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Privatpersonen, wissenschaftliche Forschungseinrichtungen, Vereine, Museen, Archive und Bibliotheken dokumentierten die Ereignisse des Ersten Weltkrieges in sogenannten »Kriegssammlungen«: Militaria, Notgeld, Ersatzfabrikate, Fotografien, Feldpost, Bücher, Zeitungen, Plakate und öffentliche Bekanntmachungen. Diese Kriegssammlungen gerieten bald in Vergessenheit und werden erst jetzt als Quellen für eine Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges wiederentdeckt. Aibe-Marlene Gerdes zeigt das breite Spektrum der unterschiedlichen Kriegssammlungen und fragt nach den Zielen und…mehr

Produktbeschreibung
Privatpersonen, wissenschaftliche Forschungseinrichtungen, Vereine, Museen, Archive und Bibliotheken dokumentierten die Ereignisse des Ersten Weltkrieges in sogenannten »Kriegssammlungen«: Militaria, Notgeld, Ersatzfabrikate, Fotografien, Feldpost, Bücher, Zeitungen, Plakate und öffentliche Bekanntmachungen. Diese Kriegssammlungen gerieten bald in Vergessenheit und werden erst jetzt als Quellen für eine Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges wiederentdeckt. Aibe-Marlene Gerdes zeigt das breite Spektrum der unterschiedlichen Kriegssammlungen und fragt nach den Zielen und Bedingungen dieses massenhaften Sammelns in den sogenannten Mittelmächten:
Warum wurde das Kriegssammeln ab 1914 derart populär, dass sich daraus eine regelrechte Bewegung entwickelte? Unter welchen spezifischen Bedingungen wurde der Erste Weltkrieg von den Zeitgenossen dokumentiert und welche konkreten erinnerungskulturellen Ziele verfolgten sie damit? Zudem untersucht die Autorin die ausgebliebene Rezeption: Warum gerieten diese Sammlungen so lange Zeit in Vergessenheit?
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2016

Deutsches Gebiss siegesgewiss
Sinnstiftender Auftrag: Ein Blick auf die Kriegssammlungen zum Ersten Weltkrieg

Das "Tiefste und Beste der Volksseele" zu dokumentieren war das Anliegen und die teleologische Leitvorstellung unübersehbar. Keine Kriegssammlung, die nicht in fester Erwartung eines deutschen Sieges angelegt worden war. Die Leidenschaft, literarische und materialienkundliche Dokumente zum Kriegsgeschehen zusammenzutragen, nahm im Deutschland von 1914 nicht gerade Formen eines Volkssports an, war aber in bürgerlichen Kreisen doch so populär, dass es für die Gründung eines Verbandes und die Herausgabe einer Zeitschrift reichte. Die affirmative Einstellung zum Krieg war gegeben und das väterliche Wohlwollen der angebeteten Heroen sicher. Erich Ludendorff schrieb einen fördernden Brief für das geplante Reichskriegsmuseum, und Feldmarschall von Hindenburg, ganz der sparsame Patriot, stiftete aus seinem Kleiderkasten die abgetragenen Uniformen.

Die Sammlerüberzeugung war: "ein neues Kapitel der Weltgeschichte" zu dokumentieren, "eine neue Stellung im Rahmen der Welt" und damit die "Grundlage für eine deutsche Weltkultur" zu erleben - so der Leiter des Kriegsmuseums Hannover noch im Jahre 1918. Die Sammler neigten nicht zur Bescheidenheit, sobald es um die Bewertung des zusammengetragenen Schriftguts ging: vielfach Feldpostbriefe, Zeitungsausschnitte und andere Gebrauchsliteratur. Die Stilisierung zum "Kulturwerk" war noch das Minimum. Der beamtete Sammler des hessischen Kriegszeitungsarchivs genierte sich nicht, das von ihm angelegte OEuvre auf eine Ebene mit den Monumenta Germaniae Historica zu heben.

Sammler und Sammlungen bestätigen die paranoische Weltsicht einer Nation und einen abgrundtiefen Provinzialismus, der bereits Henri Pirenne erschüttert hatte. Der belgische Gelehrte war unweit von Jena interniert worden und hatte in Gesprächen mit seinen deutschen Berufskollegen verblüfft zur Kenntnis nehmen müssen, wie schlecht informiert sie waren und wie wenig bereit sie sich zeigten, sich aus ihrer provinziellen Engstirnigkeit zu lösen und über den schmalen nationalen Tellerrand hinauszuschauen. Fundamental gesehen, waren diese Sammlungen nicht weniger als der nachgelieferte Beweis eines kollektiven Willens zur Weltdominanz, wie sie der in Deutschland ungeliebte Georges Clemenceau frühzeitig analysiert hatte. Die weitere Entwicklung bestätigte die Prognose des studierten Mediziners.

Die Autorin zitiert in diesem Zusammenhang die Analyse eines deutschen Historikers, welcher der Nation eine "fehlgeschlagene oder versäumte mentale Demobilmachung nach 1918" attestierte. Diese Cocktail-These geht an den Ursachen vorbei: nämlich dem ignoranten Provinzialismus der gebildeten Stände in Deutschland und insbesondere der Professoren. Mit dem Waffenstillstand vom 11. November rückte das teleologische Ziel der Kriegssammlungen außer Reichweite. Die Sammler sahen sich ihres sinnstiftenden Auftrags beraubt. Damit ordneten sie ihre Sammlungen fundamental in der Kategorie der siegesdeutschen Propaganda ein. Was wohl insgeheim schon immer die Idee war.

Es wäre spannend gewesen, zu erfahren, ob die raren, faktisch allesamt staatlichen Sammlungen in England und Frankreich ebenfalls mit teleologischer Ausrichtung angelegt worden waren. Widersprochen werden muss der kühnen Hypothese, dass die psychologische Kriegführung der Entente-Staaten ab Mitte 1918 keine deutsche Entsprechung gehabt habe. Georges Clemenceaus Kabinettschef, General Mordacq, hat es in seinem vierbändigen Augenzeugenbericht in anderer Erinnerung. Differenzierung vermissen lässt auch die pauschalisierende Formulierung von "der geistigen Mobilmachung der europäischen Intellektuellen". Zwischen der rabiaten Rechtfertigung höchst unerfreulicher Vorkommnisse wie der kurzerhand abgefackelten Universitätsbibliothek von Löwen ("furore teutonico diruta", wie es Kardinal Mercier zusammenfasste) oder der kurz und klein geschossenen Kathedrale von Reims und Claude Debussys Komposition "Noël des enfants qui n'ont plus de maisons" liegen gewaltige Unterschiede.

Es ehrt einen nachdenklicheren Gelehrten wie Max Planck immens, dass er später die Kraft fand, sich von der wilden Apologetik seiner Standeskollegen zu distanzieren. Korrekterweise wäre auch noch zu präzisieren, dass auf den Waffenstillstand von 1918 keine "Kapitulation" folgte (so hätten es sich die Republikaner im amerikanischen Senat gewünscht, und zwar "bedingungslos"), sondern ein Friedensvertrag. Die Leitinterpretationen aus dem "Dritten Reich" werfen offenkundig einen langen Schatten.

IGNAZ MILLER

Aibe-Marlene Gerdes: Ein Abbild der gewaltigen Ereignisse. Die Kriegssammlungen zum Ersten Weltkrieg. Klartext Verlag, Essen 2016. 433 S., 34,95 [Euro].

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