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  • EAN: 8014399501873
  • Artikelnr.: 41657671
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2021

Wo nimmt die Frau bloß diese Töne her?

Die "Meistersinger" in Barrie Koskys Regie stehen dieses Jahr zum letzten Mal in Bayreuth auf dem Programm. Die provokante Inszenierung ist längst zu einem Publikumsliebling avanciert und die Besetzung dieser Wiederaufnahme eine reine Freude.

Ohne Molly und Marke ist alles noch viel trauriger. Die zwei kalbsgroßen, aber recht artigen pechschwarzen Wuschelhunde, mit denen Richard Wagner am 13. August 1875 um 12.45 Uhr bei 23 Grad Celsius Außentemperatur vom Gassigehen in seine Villa Wahnfried zurückkehrt, standen in diesem Jahr für die Wiederaufnahme der "Meistersinger von Nürnberg" nicht mehr zur Verfügung. "Die sind weg, leider", erzählt uns Barrie Kosky in der Pause am Bratwurststand neben dem Bayreuther Festspielhaus, "ins Ausland verkauft. Wir kamen nicht mehr an die ran. Und wegen Corona ist sowieso alles viel schwieriger geworden."

Koskys Meisterinszenierung wird in diesem Jahr zum letzten Mal auf dem Grünen Hügel gezeigt. Der Abschied fällt schwer, weil man diese Inszenierung jedes Mal mit Gewinn anders sieht. Bei der Premiere 2017 wurde man von der temporeichen Burleske des ersten Aufzugs, einer Konfettikanone voll amüsanter Pointen, mit Lachanreizen überschüttet und empfand danach den zweiten Aufzug als Durchhänger - bis zur erschreckenden Präsentation der Judenkarikatur Beckmessers in der Prügelfuge. Der dritte Aufzug, im Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes, dem Ort der Kriegsverbrecherprozesse 1946, schien sich dann fast hilflos zwischen Komödie und Tribunal zu winden.

Inzwischen, weil man vieles schon weiß, wirkt der erste Aufzug kaum noch komisch. Man notiert mit Beklemmung, wie Wagner den Juden Levi - virtuos gespielt von Johannes Martin Kränzle, der sich wegen stimmlicher Indisposition sängerisch vom umwerfend behänden Bo Skovhus vertreten lassen musste - bloßstellt, indem er ihn bei der christlichen Hausandacht nötigt niederzuknien. Eine Studie in Wagners Techniken des sozialen Sadismus. Man findet jetzt auch die fortwährende Selbstreproduktion Wagners, die aus dem Flügel krabbelnden kleinen Richards, nicht mehr drollig. Genauso, wie einem der Vortrag von Hans Sachs (im Kostüm Wagners) über echte Kunst vor den Meistersingern im ersten Aufzug plötzlich als gönnerhaftes Bramarbasieren vorkommt, so schwer erträglich wie die selbstbesessene Prosa von Wagners theoretischen Schriften.

Aber genau darum geht es Kosky: Er führt den Wagner-Liebhabern vor, dass sie nur zu gern das Leben im Werk wiederfinden möchten, wo es um possierliche Anekdoten geht. Aber sobald die unbequemen Themen im Raum stehen - Antisemitismus, Erotisierung des Opfertodes, Verehrung charismatischer Führer -, zieht man sich schnell wieder auf die Trennung von Kunst und Leben zurück. So billig kommen wir bei Kosky nicht davon. Und nun wird einem bewusst, dass im letzten Aufzug ja das fahnenschwenkende Volk genau dort sitzt, wo die Nazi-Kriegsverbrecher 1946 saßen. Stolzing und Sachs aber sind keine Angeklagten, sondern Zeugen, gar Entlastungszeugen.

Darin zeigt sich Koskys Respekt dafür, dass in Wagners Kunst mehr und anderes steckt als das, was Gegenstand eines politischen Tribunals sein kann und muss. Wagner ist in vielen Dingen der Stichwortgeber Hitlers und der Nazis gewesen, aber er war zugleich mehr als das, sonst würde er unsere heutigen Kunstanstrengungen nicht lohnen. Dass diese Inszenierung beides leistet, Bloßstellung und Klarstellung, dass sie sich zu einer Kunst bekennt, die aber unbefleckt nicht zu haben ist, macht sie so wertvoll, nicht nur für Bayreuth.

Das hört man freilich auch in dem tieftraurigen Stöhnen der Celli aus dem wunderbar aufgelegten Festspielorchester beim Vorspiel zum dritten Aufzug. Philippe Jordan erfasst als Dirigent mit sicherem Gespür, dass da ein Weltunglück durch den frühen Morgen des Johannistags geistert: Schuldbewusstsein, Selbstzweifel, aber auch erfahrungsgeprüfte Menschenliebe liegen in dieser Musik. Michael Volle als Hans Sachs verströmt sich im dritten Aufzug mit weich fließendem Bassbariton. Er singt diese Partie mit der unfasslichen Natürlichkeit intimen Sprechens. Dass Camilla Nylund, die sich längst auf das schwerere Fach einer Tosca vorbereitet, die Eva immer noch mit schnippischer Mädchenhaftigkeit singen kann, zeugt von Weisheit und guter Technik. Als glänzende Strauss-Sängerin unserer Zeit legt sie auch die Nuancen gereizten emanzipatorischen Aufbegehrens - bei Richard Strauss singt Arabella ja so unübertrefflich pointiert: "Sie wollen mich heiraten, sagt mein Vater" - in diese Wagner-Partie. Aber das Quintett im dritten "Meistersinger"-Aufzug stimmt sie dann mit erlesen-zartem Silberschimmer an: "Selig, wie die Sonne meines Glückes lacht."

Etwas amüsant ist zu hören, wie kräftig Daniel Behles Stimme nun gewachsen ist, sodass er als David reifer wirkt denn Klaus Florian Vogt als Stolzing. Vogt singt noch immer mit seiner alterslosen, fast knabenhaften Stimme, die gleichwohl wandelbar ist und sehr hübsch den Bass Veit Pogners imitiert, aber Behle ist nun kein Spieltenor mehr, sondern selbst ein - wenn auch noch lyrischer - Held geworden.

Katharina Wagner hat als Festspielleiterin viel zur musikalischen Konsolidierung in Bayreuth beigetragen. Volle, Behle, Vogt und Nylund sind ebenso Stützen eines neuen Festspielensembles geworden wie der fantastische Georg Zeppenfeld oder Günther Groissböck. Mag Groissböck auch den Wotan in der "Walküre" recht kurzfristig zurückgegeben haben, als Landgraf im "Tannhäuser" ist er ein Sänger von vokaler Majestät. Lise Davidsen singt als Elisabeth wieder den ganz vorzüglich von Eberhard Friedrich einstudierten Festspielchor mit dem Ruf "Haltet ein!" in die Knie. Wo nimmt die Frau bloß diese Töne her?! Wie kann man gleichzeitig so hoch, so laut und auch noch schön singen? Bald wird sie - wie einst Birgit Nilsson - Kronleuchter zum Zittern bringen.

Dieses Jahr konnte nun endlich Ekaterina Gubanova die Venus singen, die sich 2019 kurz vor der Premiere verletzt hatte und von der wirklich famosen Elena Zhidkova ersetzt worden war. Gubanova ist eine stimmlich sprungbereite, brillant glitzernde Venus, eine Guerilla-Aktivistin der Lust, die der immer wieder unbegreiflichen Kraftnatur von Stephen Gould als Tannhäuser standhält. Gegen diese Eruptionen muskulöser Vitalität weiß sich Markus Eiche als Wolfram von Eschenbach unerhört kultiviert mit wohltönend-wendigem Liedsängerbariton zu behaupten. Ihm geht es nicht nur um Kraft, er nötigt den Dirigenten Axel Kober auch zu gezielterer Phrasierung und größerer Beweglichkeit. Denn dem Dirigat fehlt die Frische, die Valery Gergiev vor zwei Jahren in das Jugendwerk gelegt hatte. Sicher, bei Kober ist alles am rechten Ort und in festen Händen, was man von Gergiev nicht in jedem Moment sagen konnte. Aber zugleich legt sich der Grauschleier der Vorhersagbarkeit über das Stück, was ihm nicht guttut.

Die Inszenierung von Tobias Kratzer bleibt ein Geniestreich. Die sinnfällige Integration der Videos von Michael Braun hat Seltenheitswert und Vorbildcharakter. Manni Laudenbach als blechtrommelndes Oskarchen und Kyle Patrick als Drag Queen Le Gateau Chocolat entern als Partisanen des Hedonismus einmal mehr das Festspielhaus. Und wieder gibt es zahlreiche Lacher, wenn die bärtige Tüllbombe auf roten Pumps am Porträt von Siegfried Wagner vorbeigeht und er ihr zuzwinkert oder neben dem Foto des notorischen Probenbeginnverschleppers Gergiev der Zettel klebt: "Ich komme später."

Kratzers Inszenierung beschreibt die Zerstörung der Psyche Elisabeths durch lustfeindliche Konventionen ebenso wie das Elend eines libertären Lebensstils, der entweder ins Prekariat oder in die Transformation von Lust zur Ware führt, wenn die Drag Queen ihre Haut zu Markte trägt. Auch hier spürt man beim Wiedersehen, wie die Tragödie an Gewicht gegenüber der Burleske gewinnt. Beide Inszenierungen setzten Maßstäbe, die es nachfolgenden Regisseuren schwer machen werden. Aber so muss das in Bayreuth auch sein. JAN BRACHMANN

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