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Achilles rast mit 130 ohne Rücklicht und Rücksicht durch die Nacht. Der Krieg um Troja tobt noch immer. Während der attische Held, aus Zeitmangel ungeduscht und blutverschmiert, zwanzig Minuten nach Ende der Schlacht eine Pressekonferenz gibt und Simone Weil zitiert, schreibt Westermann mit rauchender Feder eine Kantate aus infinitesimal klein scheinenden Intervallen der Reflexion. Waren wir eben noch mit Tschechow unterwegs, dürfen wir nun mit dem Dichter unter dem Wahrzeichen jenes Asteroiden, des Planetesimalen mit dem Namen 3511 Zwetajewa, durch das Leben seiner Namensgeberin gehen.…mehr

Produktbeschreibung
Achilles rast mit 130 ohne Rücklicht und Rücksicht durch die Nacht. Der Krieg um Troja tobt noch immer. Während der attische Held, aus Zeitmangel ungeduscht und blutverschmiert, zwanzig Minuten nach Ende der Schlacht eine Pressekonferenz gibt und Simone Weil zitiert, schreibt Westermann mit rauchender Feder eine Kantate aus infinitesimal klein scheinenden Intervallen der Reflexion. Waren wir eben noch mit Tschechow unterwegs, dürfen wir nun mit dem Dichter unter dem Wahrzeichen jenes Asteroiden, des Planetesimalen mit dem Namen 3511 Zwetajewa, durch das Leben seiner Namensgeberin gehen. Briefe, Bilder, Beziehungen bringt er dabei auf den Vers : "Sie glaubte an das Gute im Menschen, daran, / dass dem, der Gutes tut, auch Gutes widerfährt." Am Ende wird ein ganzer Kosmos zu versenken sein. Doch aus Levin Westermanns Sprachinfinitesimalen werden Sehnsüchte neu entstehen.
Autorenporträt
Westermann, LevinLevin Westermann, 1980 in Meerbusch geboren, studierte an der Hochschule der Künste Bern und lebt als freier Schriftsteller in Biel. unbekannt verzogen, sein Lyrikdebüt, veroffentlichte er 2012, es folgten 3511 Zwetajewa (2017) und bezüglich der schatten (2019), beide bei Matthes & Seitz Berlin. 2020 wird er mit dem renommierten Clemens- Brentano-Preis der Stadt Heidelberg ausgezeichnet. Für seinen Lyrikband bezüglich der schatten erhielt er den Schweizer Literaturpreis 2021.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2017

Agamemnon am Computer
Der Autor als Kurator: Levin Westermanns Gedichtband

Wie soll man sich als Autor gegenüber der Informationsflut verhalten? Gegenfluten? Oder das eigene Arbeiten stark verknappen? Fünf Jahre nach dem Erscheinen seines beeindruckenden und doch so stillen Debüts "unbekannt verzogen" setzt Levin Westermann auch mit seinem zweiten Gedichtband auf die Intensität weniger, ausgesuchter Worte. Resultat von Westermanns strenger poetischer Auslese ist ein schmaler Band, den man nicht genau und nicht häufig genug lesen kann.

Der im Schweizer Biel lebende Autor sieht sein eigenes Schreiben eingebettet in den Resonanzraum großer literarischer Stimmen. Statt sich wegen Einflussangst vor fremden Texten abzuschotten, richtet Westermann sich seinen eigenen poetischen Klangraum ein: Sein Titel "3511 Zwetajewa" verweist - vermittelt über den gleichnamigen Asteroiden, der 1982 entdeckt wurde - auf die große russische Dichterin der Moderne Marina Zwetajewa. Eröffnet wird der Band von zwei Zitaten Mary Ruefles und Sarah Kanes, die gleichermaßen die radikale Zuwendung der Poesie zum Leben einfordern. Als Figuren treten literarische Berühmtheiten wie Tschechow, Achill, Hector und Kassandra auf. Im Text klingen Verse von Celan, Aichinger, Eliot und Oates an.

Gebettet in fremde Stimmen, beginnt Westermann die eigene Versbewegung, die sich zu drei knappen und einem umfassenderen, vierten Zyklus formiert. Der Dichter arbeitet mit dem Konzept des Re-writings, er durchschreibt das Material anderer Autoren, erzeugt Verschränkungen, Einfaltungen, Überlagerungen mit dem eigenen Schreiben. So bleiben in zwei Zyklen die Ausschnitte der Originaltexte unberührt stehen, um von Westermanns Versen umrankt, neu akzentuiert und in einen Dialog verstrickt zu werden. Die Qualität solcher Bitextualität steht und fällt mit der Auswahl, die der Autor als Kurator trifft. Westermann beherrscht die poetische Ausstellungskunst, und er weiß, die Materialien im fließenden Übergang zwischen lyrischen, dramatischen und erzählerischen Sequenzen gekonnt zu umspielen. Der erste Zyklus "Die Expedition" entfaltet in drei Phasen und sechs Notizen ein surrealistisch befremdliches Abenteuer. Schräge Einfälle kollidieren mit der für ihn charakteristischen sprachlichen Nüchternheit und Lakonik. In "Tschechow: eine Reise in zehn Teilen" kommt ein Dekalog von Untergangsszenen auf die Bühne, deren Schrecken sich, wenn Kassandra "Blut" kündet und Tschechow sich kratzend, knurrend, schnurrend, atmend und flüsternd unter das Bett eines schlaflosen Jungen schiebt, auf den Leser überträgt.

Pointiert und rasant aktualisiert der dritte Zyklus im Dialog mit Simone Weils Theorie der Gewalt keinen geringeren Text als Homers "Ilias". Achill gibt zuerst als Raser am Steuer seines Wagens, die offene Weinflasche im Anschlag, Beutekunst scheppernd auf dem Rücksitz, die träumende Kassandra in den Kofferraum verfrachtet, dann als kriegsspielzockender Held am heimischen Computer die sinnfällige Personifikation des dauerhaften Ausnahmezustands. Bis ihn eine SMS von Agamemnon aus dem Alltagssog reist: "Tomorrow. Bring your sword!" Im Fall von Westermann bedeutet Autorschaft, mit dem jeweils neuen Material vollkommene Stimmungswechsel vollziehen zu können und dies mit dem eigenen Sprachduktus und poetischen Anliegen auszubalancieren. Das gelingt ihm ebenfalls bei der abschließenden, einfühlsamen Annäherung an das Leben und Schreiben von Marina Zwetajewa, bei dem sich die Spurensuche eines Mannes mit den Tagebuchaufzeichnungen und Briefen der Autorin überlagert. Über die Verknappung der Sprache setzt Westermann eindringliche Bilder und bewegende Momente frei.

CHRISTIAN METZ

Levin Westermann: "3511 Zwetajewa".

Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 91 S., geb., 18,- [Euro].

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