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In den Statistiken ein schwarzes Loch, besessen von Abstiegsängsten und Wohnstrategien, mit einem ausschließlich materialistischen Verständnis von Kultur, einer entpolitisierten Sicht auf Politik, einer absurden Zahlenversessenheit, einem erotischen Verhältnis zum Ressentiment, nicht aber zur Selbstkritik ist die Mittelklasse eine unzuverlässige Größe. Wie kommt es dann, dass sich diese wunderliche, zur Revolte unfähige Bevölkerungsschicht selbst als Norm betrachtet und andere als anormal abstempelt? Sind die Mittelklassen die wahren Feinde der Demokratie?Nathalie Quintanes Text tut weh, wo es…mehr

Produktbeschreibung
In den Statistiken ein schwarzes Loch, besessen von Abstiegsängsten und Wohnstrategien, mit einem ausschließlich materialistischen Verständnis von Kultur, einer entpolitisierten Sicht auf Politik, einer absurden Zahlenversessenheit, einem erotischen Verhältnis zum Ressentiment, nicht aber zur Selbstkritik ist die Mittelklasse eine unzuverlässige Größe. Wie kommt es dann, dass sich diese wunderliche, zur Revolte unfähige Bevölkerungsschicht selbst als Norm betrachtet und andere als anormal abstempelt? Sind die Mittelklassen die wahren Feinde der Demokratie?Nathalie Quintanes Text tut weh, wo es nötig ist. Und gerade wenn sie behauptet, dieser Text wolle nicht zum Lachen bringen, tut er es. Denn was die Mittelklasse kennzeichnet, "ist eine strikte Trennung zwischen dem, was wir leben, und dem, was wir behaupten". So ist "Wohin mit den Mittelklassen?" weder Chronik noch Pamphlet, sondern eine scharfe Bestandsaufnahme der heutigen Klassengesellschaft.
Autorenporträt
Quintane, NathalieNathalie Quintane, 1964 in Paris geboren, ist Autorin eines engagierten, viel beachteten und umfangreichen poetischen, prosaischen und essayistischen Werks. Sie lebt in Paris.

Hamm, ClaudiaClaudia Hamm, geboren1969, ist Regisseurin, Autorin von Theatertexten und Essays und Literaturübersetzerin, v.a. von Emmanuel Carrère, aber auch Mathias Énard, Édouard Levé, Nathalie Quintane, Ivan Jablonka, Joseph Ponthus, Joseph Andras. Für ihre Übersetzung von Carrères Das Reich Gottes wurde sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Übersetzerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2016.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2018

Die Rache
als Lebensinhalt
Nathalie Quintanes Suada gegen
die französischen Mittelschichten
Immer wenn vom wirtschaftlichen Aufstieg bisheriger Armutsregionen die Rede ist, wird auch von den „neuen Mittelschichten“ geredet, die sich da entwickeln. Mittelschichten sind geradezu das Kennzeichen für Schwellenländer. In Europa und Amerika dagegen wird der Mittelschicht überall besorgt der Puls gefühlt, denn es scheint ihr nicht gut zu gehen. Sie fühlt sich bedroht, ist es vielleicht auch, jedenfalls scheinen ihr Aufstiegsperspektiven längst verschlossen.
Unten drängt das Prekariat (illegitimes Kind der Arbeiterklasse), oben verschließt sich eine kleine Zahl Superreicher, die transnational agieren, im Gegensatz zur Mittelschicht, die noch auf den nationalen Rahmen angewiesen bleibt, auch wenn es sie überall gibt. Mittelstandspanik scheint auch die Quelle vieler politischer Vergiftungen. Die Diagnosen sind bekannt.
Nathalie Quintane, eine brillante französische Essayistin, hat 2016 ein vernichtendes Zeitbild vorgelegt, das mit den „classes moyennes“ ihres Landes abrechnet. Sie exerziert ein karikaturistisch-physiognomisches Schreiben, das in der Nachfolge von Baudelaires Belgien-Schriften steht und deutsche Leser an Karl Heinz Bohrers Polemiken zu Westdeutschland in den Achtzigerjahren erinnern kann. Wir lesen Literatur, nicht Soziologie. Die Form ist die Suada, die Tonlage absichtsvoll hasserfüllt. Gesellschaft als Fluch, dieses urfranzösische Motiv hatte Didier Eribon zuletzt wieder auf die Oberschicht und die gebildeten Eliten Frankreichs angewendet, bei Quintane greift es nach der Welt der Einfamilienhäuser, der Spiegelschränke, des gezierten Teetrinkens und der kleinen Bildungspatente.
Gesamtbilder erscheinen hier nur als Metaphern: Waren die Mittelklassen einst der breite Äquator eines Heißluftballons, sind sie heute am Flaschenhals über dem Bauch einer Orangina-Flasche. Die Gefühlslage ist das Ressentiment – Nietzsche wird ausführlich zitiert –, die Rache als Seeleninhalt. Keine Revolte, nirgends, nur Verbissenheit, Angst vor Unbeherrschtheit, Aufregung über Störungen, von deren Existenz man doch „schon immer gewusst hat“. Quintane arbeitet mit dem Phrasenbestand der öffentlichen Rede. Das deutsche Publikum muss das vergleichend lesen, um seinen Spaß daran zu haben – mittelständische Weinkennerschaft (von Max Goldt als „ersatzgräflich“ charakterisiert) kennt man hierzulande ja auch.
Fragt sich, was mit den lustigen Beobachtungen jenseits immer nützlicher Aggressionsabfuhr bewiesen wird? Quintane spricht von den Mittelklassen im Plural, vielleicht um deren Fragmentierung – kein Klassenkampf! – zu bezeichnen. Auffällig ist, dass nicht einmal erwägungsweise der in Frankreich ja durchaus geläufige Begriff des Kleinbürgertums vorkommt. Wer eine historische Langzeitperspektive sucht, könnte zu Hans Magnus Enzensbergers „soziologischer Grille“ von 1976 greifen, die „Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums“ handelte. Enzensberger lieferte damals eine saubere Klassenanalyse einer kaum greifbaren, rhizomartigen, unkrauthaft unausrottbaren Klasse „an sich“, nicht „für sich“ – einer Schicht also ohne Selbstverständnis, also auch ohne Selbsthass.
Und dabei hielt er, seinerzeit schon am Ende der „trente glorieuses“, der drei Jahrzehnte ununterbrochener Wohlstandszuwächse der Nachkriegszeit schreibend, materielle Bedingungen fest: Das Kleinbürgertum setze einen gewissen gesellschaftlichen Reichtum voraus. „Erst wenn die Produktion hochgradig organisiert ist, kann sich die gesellschaftliche Sphäre der Distribution, der Zirkulation und der Verwaltung derartig ausdehnen, dass eine breite ,Mittelklasse’ entsteht. Umgekehrt schmilzt erst mit zunehmender Zentralisation und Konzentration des Kapitals die herrschende Klasse so weit zusammen, dass sie die kulturelle Hegemonie einbüßt.“ Kulturell hegemonial sei, so Enzensberger damals, nun das Kleinbürgertum (und darauf folgte einer dieser lustigen Enzensbergerschen Kataloge, die Symptome sammeln – von der Plastik-Zitrone bis zur Konkreten Poesie). Quintane schreibt über diese Schicht im französischen Zustand der Stagnation.
„Müssen auch die Vietnamesen Valium schlucken?“, fragte Enzensberger besorgt mit Blick auf die Verkleinbürgerlichung der Weltgesellschaft. Müssten sich bald auch die Kongolesen mit französischen Designerunterhosen ausstatten? Ja, sagt Quintane angewidert, zumindest trinken sie ihr Wasser nicht mehr aus dem Brunnen, sondern als Sprudel aus Plastikflaschen. Bonjour, afrikanische Mittelklasse! Am Ende hat Quintane dann doch noch so etwas wie eine zeitgemäße Definition: zu den Mittelklassen gehören alle die, die in der Sharing-Ökonomie des Internets etwas zu tauschen haben. Ein Leihauto gegen eine Nachhilfestunde gegen einen Haarschnitt gegen eine Wohnung hier gegen eine Wohnung dort. Die Lebensform des Mittelklasse ist die Schnäppchenjagd zum Zweck des Scheins von Wohlstandspartizipation. Trostlos. Der Fototeil des Büchleins ist sehr schön.
GUSTAV SEIBT
Nathalie Quintane: Wohin mit den Mittelklassen? Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Mit Fotografien von Benoit Galibert. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 114 S., 12 Euro. E-Book 7,99 Euro.
Müssten sich bald auch
die Kongolesen mit französischen
Designerunterhosen ausstatten?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2018

Jetzt tut nicht so fein!
Wachsende gesellschaftliche Unterschiede: Nathalie Quintane kühlt ihr Mütchen an der Mittelklasse

Dass die Mittelklasse es ist, die den Staat stabilisiert, ist eine alte Vorstellung. Sie findet sich schon bei Aristoteles. Die übermäßig Reichen (und auch die Schönen) würden "leicht übermütig und schlecht im Großen", die Armen und Gedemütigten dagegen "bösartig und schlecht im Kleinen". Die Reichen neigten zum Despotismus, die Armen zur Knechtschaft, freie Gesinnung finde man am ehesten bei den Mittleren.

Daneben und dagegen gibt es aber auch die Verachtung der Mittleren, die aus den Künsten kommt. Die Durchsetzung der Genieästhetik im achtzehnten Jahrhundert dürfte der Auslöser gewesen sein, den Bürger, Inbegriff des Mittleren, als Philister zu sehen. In Wagners "Meistersingern" - ein verarmter Adliger macht hier Bekanntschaft mit der Mittelklasse - beklagt sich Veit Pogner, Mittelständler, wenn es je einen gab, es habe ihn oft "verdrossen, / dass man den Bürger wenig preist, / ihn karg nennt und verschlossen". Anschließend geht es dann allerdings rund.

Karg, verschlossen, verdrossen, damit ist schon einiges gesagt über die Stoßrichtung von Nathalie Quintanes Essay "Wohin mit den Mittelklassen?". Es ist keine soziologische Erwägung, es ist ein Ausbruch, wenn auch ein stilistisch gut kalkulierter; die Autorin spricht selbst von der "übermäßigen Wut" auf ihren Gegenstand. Ihr Standpunkt ist links, die wachsenden gesellschaftlichen Unterschiede empören sie, aber marxistisch denkt sie nicht. Wohl legt sie Wert darauf, von "Klassen" zu reden, aber sie macht nichts daraus.

Wer die Mittelklassen bildet, darüber sagt sie nichts, was man ernst nehmen könnte. Schon auf den ersten zwei Seiten offenbart sie, dass sie den Unterschied zwischen Durchschnittswert und Median nicht kennt, ja nicht mal imstande ist, eine Gleichung mit einer Unbekannten aufzulösen. Vielleicht ist sie wirklich schwach in dieser Hinsicht, vielleicht hält sie solche Fähigkeiten auch für schlechte Angewohnheiten der Mittelklasse, oder sie will durch offensive Wurstigkeit den Leser einweisen in den Gebrauch ihres Buches. Selbstverspottung ist ihr jedenfalls nicht fremd.

Die Mittelklassen versteht Quintane eher kulturell als ökonomisch: Sie zeichnen sich aus durch Feintuerei bei der Wahl der Weine und Tees (Tee ist vornehmer als Kaffee), sie legen Wert auf Schulbildung und den Konsum von Kulturgütern (mit der guten Beobachtung, dass es was zu kaufen geben muss, daher die Bedeutung der Museumsshops), sind diszipliniert, aber freudlos. Und schlimmer noch: Sie versagen moralisch.

Wir haben, so beobachtet die Autorin, das Wort "gutmütig" verloren: "Gutmütig ist genau das, was die Mittelklasse nicht ist." Aber sind es Proletariat oder Subproletariat? Die Arbeiterklasse nennt sie die Klasse, "die nichts anderes wollte als ein bescheidenes Leben, das nicht auf das Unglück und die Demütigung anderer gebaut ist". Aber wie es mit moralischen Betrachtungen gelegentlich ist: Es fehlt an Realitätsbezug. Das Eigengewicht des Ökonomischen wird gering veranschlagt und so das Elend der Arbeiter auf den schändlichen Verrat - sie hatten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre die Wahl! - durch die Mittelklassen (Ingenieure und andere, ehedem mit den Arbeitern verbündet) geschoben.

Auch in Afrika gibt es nun Mittelklassen! Da gibt es viel zu klagen und zu lachen, selbstverständlich. Der Zusammenstoß von Kulturen kann ja gar nicht ohne Komik und echte Dysfunktionalitäten abgehen. Aber selbst die Schulbildung ist für Quintane etwas Schlechtes. Wie viel besser wäre es, "den Knirpsen beizubringen, mit Pfeil und Bogen zu jagen und sich durchzuschlagen". Aber was sollte wohl diese Länder vor der Bevölkerungsexplosion retten, wenn nicht Schulbildung, vor allem die der Mädchen?

Nun, das alles muss man für dieses Mal wohl nicht zu ernst nehmen. Die Autorin hat den Schieber aufgezogen und lässt ihre zum Teil wirklich lustige Rhetorik durch den Essaykanal gurgeln. Und wer mag, kann sein Papierschiffchen mitfahren lassen.

STEPHAN SPEICHER

Nathalie Quintane: "Wohin mit den Mittelklassen?"

Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Mit Fotografien von Benoît Galibert. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.

116 S., br., 12,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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