensplitter getötet.

Aber das Leben geht weiter. Stalin stirbt. Als Juri Gagarin als erster Mensch die Erde umrundet, erfüllt das auch den erwachsenen Fedja mit Stolz. Doch in den siebziger Jahren wird Fedja Dissident und emigriert nach Amerika. Ein Jahrzehnt später, während der Perestroika, meldet sich aus Paris die mittlerweile über achtzig Jahre alte Irina Muromzewa. Sie war nach der Revolution mit einem Weißgardisten geflohen. Die Pariser Tante spricht Russisch, ist aber trotz ihres Alters topfit und modern, findet Irinas Moskauer Urgroßnichte Alexandra.

Wann wird wohl ein ähnliches Buch über eine alte Berliner Wohnung geschrieben werden?

KERSTIN HOLM

Alexandra Litwina, Anna Desnitskaya: "In einem alten Haus in Moskau".

Aus dem Russischen von Lorenz Hoffmann und Thomas Weiler. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2017. 60 S., geb., 24,95 [Euro]. Ab 12 J.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2017

Tango tanzen
in der Küche
Wie Russland zu dem wurde, was es heute ist.
Hundert Jahre in einem Moskauer Haus
VON TIM NESHITOV
Ende der 1930er-Jahre war es üblich in Russland, dass ganze Arbeitskollektive, Lehrkörper und Schulkassen öffentliche Briefe an den Diktator Josef Stalin schrieben. Diese wurden in Zeitungen abgedruckt. 1937 erschien in der Prawda folgender Brief: „Die niederträchtige Bande faschistischer Mietlinge hat versucht, ihre dreckige Hand gegen die Führer unserer Partei und unserer Regierung zu erheben (…) Aber die Feinde haben sich verkalkuliert. Sie wurden rechtzeitig von unserem heldenhaften Volkskommissariat für Inneres enttarnt. Wir, Schüler der fünften Klasse „G“, fordern die Erschießung der faschistischen Scheusale. Niederträchtige Mörder haben keinen Platz auf sowjetischem Boden!“ Es folgen 32 Unterschriften, Moskau, Schule Nummer 76.
Es leben noch Menschen, die diese Zeit als Kinder erlebt haben. Und da die sowjetische Vergangenheit nicht wirklich aufgearbeitet wurde und Stalin vielen alten wie jungen Russen heute wieder als Vorbild dient, ist es gut, wenn solche Zeitungsausschnitte aus den Archiven geholt und einem breiten Publikum präsentiert werden. Und sei es in einem Kinderbuch wie „In einem alten Haus in Moskau – Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte“ von Alexandra Litwina mit Illustrationen von Anna Desnitskaya.
Dieses detailreich gezeichnete Bilderbuch erzählt die Geschichte der Moskauer Familie Muromzew (aus der die Autorinnen stammen) zwischen 1902 und 2002. Man begleitet mehrere Generationen durch Revolutionen, Pubertät, Kriege, Liebe, Studium: Weltgeschichte trifft hier auf Alltag. Man beobachtet die Muromzews in einer Wohnung, die im Laufe des Jahrhunderts mehrmals umgestaltet wird. Vor der Oktoberrevolution beschäftigt die Familie noch eine Köchin, eine Zimmerfrau, es gibt sogar einen Dienstboteneingang, der Vater hat ein geräumiges Arbeitszimmer mit Kamin und Schaukelstuhl, die Mutter hängt über der roten Couch Bilder auf. Vater ist Arzt und wird im Ersten Weltkrieg in einem Lazarett eingesetzt. Weihnachten 1914 kommt er überraschend zu Besuch, zu Tannenbaum, Klavier und Plätzchen, es ist gemütlich, und keiner weiß, was auf das Land zukommt.
1927 wohnen in der großen Wohnung neben den Muromzews bereits weitere Zeitgenossen, Wohnraum ist knapp. In der Gemeinschaftsküche, die auch als Wohn-, Arbeits- und Spielzimmer für Alt und Jung dient, wird zu Grammofon Tango getanzt.
1937, auf dem Höhepunkt des Großen Terrors, als Schüler Briefe an Stalin schreiben, werden in beinahe jeder sowjetischen Familie Menschen verhaftet. Bei den Mitbewohnern wird der Vater Lew Jakowlewitsch abgeführt und erschossen, dessen Frau schneidet aus den Familienalben die Gesichter aller Freunde, die schon in Haft sind, kurz darauf wird sie ins Lager gebracht und die kleine Tochter zieht zu einer Tante. Auf der roten Couch unterhalten sich Ilja Stepanowitsch Muromzew, der Arzt im Ruhestand, und sein Schwiegersohn, und zwischen ihnen liegt die Katze Maschka. Der Arzt: „Das muss ein Irrtum sein. Ich kenne Lew Jakowlewitsch schon ewig. Ein hochanständiger Mensch.“ Der Schwiegersohn: „Was heißt schon hochanständig! Politische Weitsicht ist gefragt, Ilja Stepanowitsch. Lesen Sie keine Zeitung? Wir müssen auf der Hut sein: Überall lauern Spione und Saboteure!“
Es ist kein einfaches Buch, aber ein hilfreiches, um zu verstehen, wie Russland zu dem wurde, was es heute ist. Die Fülle der Informationen macht es eher zu einem Buch für Jugendliche, nicht für Kinder. Die Zeichnungen aber sind Kinderzeichnungen, und sie sind sehr schön, man kann sich in dieser Moskauer Wohnung verlieren. Und ist dann aber froh, sie wieder verlassen zu können. (ab 12 Jahre)
Alexandra Litwina: In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte. Mit Illustrationen von Anna Desnitskaya. Aus dem Russischen von Thomas Weiler und Lorenz Hoffmann. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2017. 60 Seiten, 24,95 Euro.
Illustration aus Alexandra Litwina und Anna Desnitskaya: In einem alten Haus in Moskau.
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