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Orlando Figes erzählt brillant vom Beginn der Moderne. "Die Europäer handelt von der Entstehung Europas, und wenn man diese Geschichte heute liest, gewinnt sie eine fast utopische Qualität." Karl Ove Knausgård
1843 - Die berühmte Opernsängerin Pauline Viardot reist nach Russland, wo die Eisenbahnstrecken gerade ausgebaut werden und europäische Ideen auf der Tagesordnung stehen. An ihrer Seite der Kunstkritiker Louis Viardot, ihr Ehemann. Während Pauline in St. Petersburg auftritt, kann ein Schriftsteller im Publikum seinen Applaus kaum im Zaum halten. Iwan Turgenew wird von nun an der…mehr

Produktbeschreibung
Orlando Figes erzählt brillant vom Beginn der Moderne. "Die Europäer handelt von der Entstehung Europas, und wenn man diese Geschichte heute liest, gewinnt sie eine fast utopische Qualität." Karl Ove Knausgård

1843 - Die berühmte Opernsängerin Pauline Viardot reist nach Russland, wo die Eisenbahnstrecken gerade ausgebaut werden und europäische Ideen auf der Tagesordnung stehen. An ihrer Seite der Kunstkritiker Louis Viardot, ihr Ehemann. Während Pauline in St. Petersburg auftritt, kann ein Schriftsteller im Publikum seinen Applaus kaum im Zaum halten. Iwan Turgenew wird von nun an der ständige Begleiter der Viardots sein: Es entfaltet sich eine lebenslange Dreiecksbeziehung, in der sich die Entwicklung einer neuen Epoche spiegelt: die Moderne. In "Die Europäer" erzählt Orlando Figes nicht weniger als die Entstehung unseres kulturellen Selbstverständnisses.
Autorenporträt
Orlando Figes, geboren 1959 in London, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College und zählt zu den renommiertesten Historikern Großbritanniens. Bei Hanser Berlin erschien zuletzt Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert (2015).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Arno Widmann entdeckt mit dem Buch des britischen Historikers Orlando Figes die Ursprünge europäischer Kultur. Das Zusammenwirken von Eisenbahn, Zeitungswesen, Urheberrecht, Theatershops leuchtet ihm ein, wenn der Autor ihm anhand dreier Protagonisten, des Ehepaars Pauline und Louis Viardot sowie Iwan Turgenews, das kosmopolitische Leben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schildert. Dass der Autor die "Geschichte der Kapitalisierung der Kultur" nicht anklagend erzählt, sondern dicht beschreibend und den Leser mit seiner Kenntnis beschenkend, nimmt Widmann dankbar zur Kenntnis.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020

Als die Kunst ihre Märkte fand

Orlando Figes wirft einen aufschlussreich nüchternen, doch nie lieblosen Blick auf die Entstehung des europäischen Kulturbetriebs.

Von Jan Brachmann

Zur Rechtfertigungsideologie autonomer Kunst im bürgerlichen Zeitalter gehört, dass sie keinerlei äußeren Zwecken zu gehorchen habe, sondern nur ihren Eigengesetzlichkeiten folge. Orlando Figes aber, Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität London, kümmert sich wenig um solch innerästhetische Ventilationen der Eigenbedeutsamkeit von Kunst. Sein neuestes Buch, "Die Europäer", könnte, in Anlehnung an Max Weber, auch heißen "Die europäische Ästhetik und der Geist des Kapitalismus". Denn es beschreibt, durchaus von Karl Marx inspiriert, nichts weniger als die Herausbildung eines europäischen Buch-, Kunst- und Musikmarktes im neunzehnten Jahrhundert aufgrund mehrerer Revolutionen im Verkehr, der Industrie und des Vertriebswesens, will heißen: Kunst als marktkonforme Ware.

Mit der Pionierfahrt eines Dampflokzuges von Paris nach Brüssel am 13. Juni 1846 steigt Figes ein. Die Ausbreitung des Eisenbahnnetzes, die in den folgenden Jahren fast den gesamten Kontinent zwischen den Britischen Inseln und dem Ural erschloss, ermöglichte es, dass immer größere Anteile der Bevölkerung reisen konnten. Mit ihr entstanden, zunächst in London und Paris, die Bahnhofsbuchhandlungen als Keimzelle einer neuen Einzelhandelsbranche. Taschenbücher lösten die Leinen- und Lederbände ab. Buchreihen entwickelten sich zu Sammlergegenständen, am erfolgreichsten Reclams Universalbibliothek aus Leipzig vom Jahr 1867 an. Ein Kanon des Klassischen entstand, weil sich Bücher in hoher Stückzahl drucken und billiger verkaufen ließen, wenn sie als gut verkäufliche Titel sicheren Umsatz versprachen.

Ähnliches geschah an den Opernhäusern: Das Reisen sorgte in den Metropolen für ein überregionales Publikum, welches es gestattete, Opernproduktionen länger im Spielplan zu halten, da es ständig neue Gäste gab. So haben die Eisenbahn und die durch sie bewirkte Marktveränderung großen Anteil an der Entstehung des Repertoirekanons. Die Opern Giuseppe Verdis - allen voran "La Traviata", "Rigoletto", "Il Trovatore" und "Aida" - gehörten früh zum internationalen Kernbestand dessen, was als Standard europäischer Zivilisation galt. Dazu - wenigstens zu ihrer Zeit - die Grand Opéras von Giacomo Meyerbeer. Mit der Erfindung der Lithographie, welche die Herstellung von Notendrucken vereinfachte, und dem Aufschwung des Klavierbaus, der für die Herstellung von Gussrahmen und Saiten wiederum von der Stahlindustrie abhing, ließen sich Opern-Potpourris massenhaft verbreiten für den häuslichen Gebrauch.

Das zu Geld gelangte Bürgertum interessierte sich auch in der Kunst nicht mehr für die Vorzugsgenres des alten Adels. Stattdessen stiegen Landschaftsbilder in der Gunst der Käufer. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wird das Kunstwerk als Kapitalanlage entdeckt: Man kauft junge, unbekannte Maler in der Hoffnung, dass sie binnen kurzem so berühmt werden, dass man ihre Bilder gewinnbringend wieder verkaufen kann.

Durch den aufkommenden Kunstdruck wurden Meisterwerke zur Massenware. Gustave Courbet erfand gar, zu Reklamezwecken für eine Ausstellung 1853, die Kunstpostkarte. Zu den besonderen Pointen des Buchs von Figes gehört es, dass die Freiluftmalerei der Schule von Barbizon sich dem Vertrieb von Tubenfarben amerikanischer Fabriken verdankte, die außerhalb des Ateliers leichter zu handhaben waren, weil die Maler sie nicht mehr selbst anrühren mussten. Die Landschaftskunst der Barbizonisten, die so viele zivilisationsmüde Großstädter ansprach, war also nur möglich geworden durch Fortschritte der Industrie.

Doch der Untertitel des Buchs von Figes spricht von etwas anderem: "Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur". Die drei sind exemplarisch gewählt: der französische Kunsthistoriker Louis Viardot, seine Frau, die aus spanischer Familie stammende Sängerin Pauline Viardot-García, und beider Freund, der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew. Alle drei stehen für je einen Wirtschaftszweig des Kulturbetriebs: Kunstmarkt, Musikmarkt, Buchmarkt. Zugleich verkörpern sie ein besonderes Bild von Europa: Frankreich als Zentrum der Zivilisation, gerahmt von den asiatisch geprägten Rändern des Kontinents. Wer "Spanien" sagte, meinte immer auch Arabien; wer "Russland" sagte, dachte zugleich an Tataren und Mongolen. Alle drei Protagonisten waren europaweit aktiv, beherrschten mehrere Sprachen und vermittelten zwischen den Nationalkulturen, sorgten also auch für neue Marktzugänge von Kunst als Ware.

Figes verbindet, wie in einem großen Roman des neunzehnten Jahrhunderts, das Epochenbild der Zeit mit dem privaten Schicksal der drei, bis hin zu Spekulationen, dass Iwan Turgenjew der Vater von Paul Viardot sei. Turgenjew ist in diesem Trio ohne Zweifel seiner Leistung und Bildung nach die bedeutendste Figur. Er hat Enormes für die Verbreitung englischer und französischer Literatur in Russland und russischer Literatur in Frankreich getan. Zudem war er ein kenntnisreicher Musikvermittler. Er gab den Anstoß zu Georges Bizets "Carmen", kannte Brahms und Fauré; er machte Émile Zola in Russland zum Bestseller-Autor, noch bevor in Frankreich jemand von ihm wusste. Er setzte sich für Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski im Ausland ein. Sein russischer Landsmann, der Diplomat Maurice Prozor, tat von Dänemark aus Ähnliches für die skandinavischen Autoren Ibsen, Bang und Bjørnson.

Figes weiß auch hier wieder zu verblüffen: In keinem Land Europas wurde mehr Literatur übersetzt als in Russland. Dort las man früh George Sand und Charles Dickens, Heine, Goethe und Schiller. Umgekehrt machte Turgenjew 1871 während eines Besuches bei Alfred Lord Tennyson die Beobachtung, dass dieser von ausländischer Literatur gar nichts kannte. Und dies ist vielleicht der vernichtendste Befund bei Figes: Die Intelligenz gerade der Nationen, die sich das Europäertum besonders fett auf ihre Fahnen schrieben, hatte am wenigsten Kenntnis von anderen Ländern. Frankreich und Großbritannien schneiden in der Bilanz miserabel ab. Victor Hugo erscheint als Figur, für die Internationalismus immer nur bedeutet hat, die kulturelle Hegemonie Frankreichs zu sichern. Eine europäische Union war für ihn schon 1849 nur unter Frankreichs Führung denkbar.

Henry James, der schon als Jugendlicher in den Vereinigten Staaten das Werk Turgenjews zur Kenntnis genommen hatte, besuchte in Paris den Kreis um Gustave Flaubert, bei dem auch Turgenjew verkehrte. Er kam zu dem Schluss, dass der Russe der Einzige in dem Zirkel gewesen sei, der wirklich über eine europäische Bildung verfügt habe, und machte ihn zu seinem literarischen Idol. Nicht von ungefähr verwendet Figes den Titel von James' Roman "Die Europäer". Ein bis heute charakteristisches Lernund Kenntnisgefälle ist schon hier erfasst: Der Osten orientiert sich am Westen und weiß viel mehr über ihn als umgekehrt.

Man kann einige Flüchtigkeitsfehler in diesem Buch und seiner schön zu lesenden Übersetzung anmerken: etwa dass es in Petersburg kein Bolschoi-Theater, sondern nur ein Mariinski-Theater gibt, dass das westliche Preußen zwischen Köln und Hannover nicht "Westpreußen" ist oder dass es sich bei Peter Tschaikowskys Lied "Nichts als das einsame Herz" um Goethes "Nur wer die Sehnsucht kennt" handelt. Man könnte einwenden, dass ein antideutsches Ressentiment bedient werde mit der Ansicht, der Sieg Preußens gegen Frankreich 1870/71 habe die kosmopolitische Kultur in Europa beendet. Denn die Internationalisierung schritt auch danach unverdrossen fort, während Kosmopolitismus zuvor nichts anderes bedeutete als die kulturelle Vorherrschaft Frankreichs. Eher lässt sich wohl sagen, dass Kosmopolitismus und Nationalismus wohl seit den Napoleonischen Kriegen konkurrierende Strömungen im gesamten neunzehnten Jahrhundert - im Grunde bis heute - waren als dass sie einander abgelöst hätten.

Figes' Buch ist glänzend gebaut, faktenreich, nicht unbedingt stark in der Begriffsbildung, aber originell in der Erzählung. Es beschreibt auch, wie Zola, als abgebrühter Zyniker, zum Ekel Flauberts und Turgenjews früh den politischen Skandal als Marketingstrategie einsetzte. Auch hier kann unsere Gegenwart, man denke ans Regietheater, erfahren, wie sie wurde, was sie ist. Will man boshaft sein, erscheint sogar das "Europäertum" - der Anspruch, für ein kontinentales Publikum zu sprechen - als Reklame, um die Absatzmärkte für Kunst auszudehnen. Auf diese Ausweitung des Marktes antworteten dann die "nationalen Schulen" mit dem branding von unique selling points, um das Exotismusbedürfnis der anderen Nationen zu bedienen. Das ist ein erfrischend nüchterner, aber nie liebloser Blick auf die Kunst.

Orlando Figes: "Die Europäer". Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur.

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Hanser Verlag, Berlin 2020, 640 S., geb., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2020

Geschenke für den Kopf (Fortsetzung Seite 20)
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Das Buch des Jahres, diese Nachkriegsgeschichte des Geistes: Andersch, Heidegger, Adorno, Holthusen, Guggenheimer, Schelsky, Enzensberger, Ortega y Gasset und der eitle Sieburg, der seine Titelgeschichte im Spiegel gleich selber schreiben will. Spoiler: Man (Frau eher nicht) konnte damals vom Feuilleton leben!
Axel Schildt: Medienintellektuelle in der Bundesrepublik. Wallstein, Göttingen 2020. 896 Seiten, 46 Euro.
EINE HILFE
Ein Reigen wie damals bei Schnitzler: Paula, Ludger, Detlev, Jorinde und die anderen. Als Dreingabe: „West und Ost waren Zeichen einer richtigen und einer falschen Lebensweise geworden.“
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall. Roman. Diogenes, Zürich 2019, jetzt als Taschenbuch: 288 Seiten, 13 Euro.
EIN GENUSS
Als Begleitprogramm zu „Babylon Berlin“: Pflanzenarchitektur, Fotomalerei, Zeitungskunst und dazwischen Oskar Maria Graf, den Daumen im Hosenträger und zwei Bleistifte in der Jackentasche.
Kathrin Baumstark, Ulrich Pohlmann: Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre. Hirmer, München 2019. 264 S., 39,90 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Die Geschichte des Guiness-Erben Tara Browne, der im Beatles-Song „A Day In the Life“ stirbt.
Paul Howard: I read the news today, oh boy. Picador, London 2016. 376 S., 18 Euro.
Reinhard J. Brembeck
EINE HILFE
...fürs Leben ist Michel Houellebecq immer, auch in dieser Textsammlung, in der er sich als sympathisch witziger Konservativer (nicht Reaktionär) feiert – gerade wenn er den französischen Staat und ein Krankenhaus anklagt, einen Wachkomapatienten letztlich umgebracht zu haben.
Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen. Essays. Dumont, Köln, 2020, 23 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
In diesem verpfuschten Beethoven-Jahr: die Live-Einspielung sämtlicher Streichquartette, weltumspannend aufgenommen auf allen fünf Kontinenten, und so gut wie von noch niemanden gespielt. Visionär, wild, zart, tyrannenmörderisch.
Beethoven Around the World. The Complete Stringquartets. Quatuor Ébène. Erato.
EIN GENUSS
Dieser witzige Roman von Mieko Kawakami liefert viel mehr, als sein verkaufsfördernder Machotitel verspricht: alles zwischen Hartz IV, Kapitalismus und Baby.
Mieko Kawakami: Brüste und Eier. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Dumont, Köln, 2020. 494 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
...sind die 10370 Scholien, mit denen der radikal reaktionäre Privatgelehrte und Modernefeind Gómez Dávila (1913-1994) die ganze Welt in Aphorismen erklärt.
Nicolás Gómez Dávila: Sämtliche Scholien zu einem inbegriffenen Text. Aus dem Spanischen von Thomas Knefeli u.a. Karolinger, Wien 2020. 920 Seiten, 48 Euro.
Susan Vahabzadeh
EIN GENUSS
Es ist nur ein schmales Bändchen, und doch öffnet Kristen Roupenian in ihrem Buch „Milkwishes“ die Fenster in drei Seelen. Es sind drei Kurzgeschichten, in denen es um Wahrnehmung und Erinnerung geht.
Kristen Roupenian: Milkwishes. Aus dem Englischen von Nella Beljan. Aufbau, Berlin 2020. 80 Seiten, 12 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Vor dem wahren Genie liegt die Zukunft wie ein offenes Buch. Umberto Eco hatte solch seherische Fähigkeiten – das wird einem klar, liest man die Essays, die er in den Neunzigern geschrieben hat, beispielsweise jenes darüber, woran man einen wiederauferstehenden Faschismus erkennen wird. Er ahnte sogar, dass eine gewisse Verwirrtheit dabei im Spiel sein würde.
Umberto Eco: Der ewige Faschismus.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Mit einem Vorwort von Roberto Saviano. Hanser 2020, 80 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Filmstar Fabienne (Cathérine Deneuve) hat ihre Memoiren geschrieben, und dabei ist sie so großzügig mit den Tatsachen umgegangen, dass es ihre Tochter (Juliette Binoche) auf die Palme bringt. Hirokazu Kore-edas „La Vérité – Leben und lügen lassen“ ist komisch, rührend – und ein traumhaftes Spielfeld für zwei der ganz großen Damen des französischen Kinos.
La Vérité, mit Ethan Hawke und Ludivine Sagnier. Prokino, DVD oder Blue-ray.
Marie Schmidt
EIN LIEBESBEWEIS
Nancy Cunard, britisches Intello-It-Girl und Verlegerin der literarischen Moderne, verliebte sich 1926 in den schwarzen Pianisten Henry Crowder, war beeindruckt, was sie mit ihm erlebte und ruinierte sich nahezu durch diese Anthologie afroamerikanischer Kunst und Kultur. Hier stilvoll aktualisiert, übersetzt, bebildert.
Karl Bruckmaier (Hg.): Nancy Cunards Negro. Mit einem Fotoessay von Olaf Unverzart.Kursbuch.edition, Hamburg 2020.227 Seiten, 24 Euro.
EIN VERMÖGEN
Eines ganzen, glamourösen, träumerischen, tragischen Lebens Geschichten, von gefühlvoll verstiegen bis parabelhaft präzise. Die kurze ist Clarice Lispectors größte Form: Diese famose Übersetzung neben Kafka ins Regal ordnen.
Clarice Lispector: Sämtliche Erzählungen. I: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. II: Aber es wird regnen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby. Penguin, München 2019/20. 415 und 281 Seiten, je 24 Euro.
EINE HILFE
Für jeden Klassiker, den jeder schon gelesen hat, kommt der Moment, ihn auch selber zu lesen. Dieses Jahr ist es leider Zeit für Susan Sontags Gedanken, dass auch Viren keinen Sinn haben, aber trotzdem dauernd welchen produzieren.
Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern. Aus dem Englischen von Karin Kersten, Caroline Neubaur, Holger Fliessbach. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2003. 148 Seiten, 9,90 Euro.
Tobias Kniebe
EIN GROSSER SPASS
Die Lacher des Jahres steckten in dieser Verfilmung des halb autobiografischen Romans „How To Build A Girl“ von Caitlin Moran. Ein 16-jähriges Arbeiterklasse-Mädchen auf dem holprigen Weg zur scharfzüngigsten und lustigsten Feministin Englands. Mit Rock’n’Roll, Klassenkampf, Sex und Selbsterkenntnis. Da will man dann auch gleich die Vorlage lesen.
Johanna – Eine (un)gewöhliche Heldin. Regie Coky Giedroyc, mit Beanie Feldstein. Amazon Prime, iTunes etc., 4,99 Euro.
Caitlin Moran: All About A Girl. Aus dem Englischen von Regina Rawlinson. Carl’s Books, 2015. 299 Seiten, 18,99 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Mit diesem Buch von Ibrahim X. Kendi ergaben die ganzen wütenden Debatten über Rassismus und Cancel Culture auf einmal eine tieferen Sinn. Fast eine Autobiografie, aber nebenbei versteht man die philosophischen Grundlagen der neuen Anti-Rassismus-Diskurse, ihre Vorstellung von Macht – und warum sie aus Gründen der Kohärenz mit einem Fundamentalangriff auf das bisherige wissenschaftliche Denken einhergehen.
Ibrahim X. Kendi: How To Be An Anti-Racist. Aus dem Engl. von Alina Schmidt, btb Verlag 2020. 416 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Das Sortieren von Dingen in die wunderschönen, nachhaltig produzierten Ordner und Folder der Mappenmanufaktur hat im Lockdown für jene innere Klarheit gesorgt, die man sich von Kunst oft wünscht. Mappenmanufaktur.com
Andrian Kreye
EIN GENUSS
In einem normalen Jahr wäre der südafrikanische Jazz-Pianist Nduduzo Makhathini live mit seinen Band-Ritualen, hymnischen Harmonien und frenetischen Improvisationen ein Star geworden. Sein erstes internationales Album ist der Beweis.
Nduduzo Makhathini: Modes of Communication. Blue Note, CD ca. 15 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Ella Fitzgeralds Grundeinstellung war bis ins Alter „frisch verliebt“. Nicht im Backfischmodus des Pop in Jungs. Ins Leben, in die Musik. Und in Berlin. Das Live-Album, das die Sängerin dort 1960 aufnahm war ein Höhepunkt. Zwei Jahre später kam sie wieder. Die Aufnahme, die nun von diesem Abend herauskam gehört zum Bestgelaunten in der Geschichte des Jazz.
Ella Fitzgerald: The Lost Berlin Tapes. Verve, CD ca. 16, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Liebreiz und Streichersätze sind im Jazz eine Zumutung. Auch Gitarrist Pat Metheny hat damit Schindluder getrieben. Doch diesmal gelingt ihm damit Ultra-Ästhetik.
Pat Metheny: From This Place. Nonesuch, CD ca. 14, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Fünfzig Jahre vor Black Lives Matter inspirierte Martin Luther King Herbie Hancock zu einem „politischen Statement aus Musik“ mit coolem Jazz-Nonett. Das gibt es nun als audiophile Neuauflage in der wunderbaren „Tone Poet“-Serie auf Vinyl.
Herbie Hancock: The Prisoner. Blue Note, Vinyl ca. 35 Euro.
Alex Rühle
EINE HERAUSFORDERUNG
Romane, die versuchen, den Klimawandel zu thematisieren, läppern sich meist zu Parsprotode – wie soll eine einzige Geschichte ein derart globales Problemkonglomerat veranschaulichen? John Freeman hat stattdessen 43 Autorinnen und Autoren gebeten, Essays, Erzählungen, Reportagen aus ihren jeweiligen Weltgegenden zu schreiben. Margaret Atwood schickt ein dystopisches Gedicht aus Kanada, in dem plötzlich extrem trockene Sommer die Ernten zu Staub verwandeln. Burundi, Island, Haiti, Nigeria. Laurent Goff, Sjón, Gaël Faye. Alle spüren sie längst den Wandel, und die kondensierten, jeweils lokal verortbaren Texte ergeben das Mosaik eines riesigen, winzigen blauen Tropfens Erde, der viel zu fragil für die Pandemie namens Mensch ist.
Tales of two Planets, hg. v. John Freeman. Penguin, London. 320 Seiten, 11,99 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Eine Kulturgeschichte der DDR, kundig und witzig, immer auf Seiten der Verdrängten, Verstummten, mit Blick fürs Skurrile (der Starindianer Gojko Mitić) wie Tragische. Selten so viele Namen notiert, die man jetzt aber unbedingt mal lesen muss: Erich Arendt. Chaim Noll. Oh, und die Gedichte von Inge Müller! Schatzkarte und Reiseführer in eine untergegangene Welt, zugleich ein Antidot gegen Ostalgie und die „Täternähe der deutschen Innerlichkeit“ (Hans Sahl).
Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens. Tropen, Berlin 2020. 426 Seiten, 24 Euro.
Felix Stephan
EIN LIEBESBEWEIS
Von Europa als Idee ist oft die Rede, von Europa als ménage à trois aber nur hier: Orlando Figes erzählt anhand dreier Biografien vom Urknall der Moderne als genuin europäischer Angelegenheit. Die Opernsängerin Pauline Viardot, ihren Ehemann Louis Viardot und Turgeniew gründen Europa gewissermaßen nebenbei.
Orlando Figes: Die Europäer. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Hanser Berlin, Berlin 2020. 640 Seiten, 34 Euro.
EIN GENUSS
War Flaubert der größte Romancier aller Zeiten? Die Antwort ist womöglich hier zu finden, in Elisabeth Edls Neuübersetzung der „Éducation sentimentale“.
Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2020, 800 Seiten, 42 Euro.
EINE HILFE
Apropos „Lehrjahre der Männlichkeit“: Niemand schreibt derzeit so erhellend über sein Leben als Mann wie der amerikanische Schriftsteller Ben Lerner.
Ben Lerner: Die Topeka Schule. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Suhrkamp, Berlin 2020. 395 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
An den Skandal, dass die Gedichte von Elke Erb jahrelang praktisch vergriffen waren, hatte man sich fast gewöhnt. Jetzt gibt es endlich eine neue Sammlung.
Elke Erb: Das ist hier der Fall. Ausgewählte Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2020. 210 Seiten, 20 Euro.
Claudia Tieschky
EIN LIEBESBEWEIS
Keiner kann ständig kochen. Gegen den Entzug hilft lesen. Bill Buford, früher Redakteur beim New Yorker, der 2006 seine Abenteuer als Küchen-Picaro in Italien („Hitze“) niederschrieb, zieht nun in „Dreck“ aus, um die französische Küche zu verstehen. Man könnte natürlich auch Alexandre Dumas’ irres „Wörterbuch der Kochkunst“ von 1873 lesen. Aber Bufords Mischung aus Erfahrungsgier und Snobismus ist amüsanter – und perfekt wiedergegeben übrigens in der Stimme von Wiglaf Droste, der „Hitze“ als Hörbuch einsprach.
Bill Buford: Dreck. Übersetzung von Sabine Hübner, Hanser. München 2020. 511 Seiten, 26 Euro. und Bill Buford: Hitze, gekürzte Lesung mit Wiglaf Droste, Hörverlag, München 2008. 4h 5min, 13,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses elegante, kalte Leben schreibender Großstädter der vordigitalen Zeit, erzählt im Jahr 1976 in umwerfend lakonischen Skizzen und Fragmenten. Dazwischen eine erinnerte Emigranten-Vergangenheit. Kann man bei klarstem Verstand irrlichtern, sich in ein anderes Foto von sich selbst denken? Aber ja.
Renata Adler: Rennboot. Aus dem Englischen von Marianne Frisch. Suhrkamp, Berlin 2014. 241 Seiten, 19,95 Euro.
EIN GENUSS
Glenn Gould: So you want to write a fugue? Sozusagen eine Anleitung zum Selbermachen. Weihnachtsmusik für dysfunktionale Zeiten: https://www.youtube.com/watch?v=HkxU6LdSGdY
Alexander Gorkow
EINE WIEDERENTDECKUNG
19 Jahre währte die Liebe zwischen Nadeschda und Ossip Mandelstam unter dem Terror Stalins, bis der Dichter in Sibirien starb. Die neue Übersetzung der „Erinnerungen“ Nadeschda Mandelstams durch Ursula Keller ist ein Schatz; er zeigt die Autorin in der Beobachtung der Schergen und Schleimer als große Reporterin. Nichts bleibt verborgen, auch nicht die mitunter im Schrecken zuckende Komik.
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 785 S., 44 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte.“ Schmerzhaft, schön und klar erklärt Annie Ernaux in „Die Jahre“ das Wesen des Memoirs. Im nun nachgereichten Band „Die Scham“ glänzt Ernaux erneut in großer, genauer Lakonie.
Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 111 Seiten, 18 Euro.
EIN GENUSS
50 grandiose Miniaturen zur deutschen Dichtkunst; luzide, respektlos, immer wieder auch schwer zum Piepen. Die Zielgruppe ist gewaltig: Wer meint, nicht nur gerne zu lesen, sondern auch gut zu schreiben, sollte sich in dieses Buch versenken. #supportyourlocalbookstore
Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz – Das Geheimnis großer Literatur, Rowohlt, 650 Seiten, 34 Euro.
Sonja Zekri
EINE WIEDERENTDECKUNG
Burhan Qurbani verlegt den Fall des Franz Biberkopf als Flüchtlingsdrama in den Drogenkiez der Hasenheide. Drei Stunden dauert der Trip aus Farben, Musik und Männerliebe. Über allem: Albrecht Schuch als Reinhold, ein Psychopath mit Laktoseintoleranz.
„Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani, DVD (Universal).
EIN AUFREGER
Zwanglos über Kannibalismus schreiben? Geht, die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata macht es vor. „Das Seidenraupenzimmer“ ist eine entgleiste Reise in die Kindheit und die Suche nach dem utopischen Ort Pohapipinpopopia.
Sayaka Murata: Das Seidenraupenzimmer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau, Berlin 2020, 256 Seiten, 20 Euro.
EIN GENUSS
Ein Buch über Lotto, Südsee, Zucker, kurz, über das Begehren. Dorothee Elmiger fügt Literatur, Kino und Geschichte zu einem sinnlichen Tagtraum zusammen.
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Hanser, München 2020. 272 S., 23 Euro.
EINE HILFE:
So hängt das also alles zusammen: globales Geld und Häuserkampf, Rendite und Entmietungsschikane. Wolfgang Schorlaus Ermittler trifft in Berlin unter anderem auf eindrucksvolle Kleinsäugetiere.
Wolfgang Schorlau: Kreuzberg Blues. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 416 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Ein Wunderwerk." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 26.2.2021

"... facettenreich und lebendig .... Große Geschichtsschreibung war schon immer große Erzählkunst. Auch Orlando Figes ist ein großer und kluger Erzähler." Peter Meisenberg, WDR3, 5.2.2021

"Unendlich spannend - auch mit Blick aufs Heute." Simon Hadler, ORF, 17.12.2020

"Wie entstand der gemeinsame europäische Kulturraum? Der angesehene britische Historiker Orlando Figes hat dieser kosmopolitischen Geschichte des Kontinent sein neues Werk gewidmet. Das Material, das seine Thesen untermauert, ist ungeheuer weit gestreut, jede Seite liefert neue Einsichten." Günther Haller, Presse am Sonntag, 29.11.2020

"Der Autor schafft es, die drei Biografien in ein großes Panorama zu betten und ein allgemeines Verständnis zu schaffen für die neue Art der Kulturproduktion, die im 19. Jahrhundert entstand. ... Figes' Buch ist ein Gewinn, gerade wenn man das ganze Panorama aus heutiger Warte betrachtet. Es zeigt nämlich nicht zuletzt auch eine Zeit, in der sich kulturelle Integration und nationaler Rückzug überkreuzten." Claudia Mäder, NZZ, 16.11.2020

"Figes ist selbst ein großer Erzähler. ... Die große Frage dieses wunderbaren und am Ende ziemlich melancholischen Buchs ist allerdings noch eine andere: Wenn Europa so wunderbar begann, warum flog der Kontinent dann im Ersten Weltkrieg auseinander? Figes beschreibt, wie die kosmopolitische Kultur mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zerbröselte." Tobias Rapp, Spiegel, 07.11.2020

"Orlando Figes ... gibt in 'Die Europäer' den souveränen Historiker, der die großen Bögen im Auge hat, auf vielen Themenfeldern enormes Detailwissen ausbreiten und gleichzeitig die große Geschichte auf die Vita einzelner Personen herunterbrechen kann. Der kühne Bauplan des Buches überzeugt, es liest sich gut, Figes bringt jede Menge Farbtupfen in Form von Geschichten und Zitaten ein und schildert überzeugend den technischen Epochenbruch." Alfred Pfoser, Falter, 23.10.20

"Figes' Buch ist glänzend gebaut, faktenreich ... ein erfrischend nüchterner, aber nie liebloser Blick auf die Kunst." Jan Brachmann, FAZ, 10.10.2020

"Ein monumentales, opulentes und ebenso gelehrsames wie unterhaltsames Werk." Sigrid Löffler, Radio Bremen, 11.10.2020

"Figes zeigt sich als glänzender, leichtfüßiger Erzähler mit einem genauen Auge für das scheinbar Nebensächliche, das erst Lebendigkeit erzeugt. Auf seiner Tour d'Horizon durch die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts zerlegt Figes außerdem die These der Nationalisten, wonach es so etwas wie unverfälschte, nationale Kunst gebe. 'Die Europäer' ist ein leidenschaftliches Manifest für Völkerverständigung und Kulturaustausch." Roman Kaiser-Mühlecker, SWR2, 09.10.2020

"Orlando Figes gelingt ein faszinierendes, unglaublich detail- und faktenreiches Porträt einer Epoche." Klaus Nüchtern, ORF Radio Ö1, 25.09.20

"Der Historiker Orlando Figes hat ein opulentes Werk darüber geschrieben, was es bedeutet, Europäer zu sein. ... Diese Bruchlinien und Dynamiken anzuerkennen und zu reflektieren, um der eigenen Freiheit willen, dazu lädt Figes mit seiner fulminanten Studie ein. 'Die Europäer - Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur' eröffnet erneut und anders jene 'Welt von Gestern' - als eine noch lange nicht auserzählte Geschichte." Volkmar Mühleis, DLF, 20.09.2020
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