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Eine Geschichte über Flucht, Liebe und Verrat und über die Tiefen der Ungewißheit In ihrem neuen Roman erzählt Antje Ravic Strubel von einer Flugzeugentführung und der schwierigen, vielleicht vergeblichen Suche nach der Wahrheit. Dabei hat sie sich von einer realen Geschichte inspirieren lassen: 1978 wurde eine Tupolew 134 von zwei Bürgern aus der DDR auf dem Flug Danzig-Schönefeld nach West-Berlin entführt. Die Entführung war nicht geplant, sie war eine Art Übersprunghandlung zweier bei ihrer Republikflucht verratener Menschen. Antje Ravic Strubel erzählt eine eigene Geschichte über Flucht,…mehr

Produktbeschreibung
Eine Geschichte über Flucht, Liebe und Verrat und über die Tiefen der Ungewißheit
In ihrem neuen Roman erzählt Antje Ravic Strubel von einer Flugzeugentführung und der schwierigen, vielleicht vergeblichen Suche nach der Wahrheit. Dabei hat sie sich von einer realen Geschichte inspirieren lassen: 1978 wurde eine Tupolew 134 von zwei Bürgern aus der DDR auf dem Flug Danzig-Schönefeld nach West-Berlin entführt. Die Entführung war nicht geplant, sie war eine Art Übersprunghandlung zweier bei ihrer Republikflucht verratener Menschen. Antje Ravic Strubel erzählt eine eigene Geschichte über Flucht, Verrat und Illegalität, über die politischen Konsequenzen dieser Tat, über den Wunsch, das alte Leben hinter sich zu lassen, und vom Unvermögen, vorgeprägten Lebensmustern zu entkommen, über Sehnsucht und die Vergeblichkeit von Liebe außerhalb der Konvention.
Der Roman bedient sich dabei dreier Zeitebenen, der Vorgeschichte der Flucht, der folgenden Gerichtsverhandlung auf dem FlughafenTempelhof und der Erinnerungsarbeit 25 Jahre danach, und findet dafür das Bild vom "Schacht". Der Text ahmt diesen Schacht nach, auf seinen verschiedenen Plateaus irrlichtert eine Erzählerin, die die Leser in immer schwindelerregendere Tiefen der Ungewißheit lockt. Beim Versuch, den damaligen Verrat aufzudecken, drängt sich ihr die Erkenntnis auf, daß keine Antwort ganz gesichert ist und das eigene Leben nie vollständig auslotbar, wie die dunkle Tiefe eines Schachts.
"Tupolew 134" ist eine deutsch-deutsche Geschichte, aber auch der Roman einer Sinnsuche in einer sehr genau beschriebenen menschlichen und geschichtlichen Topographie - spannend und meisterhaft dargestellt.
Autorenporträt
Antje Rávic Strubel, geb. 1974 in Potsdam, aufgewachsen in Ludwigsfelde, Ausbildung zur Buchhändlerin, Studium in Potsdam und New York. Antje Rávic Strubel lebt in Potsdam und in ihrem Ferienhaus im schwedischen Värmland.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Wer nicht liebt, verrät sich selbst
Das wunderböse Märchen vom verlorenen Märchenglauben: In ihrem Roman "Tupolew 134" erzählt Antje Rávic Strubel die Geschichte einer Republikflucht

Antje Rávic Strubel war vier Jahre alt, als der DDR-Bürger Detlev Tiede ein polnisches Flugzeug entführte, das von Warschau nach Ost-Berlin fliegen sollte. Am Ende landete es jedoch in West-Berlin, wo Scharfschützen der amerikanischen Armee auf der Landebahn des Flughafens Tempelhof warteten, die Waffen im Anschlag. Sie war fünfzehn, als die Mauer fiel, und nur wenig jünger, als sie als Schülerin den Arbeitsalltag im Automobilwerk Ludwigsfelde kennenlernte. Dort, in der kleinen Stadt unweit von Potsdam, wo Antje Rávic Strubel 1974 geboren ist, wurden jene schweren allradgetriebenen Lastwagen gebaut, die ihren Dienst in der ganzen sozialistischen Welt versahen. Sie transportierten Schutt und Erz, Kies und Zuckerrüben, und sie dienten als fahrbare Abschußrampen für die Raketen, deren Sprengköpfe für jenen Westen gedacht waren, in den Detlev Tiede die Tupolew mit einer Spielzeugpistole dirigierte.

Der Fall erregte damals ungeheures Aufsehen. Die polnische Linienmaschine war am 30. August 1978 pünktlich um 6.50 Uhr in Warschau gestartet und in Danzig zwischengelandet. Von dort sollte es weitergehen zum Ost-Berliner Flughafen Schönefeld, wo der Flug mit der Nummer Lo 363 für 8.55 Uhr erwartet wurde. Die Landung erfolgte aber erst eine Stunde und neun Minuten später - und zwar im Westen, in Tempelhof. Die Fakten lassen sich noch heute genau rekonstruieren, es gibt Protokolle der Verhandlungen, alle Zutaten für einen perfekten Thriller sind vorhanden. Ist dieser Roman also eine dramatische deutsch-deutsche Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, mit spektakulären Schauplätzen und überraschenden Wendungen? Nein, er ist etwas viel besseres: "Tupolew 134" erzählt das wunderböse Märchen vom verlorenen Märchenglauben in der DDR.

Nach etlichen Monaten in amerikanischer Untersuchungshaft wurde Tiede von deutschen Geschworenen und einem amerikanischen Richter freigesprochen. Die Zeitungen im Westen sprachen übereinstimmend von einem "höchst ungewöhnlichen Verfahren", die Presse in Polen und der DDR sah in dem Urteil eine Provokation, einen Skandal. Polnische Kommentare erregten sich über westdeutsche Fernsehbilder, die Tiede vor einer Kopie der Freiheitsstatue zeigten, und heuchelten Empörung über diese "Verhöhnung eines amerikanischen Symbols der Freiheit und Gerechtigkeit." So schützte der Sozialismus ein Freiheitssymbol des kapitalistischen Gegners vor der Beschädigung durch einen seiner Zöglinge, der ebenjene Freiheit wollte, die der Osten verweigerte und der Westen versprach. Dies ist nur eine der Kapriolen, die im "Fall Tiede" geschlagen wurden. Daß genau ein Vierteljahrhundert später eine junge Autorin aus der ehemaligen DDR diesen Fall zum Ausgangspunkt eines großen Romans gemacht hat, gehört zu jenen wunderbaren Kapriolen, wie sie nur die Literatur zustande bringt.

Tiede war damals nicht allein. Einen Tag nachdem der amerikanische Richter ihn und seine Begleiterin Ruske freigesprochen hatte, verurteilte ein Gericht in Ost-Berlin den West-Berliner Horst Fischer "wegen bandenmäßig organisierter Verbrechen sowie Fälschung von Personal- und Grenzübertritts-Dokumenten" zu acht Jahren Freiheitsentzug. Die ostdeutsche Nachrichtenagentur ADN schrieb damals, Fischer habe seine Tätigkeit als Bauleiter einer Hamburger Firma in der DDR ausgenutzt, um "Kontakte zu den kriminellen und asozialen Elementen Detlev Tiede und Ingrid Ruske zu knüpfen und sie zu veranlassen, unter Anwendung subversiver Mittel und Methoden die DDR ungesetzlich zu verlassen". Als hätte es auch nichtsubversive Mittel und Methoden gegeben, um die DDR zu verlassen.

Soweit die Tatsachen, die Antje Rávic Strubel aufgegriffen hat. Aber sie verläßt rasch den sicheren Boden der historischen Fakten und begibt sich auf das unsichere Gelände der Fiktion. Daß wir nie wissen können, wie es wirklich war, ist die einzige Gewißheit, die dieser faszinierende Roman vermittelt. Wenn Antje Rávic Strubel einen Thriller geschrieben hat, dann über die waghalsigen Abenteuer unserer Erinnerung, die funktioniert wie ein Kaleidoskop: Nach jeder kleinen Erschütterung zeigt sich sofort ein anderes Bild.

Strubels "Tupolew"-Variationen bieten verschiedene Versionen der Ereignisse. Nicht wie es war, sondern wie es auch gewesen sein könnte, will sie wissen. Dieses Interesse macht frei, und so muß sie nicht einmal die ursprüngliche Personenkonstellation beibehalten. Die Autorin läßt Ingrid Ruskes kleine Tochter verschwinden, fügt eine Freundin hinzu und erhält folgendes Quartett: Katja Siems, ihre Freundin Verona, beide Mitte Zwanzig, der gut zehn Jahre ältere Arbeitskollege Lutz Schaper und der westdeutsche Ingenieur Hans Meerkopf, dessen Firma mit dem Lkw-Werk in Ludwigsfelde kooperiert, wo ein großer Teil der Handlung spielt. Hier wird Metall gegossen und Werkzeug gefertigt, in Handgriffen, die sich über die Jahre nicht ändern: "Und plötzlich schießt einem ein Gedanke durch den Kopf. Der Gedanke nimmt langsam Form an, wie das Stück Metall da, in den Backen der Maschine vor einem. Man kühlt wieder ab. Aber man bleibt jetzt immer in dieser Form. Kommt nicht mehr heraus."

Im eher trostlosen DDR-Alltag, in dem an allem Mangel herrscht außer an Liebschaften und Affären, beginnt die unangepaßte, eigensinnige Katja rasch ein Verhältnis mit dem Ingenieur aus dem Westen, der sie und Schaper schließlich mit gefälschten Papieren über Danzig in den Westen schleusen soll. Aber Meerkopf wird Danzig nie erreichen. Daß er bereits verhaftet ist, als Katja und Schaper auf dem Bahnsteig des Bahnhofs von Gdansk auf ihn warten, können die beiden Flüchtlinge nicht wissen. Aber sie können es ahnen, denn sie sind gewohnt, mit jeder Art von Verrat zu rechnen. Erst aus der Verzweiflung über Meerkopfs Ausbleiben erwächst der Entschluß zur Flugzeugentführung. Denn die Rückkehr nach Ludwigsfelde ist schon längst nicht mehr möglich.

Ein Fall von "Republikflucht" aus Liebe also? Oder doch eher eine Flucht in die Liebe, die schließlich in die Flucht in den Westen münden sollte? Katja Siems weiß nicht, ob sie Hans Meerkopf liebt. Sie weiß nicht einmal, was sie vom Westen erwartet. Sie weiß nur eines ganz sicher: "Ich lebe nicht mehr gern so." In diesem kleinen Wörtchen "so" steckt die ganze DDR: ein Land aus Glas, durchsichtig und zerbrechlich, in dem unausgesprochene Angst herrscht vor den allgegenwärtigen Herren in dunklen Mänteln, vor ihren Zuträgern, vor Mißgunst und Verrat. Vielleicht, so könnte man meinen, will Katja Siems die DDR nicht deshalb verlassen, weil sie Hans Meerkopf liebt, sondern weil sie merkt, daß sie in der DDR nicht lieben kann.

Die Unmöglichkeit der Liebe unter den Bedingungen der Unfreiheit, das ist eines der großen Themen, denen dieser Roman sich auf eine Weise verpflichtet, die den Leser immer wieder in Staunen versetzt. Nach Christoph Heins frühem Roman "Der fremde Freund" (1982) zeigt hier noch einmal eine junge Autorin, welche Folgen die Verhältnisse in der ehemaligen DDR für das Gefühlsleben ihrer Bewohner hatten: Den einen wurden Wunden geschlagen, die nicht mehr heilen wollten, die anderen legten sich einen Panzer zu, der undurchdringlich war in jede Richtung: Nichts drang hinein, nichts konnte heraus.

Die gescheiterte, gestörte, nie zu sich selbst kommende Liebe ist eines der großen Themen dieses Buchs, der Verrat, eng mit der Liebe verbunden, ein weiteres. Meisterhaft schildert Antje Rávic Strubel, wie das Gift des Verdachts sich im Lauf der Jahre schleichend durch die Adern ihrer Figuren frißt. Jeder könnte Meerkopf verraten haben, Verona, Schaper und selbst Katja. Wie steht es um Veronas Stasi-Kontakte? Steht nicht Herbig, Katjas westdeutscher Anwalt, womöglich in den Diensten der Stasi? Und ist Verona in Wirklichkeit gar kein ehemaliges Heimkind, wie sie vorgibt, sondern die Tochter eines ostdeutschen Agenten im Westeinsatz? Alles scheint möglich: "Verrat ist immerhin das, was hier jeder am besten kennt."

Nein, in dieser DDR glüht kein utopischer Funke mehr, es ist eine "modernde Landschaft", unfruchtbar wie die Erinnerung daran. Antje Rávic Strubel hat einen beeindruckenden Roman geschrieben, der sich jeder Kategoriserung entzieht: ein DDR-Roman, dessen zentrale Themen über die DDR hinausweisen, ein Buch der Erinnerung, das die Erinnerungsarbeit in Frage stellt, ein böses, trauriges Märchen darüber, wie man den Glauben an Märchen verliert.

Überaus geschickt, ganz beiläufig und mit wunderbarem Gefühl für den richtigen Zeitpunkt greift die Autorin immer wieder das Motiv des Märchens auf, ohne je den Märchenton anzuschlagen. Hans Meerkopf, der Prinz aus dem Westen, trägt Siebenmeilenstiefel, die ihn über jede Grenze tragen. Am Ende stellt sich Schaper in seiner Zelle vor, wie sein Rivale um die Gunst Katjas sie beide verrät: Meerkopf wirft die Schuhe, zwischen dessen doppelten Sohlen er die gefälschten Ausweispapiere für Schaper und Katja versteckt hat, aus dem fahrenden Zug. Ein Tagtraum. Erträumt sich so ein Verräter den Verratenen zum Verräter?

Strubel schickt ihre Figuren durch die Stollen und Gänge ihrer Erinnerung. Die Metapher vom Bergwerk der Literatur erweitert "Tupolew 134" um das Bild vom "Schacht" der Vergangenheit, der viele Ebenen kennt. Es ist ein ölverschmiertes, rostzerfressener Bauwerk, in dem die Figuren ruhelos umherstreifen, auf der Suche nach der Wahrheit und zugleich auf der Flucht vor ihr.

Strubel macht diese unaufhörliche Bewegung deutlich, indem sie die Erzählung ständig zwischen drei Zeitebenen wechseln läßt, die jeweils mit kleinen Überschriften gekennzeichnet werden. Die Gegenwart des Romans, in der eine junge Journalistin die Ereignisse von damals recherchiert, wird als "oben" bezeichnet. "Unten" ist die Ebene von Flugzeugentführung und Gerichtsverhandlung, "ganz unten" erzählt die Vorgeschichte der Flucht, die bis zu Katjas Geburt im Jahr 1954 und den Kriegserlebnissen ihres Vaters zurückreicht.

Diese Erzählkonstruktion, kompliziert und simpel zugleich, ist starr gedacht und wird geschmeidig gehandhabt. Sie nimmt den Leser in Ost und West unwiderstehlich mit auf die Reise durch die Eingeweide der Vergangenheit: "Sie gehen hoch und runter und ganz hoch und ganz runter, und auf jeder Ebene stehen die, die nicht wissen, wohin sie sollen. Sie starren aus allen drei Ebenen der Zeit." Es sind Gespenster, von denen hier die Rede ist. Daß ihr starrer, leerer Blick uns nicht mehr losläßt, darin liegen Kunst und Meisterschaft dieses Romans.

Antje Rávic Strubel: "Tupolew 134". Roman. C. H. Beck Verlag, München 2004. 318 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2004

Rein in den Schacht
Wie noch nie gesehen: Antje Ravic Strubels „Tupolew 134”
„In West-Berlin”, berichtet der Spiegel in seiner Ausgabe vom 21. Mai 1979, „steht ein aus der DDR eingeflogener Flugzeugentführer vor Gericht: in einem US-Verfahren mit deutschen Geschworenen.” Am Morgen des 30. August 1978 war eine in Danzig gestartete „Tupolew 134” mit 62 Passagieren an Bord statt in Schönefeld in Tempelhof gelandet, entführt von dem DDR-Bürger Detlef Alexander Tiede und seiner Bekannten Ingrid Ruske. Mit den Worten „Willkommen im freien West-Berlin”, so schreibt der Spiegel weiter, habe ein US-Oberst die Luftpiraten auf dem Flugfeld begrüßt. Weil der Bundesregierung der Fall zu heikel war, übergab sie ihn an die alliierte Justiz. So fand der Prozess in einem Warteraum des Flughafens Tempelhof vor der US-Flagge statt, jedoch unter Hinzuziehung von zwölf Westberliner Laienrichtern, die das Los ermittelt hatte.
Es ist ein komplizierter und damals spektakulärer, heute aber weithin vergessener Kriminalfall aus der deutsch-deutschen Vergangenheit, den Antje Ravic Strubel in ihrem Roman „Tupolew 134” ans Licht holt. Wer den Fall ans Licht holen will, der muss „rein in den Schacht”. Der Schacht, er ist die Leitmetapher für Strubels Umgang mit einer Wahrheit, die nach 25 Jahren nicht mehr offen zutage liegt und nie zutage lag, mit lang zurückliegenden, strittigen Tatsachen, die sich weder zur Dokumentation noch zur Fiktion fügen wollen. „Wenn überhaupt was für Sie dabei herausspringen soll, müssen Sie mir folgen. Sie müssen schon rein in den Schacht”, so sagt die damals mitangeklagte Katja Siems (wie sie im Roman heißt) viele Jahre später einer Journalistin, die ihrer Geschichte auf der Spur ist. Es sei ein Schacht „mit Rost an den Wänden und dem Geruch nach Öl”. In drei Etagen liegen Gänge übereinander, die durch Eisenleitern miteinander verbunden sind. „Ganz unten”, „unten” und „oben”, das sind die drei Niveaus im Schacht, und das sind die drei Zeitstufen, zwischen denen Strubels erzählerische Rekonstruktion des damaligen Geschehens behende hin- und her springt. „Sie werden sich möglicherweise um Ihre Wahrheit betrogen sehen”, gibt Katja Siems der Journalistin mit auf den Rechercheweg. Denn alle Gewissheiten liegen auf dem Grund des Schachts.
Mutmaßungen und Ansichten
Nun ist Antje Ravic Strubels beeindruckender Roman nicht der erste, der Schwierigkeiten mit der Wahrheit hätte, beziehungsweise von diesen Schwierigkeiten zehrt. Gewiss hätte man den Spiegel-Stoff von 1979 auch für einen glatten Tatsachenroman verwenden können, aber dafür ist Strubels literarische Intelligenz und Ambition zu groß. Fast wie eine Reprise der altbekannten „Krise des Erzählens” liest sich ihr Roman: Gewissheiten stehen in Frage, verlässliche Standpunkte finden sich nirgends, lineare Handlungsverläufe werden aufgesplittert, kommentieren und dementieren sich gegenseitig, kurz: der Glaube an die Möglichkeit einer sprachlichen Repräsentation der Wirklichkeit, sei sie nun juristisch oder literarisch, wird in Zweifel gezogen. „So wird es gewesen sein”, heißt eine der Lieblingsformulierungen der Autorin, oder: „Eine Geschichte hat viele Schlupflöcher”. Man fühlt sich an die Literatur der sechziger Jahre erinnert, der sich die Wirklichkeit auch nur in „Mutmaßungen” und „Ansichten” erschloss.
Natürlich sind solche Armaturen der literarischen Skepsis seither genauso im Schacht der Vergangenheit verschwunden wie die Erinnerung an die Flugzeugentführung von Danzig nach Tempelhof im Jahre 1978. Wenn wir Antje Ravic Strubels Roman für gelungen, ja für sehr gelungen halten, dann nicht wegen der Vermischung der Erzählebenen und -perspektiven; und auch nicht wegen der womöglich vermittelten Erkenntnis, dass der Wunsch nach einer einvernehmlichen Wahrheit auf ewig im kühlen Grund des Schachts begraben liegt. Bei allem Bemühen, dem landläufigen Realismus ein Schnippchen zu schlagen, liegen die Stärken des Romans eben hier: in einem klugen, souveränen, seiner Mittel bewussten Realismus, der entfernte Dinge, Orte und Menschen auf bestechende Weise zu vergegenwärtigen versteht. Wer sich einmal ein Bild vom Leben in der Deutschen Demokratischen Republik in den späten siebziger Jahren machen will, der muss zu diesem Roman greifen.
Im IFA-Automobilwerk in Ludwigsfelde nimmt die unwahrscheinliche Entführungsgeschichte ihren Ausgang. Hier arbeiten Lutz Schaper und Katja Siems in derselben Schicht in Halle 11 und träumen bisweilen vom Westen und von der Republikflucht. Die Gedankenspiele nehmen Gestalt an, als Hans Meerkopf in Ludwigsfelde erscheint, ein weltgewandter Ingenieur aus dem Westen, der mit routiniertem Charme sogleich ein Verhältnis mit Katja eingeht. Meerkopf, so heißt bald schon der Plan, soll der Fluchthelfer sein, der Lutz und Katja mit gefälschten BRD-Pässen nach Danzig folgen soll, worauf die drei dann das Fährschiff besteigen werden, das sie in einen westlichen Hafen bringt. Aber Hans, so heißt es refrainartig, ist nie in Danzig angekommen. Nie ist er dort dem Paris-Leningrad-Express entstiegen (denn die Staatssicherheit hatte ihn zuvor abgefangen); und mit seinem Nichterscheinen hat er die Übersprunghandlung in Gang gesetzt, mit der Lutz Schaper in einer „Tupolew 134” plötzlich zum Hijacker wird, bewaffnet mit nichts als einer achtzig Jahre alten Schreckschusspistole. Die Sache geht gut aus, oder doch wenigstens glimpflich, denn sie ist zugleich ein Politikum, ein Fall, an dem sich auch Bundeskanzler Helmut Schmidt die Finger nicht verbrennen will. So gnädig geht die amerikanische Justiz mit Lutz Schaper ins Gericht, als wollte sie seine Tat zur Nachahmung empfehlen.
Alle Facetten dieses sonderbaren Falles, die erotischen ebenso wie die politischen, bringt Antje Ravic Strubel mutmaßend, sondierend, abwägend zur Sprache. Am meisten bestechen aber die Szenen und Passagen, in denen, jenseits des Falles, ruhige und, man möchte sagen, gerechte Bilder vom Alltag in der DDR gegeben werden. Etwa das folgende, gesehen aus der Perspektive des Westlers Meerkopf: „Er fuhr von Potsdam nach Zwickau, von Leipzig nach Greifswald und später bis hinunter nach Suhl. Die Felder, die Häuser, die Menschen sahen sich gleich. Äußerlich waren sie nicht verschieden. Auch das Land hatte ihm zuerst keine Bedenken gemacht. Äußerlich war es begrenzt. Er wusste von Minenfeldern und Todesstreifen, er war oft genug die Transitstrecke gefahren. Aber einwärts gekehrt war es offen, es war weitläufig in die Tiefe. Wenn er die Menschen sah, wenn er sie länger betrachtete, dann sah er das Land hinter dem Gesicht. Er sah Felder und Häuser nach innen gekehrt, er sah, wie Straßen, Gleise und Autobahnen sich in die Köpfe hinein verlängerten . . .” Betont karg ist Antje Ravic Strubels Sprache, aber manchmal beginnt sie zu leuchten; und dann fliegt sie über Landschaften, innere wie äußere, wie wir sie so noch nicht gesehen haben.
CHRISTOPH BARTMANN
ANTJE RAVIC STRUBEL: Tupolew 134. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2004. 320 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Als großen, "faszinierenden" Roman und Thriller über die "waghalsigen Abenteuer unserer Erinnerung" feiert Rezensent Hubert Spiegel im Aufmacher der Herbstliteraturbeilage diesen Roman über eine Republikflucht aus der DDR. Beeindruckt ist der Rezensent besonders von einem der großen Themen dieses Romans, nämlich der "Unmöglichkeit von Liebe unter den Bedingungen der Unfreiheit". Ausgangspunkt des Buches ist seinen Informationen zufolge die Entführung eines polnischen Verkehrsflugzeugs 1978 durch einen DDR-Bürger, der die Landung in Westberlin erzwang und später von deutschen Geschworenen und einem amerikanischen Richter freigesprochen wurde. Doch rasch verlasse die Autorin "den sicheren Boden der historischen Fakten" und begebe sich auf das unsichere Gelände der Fiktion. Nicht wie es war, sondern wie es gewesen sein könnte, habe Strubel beschäftigt, weshalb sie nicht einmal die ursprüngliche Figurenkonstellation der Geschichte beibehalten habe. Für Spiegel ist auf diesem Weg nicht nur eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, sondern das "wunderböse Märchen vom verlorenen Märchenglauben in der DDR" entstanden. Die Erzählstruktur lobt er als kompliziert und simpel zugleich. Kunst und Meisterschaft der Autorin haben ihn auf eine unwiderstehliche Reise durch die "Eingeweide der Vergangenheit" mitgenommen, und der "starre, leere Blick" ihrer "Gespenster" hat ihn nicht mehr losgelassen.

© Perlentaucher Medien GmbH"
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