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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.1998

Der elektrische Reiter
Heldenfeier: Die erste kritische Ausgabe des "Don Quijote"

MADRID, im September

Man würde nicht unbedingt erwarten, daß ein zweibändiger "Don Quijote" in Spanien zur wichtigsten Veröffentlichung des Jahres werden könnte. Der Ritter von der traurigen Gestalt sitzt ja wahrlich fest im Sattel, als bronzenes Standbild wie als Plastikpüppchen, auf Speisekarten und in quäkenden Zeichentrickfiguren wie "Don Kojote" und "Sancho Panda". Die Buchhandlungen können Cervantes' Roman leicht in einem Dutzend verschiedener Ausgaben anbieten, vom Paperback auf grauem Löschpapier über kommentierte Studienausgaben bis zum illustrierten Hausbuch in Leder. Doch mit einigem Staunen mußten die Spanier jetzt vernehmen, was bisher nur Spezialisten bekannt war: daß es in fast vierhundert Jahren noch nie eine kritische Edition des "Don Quijote" gegeben hatte.

Bekanntlich werden kritische Ausgaben außerhalb der philologischen Gemeinde gern als Fußnotenhuberei belächelt, als subventioniertes Beschäftigungsprogramm für weltfremde Tüftler. Nicht so in diesem Fall. Das Cervantes-Institut, die staatliche Einrichtung zur Verbreitung der spanischen Kultur, gab die ehrgeizige Arbeit in Auftrag. Betraut wurde damit nicht etwa ein einzelner Gelehrter oder eine Forschergruppe, sondern das 1991 gegründete und aus Stiftungsgeldern finanzierte "Zentrum für die Edition der spanischen Klassiker". Dessen Generalsekretär, der sechsundfünfzigjährige Literaturwissenschaftler Francisco Rico, hat die neue Ausgabe "geleitet" und dafür unlängst den Menéndez-Peyalo-Preis erhalten. Es verwundert nicht, daß der Begriff des "Herausgebers" bei diesem Unternehmen nicht mehr angebracht erscheint. Der Hauch von Subjektivität, der darin spürbar bleibt, mag wehen, wo er will, doch nicht in der definitiven Ausgabe des bedeutendsten spanischen Klassikers.

Denn der Anmerkungsapparat des neuen "Don Quijote" - rund 1800 Seiten Essays, Erläuterungen und Kommentare gegenüber tausend Seiten Primärtext - ähnelt fast schon dem peniblen Rechenschaftsbericht einer global operierenden Firma. Es ist nicht einmal abwegig, sie "Cervantismo Internacionál, S.A." zu nennen. Neben dem Begrüßungswort von Francisco Rico, einer Einleitung des Präsidenten der Königlich-Spanischen Akademie und einem zweihundertfünfzig Seiten langen "Vorwort", das neun Spezialisten unter sich aufteilen, enthalten die beiden Bände die komprimierte Arbeit von weit über hundert Wissenschaftlern: Knapp sechzig Cervantes-Experten zwischen Buenos Aires und Oxford haben die einhundertsechsundzwanzig Kapitel des Romans erläutert; jeder darf auf engstem Raum zeigen, was er an Gelehrsamkeit zu bieten hat. Dazu kommen ein Redaktionsleiter, zehn Redakteure, sechs Redaktionsassistenten, sechs Mitarbeiter für das Vorwort und elf weitere für die Dokumentation. Ein umfangreicher Bildteil illustriert die verschwundene Welt des Edlen von der Mancha, vom Sattel für Maultiere (der auf spanisch anders heißt als der für Pferde) bis zu Spitzdolch, Muskete und Küchengerät. Die unkommentierte Auswahlbibliographie umfaßt 220 Seiten.

Für das allgemeine Lesepublikum dürfte die kritische Zubereitung des Romantextes kein besonderer Kaufanreiz sein. Und doch setzt allein sie schon einen neuen Maßstab für die Cervantes-Forschung. Auf rund fünfzig Seiten berichtet Rico von der verworrenen Editionsgeschichte des Romans. Da Cervantes, als er 1604 um die staatliche Druckgenehmigung für den ersten Teil des "Quijote" nachsuchte, kein Originalmanuskript, sondern um der besseren Lesbarkeit willen die Abschrift eines Schreibers vorlegte und da ferner auch die königlichen Zensoren ihre Hand im Spiel hatten, wimmelt es im frühesten gedruckten Text, der sogenannten "edición príncipe" (1604), von Fehlern, Inkonsistenzen und fremden Zutaten. Auch bei der zweiten Auflage im Jahr darauf, der eigentlichen Buchausgabe, und der abermals korrigierten Auflage von 1608 ist es oft unmöglich zu entscheiden, welche Fehler vom Setzer und welche von Cervantes stammen - oder, was die Sache noch heikler macht, wie Irrtümer von der Hand des Autors, soweit man sie identifizieren kann, überhaupt zu bewerten sind.

Da ist die Sache mit Sanchos Esel: Im Erstdruck des Romans ist das Tier plötzlich verschwunden, aber wer es gestohlen hat, wird nicht erzählt. Erst in der nächsten Auflage reichte Cervantes die fehlende Episode nach. Frühere Herausgeber des "Don Quijote" begnügten sich damit, der Einfachheit halber vom Erstdruck abzuweichen: Sie kollationierten die beiden Textfassungen und begründeten am Fuß der Seite, warum sie den Text so und nicht anders verbunden hatten. Dabei fielen chronologische Ungereimtheiten bei Raub und Wiedergewinnung des Grautiers unter den Tisch. Das Verfahren kaschiert, daß der erste Roman der Weltliteratur in einer schlüssigen Version nicht existiert.

Folgerichtig läßt Rico in dem von ihm verantworteten Text eine Sinnlücke, setzt eine Fußnote darunter, die nicht nur den Eselsraub, sondern auch alle weiteren Stellen, die von Cervantes' Versehen berührt sind, minuziös erläutert, und druckt die Episode im Anhang des Kommentarbandes: ein aufwendiges, aber tadelloses Verfahren. Anders als seine Vorgänger kann Rico damit Anspruch erheben, sämtliche Fassungen textkritisch verglichen und, wenn schon keinen unanfechtbaren, so doch einen mehr als diskussionswürdigen Text erstellt zu haben. Erstmals wird den "príncipes" von 1604 (erster Teil) und 1615 (zweiter Teil) nicht mehr eine Priorität eingeräumt, die auch zahllose Schreibfehler einschließt; erstmals gibt es einen umfangreichen kritischen Apparat, der jede Entscheidung nachprüfbar macht. Im Bewußtsein, daß philologische Details desto heimtückischer werden, je schärfer man sie ins Auge faßt, hat Rico den neuen Cervantes als "offene Ausgabe" bezeichnet. Die nächste Auflage wird bereits die ersten Korrekturen enthalten.

Aber es ist wie mit allen heroischen Modernisierungstaten: Etwas bleibt auf der Strecke, und man muß kein Nostalgiker sein, um eine gewisse Wehmut zu empfinden. In diesem Fall vollzieht eine Edition den endgültigen Abschied von einem spanischen Gelehrtentum, das seine beträchtlichen Leistungen allein, oft auf eigene Rechnung und fast immer ohne editionskritisches Spezialtraining erbrachte. Der neue Cervantes verstärkt den Eindruck, vernünftige Ausgaben älterer Literatur seien heute nur noch zu bewältigen, wenn finanzkräftige Stiftungen das Geld lockermachen, damit ganze Forscherteams im selben Trikot antreten können.

Grund genug, der Exegeten von vorgestern zu gedenken, deren Lebenskurve weniger von ihnen selbst als von unstillbarer Cervantes-Begeisterung gezeichnet wurde: mit langsamem Aufstieg, schmerzhaften Stürzen und der fragwürdigen Verheißung, allein in den Fußnoten späterer Editoren zu überleben. Einer von diesen Schriftgelehrten war Francisco Rodríguez Marín. Im Vorwort zu seinem "Quijote", der zwischen 1911 und 1913 in acht Bänden in Madrid erschien, berichtet er, wie er sich über einer anderweitigen Cervantes-Arbeit plötzlich vor Hunderten von Notizen zu jenem Roman sah, den er ursprünglich gar nicht im Visier gehabt hatte. Doch alle Pläne verzögerten sich, "denn 1902 wurde ich krank, 1903 verschlimmerte sich mein Leiden und 1904, an der Schwelle zum Tod, mußte ich mich einer riskanten chirurgischen Operation unterziehen". Von den Widrigkeiten ließ er sich allerdings nicht entmutigen; im Jahr darauf nahm er einen neuen Anlauf. Inzwischen hatte er, um den Roman zu kommentieren "etwa tausend nützliche Zettelchen angesammelt". Sechs weitere Jahre, so kalkulierte er, könnten gerade ausreichen, um die "acht- oder zehntausend notwendigen Zettel beisammenzuhaben". So geschah es.

Blättert man in Rodríguez Maríns Kommentar, der mehrmals überarbeitet und erweitert wurde, könnte man nachdenklich werden. Denn wo damals einer saß, sitzen heute hundert: Fortschritt gleich Masse. Diese hundert haben alle ihren eigenen Kopf, ihre Vorlieben und Prämissen. Und was tun sie damit? Sie tun sich zusammen und entschärfen den wissenschaftlichen Dissens im einträchtigen Nebeneinander der Methoden und Deutungen zwischen den Deckeln einer einzigen Großausgabe. So wie "Don Quijote" ein Roman der Vielstimmigkeit sei, schreibt Rico, müsse in einer Forschungsanstrengung dieses Ausmaßes auch der Vielstimmigkeit der internationalen Hispanistik Genüge getan werden. Das ist sicherlich wahr, aber vor allem ist es gut gemeint.

Der neue "Don Quijote" ist so zu einem Produkt für das nächste Jahrhundert geworden. Damit es auch jeder merkt, gibt es zusammen mit den beiden Bänden eine CD-ROM, die den gesamten Romantext enthält und innerhalb von Sekunden allerhand Listen, Konkordanzen und Abzählreime auf den Bildschirm wirft. Wer etwa "triste figura" (traurige Gestalt) eingibt, erfährt, daß "figura" im Roman 113mal, "triste" 105mal und die Kombination "triste figura" 51mal vorkommt. Es kostet den Leser kaum drei Minuten, jeden dieser einundfünfzig Sätze, die der Bildschirm sauber untereinander anordnet, auf eventuelle Variationsmuster zu durchsuchen. Früher waren dergleichen Ideen das Ergebnis genauer, wiederholter Lektüre und fanden irgendwann, wenn überhaupt, den Weg auf einen von Rodríguez Maríns zehntausend Zettelchen. Heute liegt der Text, elektronisch in hauchdünne Scheiben geschnitten, schon vollständig durchleuchtet vor uns, bevor wir überhaupt angefangen haben, ihm den ersten scheuen Gedanken zu widmen. Mag damit spielen, wer will - und finde eine Antwort auf die wahrhaft abgründige Frage, warum "Don Quijote" und "Sancho Panza" über den gesamten Roman hinweg exakt in derselben Häufigkeit vorkommen, nämlich 2143mal. PAUL INGENDAAY

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