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Produktdetails
  • Bibliothek der Böhmischen Länder
  • Verlag: Arco, Wuppertal
  • Seitenzahl: 404
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 564g
  • ISBN-13: 9783980841016
  • ISBN-10: 3980841014
  • Artikelnr.: 11210432
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2003

Mit Flaubert im Sportwagen
Ein Roman des früh verstorbenen Walter Seidl in Neuausgabe

Früh verstorbene Schriftsteller lassen Freunde, Leserschaft und Kritiker in einiger Verwirrung zurück, und wenn sie, aus vielerlei Gründen, lange vergessen waren, wird es immer schwieriger, die Frage nach ihren unbestreitbaren Talenten zu beantworten. Der sympathische Walter Seidl ist so ein Fall; geboren im Jahre 1905 im schlesischen Troppau, ist er heute wenigen Literaturhistorikern eher als junger Prager Autor bekannt, der als Redaktionskollege Max Brods im berühmt liberalen "Prager Tagblatt" arbeitete. Manchen seiner Zeitgenossen war er als Verfasser grotesker Komödien und polemischer Prosa vertraut, ehe er im Jahre 1936 seinen Roman "Der Berg der Liebenden" publizierte und, wie der Held einer dekadenten Novelle, auf einer Reise nach Capri infizierte Austern aß und in einem Krankenhaus in Neapel im Alter von zweiunddreißig Jahren an einer Krankheit starb, die man als Typhus diagnostizierte. Es ist nur angemessen, daß Dieter Sudhoff eine Wiederentdeckung Seidls unternimmt, indem er gerade den "Berg der Liebenden" neuerlich herausgibt, in dem Seidl vor Augen führt, was er kann und was nicht.

"Der Berg der Liebenden" ist ein wahrhaftiges Lebensbuch, denn Seidl zögert nicht, Ereignisse und Figuren bis an den Rand mit seinen eigenen intimen Erfahrungen zu sättigen, ohne Scheu, sich selbst eine Blöße zu geben. Sein Hermann ist (wie Seidl selbst) Sohn eines kornblumenblauen deutschnationalen Politikers und Reichsratsmitglieds aus der k. k. schlesischen Provinz. Der Junge wird in einem Militärinternat erzogen, das er gerade noch, wie der junge René Rilke, zwischen Erniedrigungen und militärischen Heroenträumen erträgt. Nach dem Tode seines Vaters an der Front und einem Skandal im Internat darf er in einem nordböhmischen Realgymnasium weiterstudieren, wo er, allerdings an der Seite eines tschechischen Schulfreundes, zum ersten Male Zeuge nationaler Konflikte wird, die ihn eher ekeln als begeistern.

Dann plötzlicher Szenenwechsel; und der junge Mensch findet sich als Student in Grenoble, wo er sich der Philologie und der Literatur befleißigt, in der Mitte des Buches, mit welcher der Roman steht und fällt - nicht allein durch seine Analysen deutsch-französischer Antagonismen (er hat ja einige Erfahrungen von Böhmen her), aber entscheidender noch durch seine aufflammende Liebesleidenschaft zu Germaine, einer bretonischen Adeligen und verheirateten Frau, und seinen zuletzt vergeblichen Versuch, den Liebenden, die Frau und ihren gelehrten Gatten in einer abstrakten Dreifaltigkeit zu vereinen. Die heftige und atemlose Affäre zerbröckelt bald und zwingt ihn, gegen den Willen Germaines und wie selbstzerstörerisch, in seine Heimat zurückzukehren, wo er eine Stellung in der modernsten Industrie finden will.

In einem dumpfen Prager Wirtshaus verteidigt er ein mißhandeltes Kind gegen den rüden Vater, der dem jungen Deutschen ein Bierglas gegen den Kopf schmettert - ein sinnloser Tod, wenn wir nicht wüßten, daß Germaine von ihm schwanger ist und er nicht allein das arme Prager tschechische Kind behüten will. Nichts von schlesischem Blut und Boden jedenfalls, und der Blick öffnet sich, in Nordböhmen, Frankreich und Prag, auf die intellektuelle und politische Szenerie Europas gerade zu Beginn der katastrophalen dreißiger Jahre.

Der junge Autor wußte selbst, wie schwer es ihm fiel, die Feuer des Autobiographischen mit der kühleren Zeitchronik zu versöhnen. Er hatte allen Grund, Flaubert für sich zu entdecken und als Vorbild zu rühmen, Flauberts "großartige Freiheitlichkeit", seine "abgründige Unvoreingenommenheit" und "unerbittliche Formvollendung", ja artistische "Askese", die aber nirgends einer "Treue zur Wirklichkeit" entsagt. Man wünschte sich nur, er hätte Flaubert immer im Auge behalten, auch und gerade dort, wo sich seine jugendliche Erfahrung an den Forderungen der Kunst reibt. Seidl hat ungewöhnliche lyrische Genauigkeit, wo er von den "Madrigalen der Zeitungsausrufer" schreibt, über den Herbst in Grenoble, "die Abendhimmel wurden strenger, sie hatten die Farbe blauen Stahls", oder den letzten Blick auf dem Bahnhof: "Germaine war nichts mehr als ein letzter schmerzlicher Schein, der sich rasch verlor."

Er sah noch nicht, daß er eine ungewöhnliche und scharfäugige Begabung für das Analytische besaß, Stendhal eher als Flaubert, ob er nun von den Konflikten der Nationen, deutsch-tschechische oder französisch-deutsche, berichtete, oder versuchte, intime Verhältnisse zu artikulieren, so Hermanns beginnende Freundschaft mit Germaine, die "auch ohne körperliche Nähe nicht anders als Liebe genannt werden darf". Aber gerade da gerät er mehr als einmal an seine Grenze; und der tschechische Germanist Zdenek Marecek, einer der wenigen, die sich jüngst mit Seidl beschäftigten, spricht nicht zu Unrecht von der Gefahr der Kolportage. "Mit einem Urlaut stöhnenden Jubels stürzte er sich auf sie, warf sie aufs Lager hin, vergrub sich mit Lippen und Händen und seinem ganzen heißen Ich in sie ... ihm schwindelte, er sank ins Bodenlose seiner Wonne."

Dieter Sudhoffs informatives und lesenswertes Nachwort, das sich eine Apologie Seidls ohne viele Abstriche angelegen sein läßt, hebt mit Recht die frühe Förderung hervor, die Seidl durch den Prager Übersetzer Otto Pick und Max Brod zuteil wurde. Es war Seidls Geschick, mit der schlesischen Provinz und dem politischen Erbteil seines deutschnationalen Vaters, als Sohn und als Schriftsteller zu brechen, ohne wirklich die Chance gehabt zu haben, als Zugereister und wenige Jahre vor der deutschen Okkupation in der Prager deutschen Literatur einen wirklichen neuen Heimatort zu finden. Er schwebte so, in seinen journalistischen Arbeiten und in seiner Neigung zur modernen Musik, wie schwerelos in seinem eleganten Sportauto und immer mit einem Monokel im Auge dahin, und selbst Max Brod gestand in seinen Memoiren, die Spur Seidls sei ihm verlorengegangen.

Gerecht und verdienstvoll, daß Walter Seidl als einer der ersten in der neuen "Bibliothek der böhmischen Länder" des Wuppertaler Verlages Arco erscheint, selbst wenn ich mich des Verdachts nicht erwehren kann, daß das alte und periphere Café Arco, wo zumeist biedere Geschäftsreisende auf die Abfahrt ihres Zuges warteten (der Bahnhof lag gegenüber), nicht ganz "die Lebensader einer enorm fruchtbaren Schriftstellergeneration" von Deutschen, Tschechen und Juden war, wie es die mythisierende Erklärung des Verlages postuliert. Im Hinterzimmer waren ja manche von ihnen zu finden, aber selbst die Mittelschülerin Milena Jesenska saß nicht da, um an den Lippen Franz Kafkas zu hängen, denn sie suchte hier eher die Nähe des talentierten Bankbeamten Ernst Pollak, den sie später (leider) heiratete. Jetzt wäre es der wünschenswerte nächste Schritt, Seidls Aufsätze zur Musik und seine Reiseberichte zum ersten Male in einer Sammlung zu publizieren und seine vielen Talente zu bekräftigen.

PETER DEMETZ

Walter Seidl: "Der Berg der Liebenden". Erlebnisse eines jungen Deutschen. Mit einem Nachwort herausgegeben von Dieter Sudhoff. Arco Verlag, Wuppertal 2002. 404 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gerecht und verdienstvoll findet Rezensent Peter Demetz, dass der frühverstorbene, eher als Prager Redaktionskollege Max Brods bekannte Walter Seidl als einer der ersten in der neuen "Bibliothek der böhmischen Länder" des Wuppertaler Arco Verlags erscheint. Trotzdem hätte er noch lieber die Publikation von Seidls Aufsätzen zur Musik oder seiner Reiseberichte gesehen. Denn der vorliegende Roman zeigte dem Rezensenten nicht nur, was Seidl konnte, sondern auch was er nicht konnte. So schätzt er an diesem autobiografischen Lesebuch die ungewöhnliche und scharfäugige Begabung seines Autors für das Analytische. Begeistert zeigt sich der Rezensent sogar von Steidls ungewöhnlicher lyrischer Genauigkeit, mit der er Zeitphänomene verdichtet auf den Punkt zu bringen verstand. Doch der mit diesem Buch unternommene Versuch, "die Feuer des Autobiografischen" mit der "kühleren Zeitchronik" zu versöhnen, gerät in Demetz' Augen immer wieder an seine Grenzen. Dennoch findet er Seidls Wiederentdeckung lohnend und das Nachwort von Herausgeber Dieter Sudhoff informativ und lesenswert.

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