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Indien 1857: George Fleury, ein junger Angehöriger der britischen Oberschicht, reist zu dem isolierten britischen Außenposten Krishnapur. Von dort soll er über den positiven Einfluss von Zivilisation und Fortschritt auf das rückständige Indien berichten. Gerüchte von Unruhen und Aufständen erreichen die Stadt, das Land ist in Aufruhr, doch die Vertreter der Britischen Ostindien-Kompanie halten Tea Time, fest überzeugt von ihrer militärischen und moralischen Überlegenheit. Als sie tatsächlich unter Belagerung geraten, kämpfen sie in einer zunehmend verzweifelten Lage nicht nur um ihr Leben,…mehr

Produktbeschreibung
Indien 1857: George Fleury, ein junger Angehöriger der britischen Oberschicht, reist zu dem isolierten britischen Außenposten Krishnapur. Von dort soll er über den positiven Einfluss von Zivilisation und Fortschritt auf das rückständige Indien berichten. Gerüchte von Unruhen und Aufständen erreichen die Stadt, das Land ist in Aufruhr, doch die Vertreter der Britischen Ostindien-Kompanie halten Tea Time, fest überzeugt von ihrer militärischen und moralischen Überlegenheit. Als sie tatsächlich unter Belagerung geraten, kämpfen sie in einer zunehmend verzweifelten Lage nicht nur um ihr Leben, sondern auch um jeden Rest von viktorianisch geprägtem Anstand und Würde. Der historische Aufstand der indischen Sepoy-Soldaten Mitte des vorletzten Jahrhunderts bildet den Hintergrund dieser brillanten, von absurdem britischem Humor durchzogenen Erzählung um den wackeren George Fleury.
Autorenporträt
Farrell, James Gordon
James Gordon Farrell, 1935 in Liverpool geboren, beschreibt in seiner 'Empire Trilogy' den Niedergang des Britischen Imperiums. Die Trilogie gilt als sein Hauptwerk, in dem er heftige Kritik an Kolonialismus und Ausbeutung übte. 1973 nutzte Farrell seine Preisrede zum Man Booker Prize, um diese Kritik gegenüber dem Sponsor des Preises, der Booker Group, erneut zu formulieren. 1979 ertrinkt er, als er beim Angeln ins Wasser stürzt.

Osterwald, Grete
Grete Osterwald lebt als literarische Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Frankfurt am Main. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren zählen u.a. Georges Duby, Hédi Kaddour sowie Nicole Krauss, Siri Hustvedt und J.G. Farrell.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2015

Mit Tropenhelm und Schottenrock in die Schlammschlacht

Voll wüster Lust am Untergang erzählt der Booker-Preisträger James Gordon Farrell vom indischen Sepoy-Aufstand gegen die Briten. Nun gibt es "Die Belagerung von Krishnapur" von 1973 endlich auch auf Deutsch.

Wie witzig kann der Untergang eines Imperiums sein? Für den irisch-englischen Erzähler James Gordon Farrell (1935 bis 1979) jedenfalls sehr witzig. Schon in "Troubles", dem 2013 endlich auch auf Deutsch erschienenen ersten Roman seiner Empire-Trilogie, entfaltet er grandiose Komik aus einer Allegorie des unaufhaltsamen Niedergangs: der 1919 spielenden Geschichte eines an der irischen Südküste gelegenen zerfallenden Luxushotels und seiner skurrilen Bewohner, die, vor dem Hintergrund des im selben Jahr ausbrechenden irischen Unabhängigkeitskriegs, den Zerfall des British Empire spiegelt. In "Die Belagerung von Krishnapur", dem 1973 erschienenen zweiten Roman der Trilogie, für den er den Man-Booker-Preis erhielt, dreht Farrell noch einmal mächtig auf. Da rollen die Köpfe scharenweise - für Farrell kein Grund, den Humor zu verlieren.

Der Roman versetzt den Leser in den indischen Aufstand des Jahres 1857, der nach den Sepoys, den indischen Soldaten der Britischen Ostindien-Kompanie, auch Sepoy-Aufstand heißt. Der Handlungsort Krishnapur ist nur in Maßen imaginär: Farrell hat ihn der Garnison von Lakhnau (Lucknow) nachgeformt, wo die Besatzung aus rund 1500 britischen und loyalen indischen Soldaten und eine ebenso große Anzahl von Zivilisten fünf Monate lang der Belagerung drückend überlegener Sepoy-Truppen unter schwersten Verlusten standzuhalten vermochten - eine Episode, die in die Heroengeschichte des British Empire einging und, worauf Pankaj Mishra in seinem Nachwort aufmerksam macht, die Mode patriotischer "Aufstandsromane" hervorbrachte. Farrell hat die historischen Quellen sorgfältig studiert und liefert auf dieser Basis mit hohem Sinn fürs atmosphärische Detail die ironische Variante eines Aufstandsromans.

Die zentrale Figur seines Romans ist Mr. Hopkins, der "Collector" von Krishnapur, einer der ranghöchsten Beamten der britischen Zivilverwaltung mit erheblichen Machtbefugnissen. Schon bei den ersten Anzeichen eines drohenden Aufstandes lässt er - unter Missbilligung seiner sorglosen Umgebung - seine Residenz mit einigen angrenzenden Gebäuden zu einer improvisierten Festung ausbauen. Der Collector ist ein unbedingter Verfechter des Fortschrittsglaubens und überzeugt insbesondere von der Überlegenheit der britischen Zivilisation. Seine bei jeder Gelegenheit hervorgezogene Bibel ist deshalb der Katalog der "Great Exhibition", der Londoner Weltausstellung von 1851, die er "als ein gemeinsames Gebet aller zivilisierten Nationen" beurteilt und von der er eine Menge von Farrell mit Gespür für zeittypische Kuriositäten ausgewählte Objekte als Zeugnisse des unaufhaltsamen Fortschritts in seine indische Residenz importiert hat. Der Collector, der mit Autorität, Würde und Sachverstand den Widerstand der Residenz beim bald ausbrechenden Aufstand organisiert und dem dabei alle seine Überzeugungen Schritt für Schritt abhandenkommen, ist der komplexeste Charakter des so spannenden wie amüsanten Romans.

Ihn umgibt Farrell mit einer Fülle farbiger Figuren, die seine herrliche Charakterisierungskunst immer haarscharf an der Karikatur vorbeischrammen lässt und die insgesamt ein possierliches Panorama der frühviktorianischen Gesellschaft ergeben. Da sind der sentimentale Schöngeist Fleury, der unter dem Druck der Belagerung das kindliche Heldentum einer Comicfigur entwickelt und sich den Wonnen des Alltags zuwendet, und seine verwitwete Schwester Miriam, die ihr Überleben damit sichert, dass sie sich zu einem illusionslosen Pragmatismus bekennt, da ist die nach dem Musterkatalog einer viktorianischen Schönheit entworfene prüde-kokette Arzttochter Louise, die am Ende der Belagerung, von Furunkeln übersät und von Skorbut geplagt, achtlos darüber hinwegsieht, dass aus ihrem zerrissenen Kleid ein Stück ihrer Brust hervorblitzt, da ist der dem Collector im Rang nachgeordnete "Magistrate", der als zynischer Materialist und reformorientierter Chartist im Dreck und Gestank der Belagerung seinen Glauben an die Menschheit verliert, und da ist ein Pfarrer, der unter dem Pfeifen der Kugeln noch den Sterbenden seine physikotheologischen Gottesbeweise in die ertaubenden Ohren brüllt. Und da ist Leutnant Harry, der in Gefahr und größter Not immer das tut, was man offensichtlich von einem, der Harry heißt und englischer Leutnant ist, erwarten darf: durch ein irres Husarenstück die im Grunde schon unrettbar verlorene Residenz für ein paar weitere Tage zu retten.

Dies überdrehte Ensemble virtuoser Charakterdarsteller höchst britischer Prägung, das den Leser immer wieder zweifeln lässt, ob er sich in einem realistischen Kriegsroman befindet oder nicht doch in einer Slapstickkomödie, nutzt Farrell zur Kritik an der Borniertheit, der Selbstgefälligkeit und den Werten der viktorianischen Gesellschaft, die er mit wildem Witz in den Schlächtereien Mann gegen Mann, dem Schlamm und dem Hunger der Belagerung von Krishnapur zugrunde gehen lässt. Zu Anfang der Belagerung unternimmt der Collector seine Kontrollgänge noch mit Tropenhelm und Stock und im Gehrock, in dessen Knopfloch er eine rosarote Rose trägt, aber schon bald kommt der Augenblick, in dem bei der obligaten Teestunde mit seinen Offizieren "eine Serie von Musketenkugeln" dafür sorgt, dass seine zitternde Hand den Zucker nicht mehr aus der Dose in die Tasse befördern kann. Und wenige Wochen später muss er sich das eingestehen, was ihm Farrell mit schwereloser Amüsiertheit ins Bewusstsein schreibt: "Aus dem Hof, wo seine Glaubensüberzeugungen wie gemästete Hühner auf der Stange gehockt hatten, wurden in jeder Nacht der Belagerung eine oder zwei zwischen den Zähnen des Rationalismus und der Verzweiflung davongetragen." In den Monaten der Belagerung gehen alle Zeugnisse der britischen Kultur - "Humidore und Kerzenleuchter, Elefantenfüße mit Überbau und Ruderblätter mit Namen von College-Eights in Goldfarbe" - und insbesondere die Kulturtrophäen der Weltausstellung als Füllmaterial in den Befestigungsanlagen von Krishnapur zugrunde. Und als am Ende der die Entsatztruppen führende englische General die Überlebenden von Krishnapur entsetzt betrachtet, da glaubt er, eine Gesellschaft im schlammigsten Urzustand, schlimmer noch: indische Parias vor Augen zu haben: "Er hatte noch nie Engländer gesehen, die sich dermaßen hatten gehen lassen; sie sahen eher aus wie Unberührbare."

James Gordon Farrells mit wüster Lust am Untergang erzählter Roman ist das Werk eines Mannes, den man einen geborenen Erzähler wird nennen müssen. Er erzählt derart im besten Sinne hemmungslos, als habe es nie eine Krise des Erzählens und nie einen modernen Roman gegeben, und bei Bedarf wendet er sich auch gern einmal direkt an den Leser: "Können Sie sich vorstellen, wie sich der Besitzer eines guten Chesterfield-Sofas gefühlt haben muss, es derart im Polizeigriff zum Untergang im peitschenden Regen abgeschleppt zu sehen?" Sehr britisch dies alles! Und das reine Lesevergnügen!

Nur eines darf man von James Gordon Farrells von Grete Osterwald flüssig übersetztem und mit nützlichen historischen Erläuterungen versehenem Roman nicht erwarten: dass seine Kritik an den Bewusstseinsformen der viktorianischen Gesellschaft, in denen sich der Untergang des British Empire ankündigt, sich ausweitet zu einer auch nur halbwegs tragfähigen Kritik am britischen Kolonialismus. Dazu bleiben die Inder selbst allzu klischeehaft und auch zu sehr im Hintergrund dieses Romans, und dazu hätte er überdies auf den britischen Rachefeldzug eingehen müssen, der dem indischen Aufstand folgte. Als der sentimentale Fleury sich einmal zu fragen beginnt, "wie viel vom indischen Leben dem Engländer, der gerüstet mit seiner eigenen Religion und eigenen Sitten herkam, verschlossen blieb", weist er sich selbst sofort mit der Überlegung zurecht, es sei dies "nicht der Moment, damit anzufangen, über solche Dinge nachzugrübeln".

Wenn der Indische Aufstand nicht der rechte Moment war, welcher dann? Man merkt es dem Roman jedenfalls nicht an, dass Queen Victoria, deren Porträt Farrell "aus blauen Glubschaugen" auf das blutige Geschehen blicken lässt, zwanzig Jahre nach der Niederschlagung des Aufstands 1877 zur Empress of India gekrönt wird. Farrell, der Entertainer, der alles aus der britischen Perspektive erzählt, möchte, dass der Leser sich gern an seine Helden erinnert: ein wunderbarer Kerl, dieser Collector, prächtige Jungs, dieser Harry und dieser Fleury, die den Sepoys noch einmal zeigen, wie man kämpft! Der Preis, den er dafür zahlt, besteht darin, dass er die von ihm erzählte mörderische Episode weitgehend aus der politischen Geschichte des Kolonialismus herausbricht.

ERNST OSTERKAMP

James Gordon Farrell: "Die Belagerung von Krishnapur". Roman.

Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Nachwort von Pankaj Mishra. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015. 478 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.08.2015

Empire der Fremdheit
Vom Geist der Wissenschaft zerschmettert – James Gordon Farrell erzählt farbensatt und ironisch
von Briten und Indern des kriegerischen Jahres 1857 in seinem Roman „Die Belagerung von Krishnapur“
VON HARALD EGGEBRECHT
Es ist heiß in der Festhalle von Kalkutta, „weit über neunzig Grad Fahrenheit“, beim letzten Ball in der „kühlen Jahreszeit“, den die hübsche Louise Dunstaple nicht versäumen will. Einer ihrer Verehrer, der jüngst aus England eingetroffene George Fleury, ein stark von romantischen Gefühlen durchdrungener junger Mann, kann sich nicht vorstellen, bei solcher Hitze zu tanzen, aber Louise füllt schnell ihre Tanzkarte aus, und für Fleury bleibt nur der „galloppe“ übrig: „Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und zog ihn schimmernd, wie mit Olivenöl bestrichen zurück. Auch die Ladies konnten nicht kühl aussehen; noch so viel Reispuder konnte den Glanz ihrer Gesichtszüge nicht mattieren, noch so viel Polsterung konnte feuchte Flecken nicht daran hindern, sich unter ihren Achselhöhlen auszubreiten.“
  Es ist eine typische Szene aus dem groß- und fremdartigen Roman „Die Belagerung von Krishnapur“ von James Gordon Farrell. Und es herrscht jener spezifisch ironische Ton, mit dem sich Farrell von zuerst liebevollen Schilderungen, wie hier der des Balls der britischen Kolonie in Kalkutta 1857, gleichsamabkühlend zu distanzieren weiß. So entsteht ein besonderer Erzählsog, der einen in ein wahrlich fremdes und fremd bleibendes Indien allmählich hinein zieht. Die Kolonialherren versuchen, es sich in, besser auf dieser indischen Welt, die ihnen unheimlich, heidnisch und unverständlich bleibt, so heimisch zu machen, als wären sie doch in Good Old England.
  Inder nehmen sie nur als untergeordnete Eingeborene wahr. Manche wie Rayne, der Opiumverwalter, Burlton, der Schatzkammervorsteher, oder Ford, der Eisenbahningenieur, geben ihren Bediensteten gerne diskriminierende Spitznamen nach Ähnlichkeit mit Tieren. Als ein Träger mit einem Glas Champagner für Fleury zurückkehrt, sagt Rayne laut: „Wir nennen diesen Kerl ,Ram‘ . . . Sein wirklicher Name ist Akbar oder Mohammed oder so was in der Art. Wir nennen ihn Hammel, weil er aussieht wie ein Hammel.“ Ein anderer Diener, der einen Teller Feingebäck bringt, wird als ,Monkey‘ eingeführt. „Monkey hob nicht den Blick. Er hatte sehr lange Arme, fürwahr, und eine ziemlich affenartige Erscheinung.“
  Auf diese Weise bewegen sich die Herren aus Britannien so borniert in diesem gewaltigen Subkontinent, als handle es sich um einen anderen Planeten. Farrell beschreibt dieses Leben als Akt grotesker Verdrängung indischer Wirklichkeiten. Unmerklich, doch zunehmend verfällt man der raffinierten Mischung aus poetischer Beschreibungspräzision und sarkastischer Zuspitzung, auch in der überzeugenden deutschen Übersetzung von Grete Osterwald. Angehängt sind dankenswerterweise außerdem Begriffserläuterungen und historische Informationen.
  Der „Krishnapur“-Roman, 1973 herausgekommen, ist der Mittelteil aus Farrells Trilogie über die Brüchigkeit und Lächerlichkeit, den Zerfall des britischen Empire. Der erste Roman „Troubles“, 1970 erschienen, handelt vom Niedergang eines Grandhotels während des grausamen irischen Unabhängigkeitskriegs 1919-21, der dritte, „Singapore Grip“ von 1978, von Singapur und der Eroberung durch die Japaner im Zweiten Weltkrieg.
  „Die Belagerung von Krishnapur“ spielt vor dem Hintergrund des in England gern als Meuterei der indischen Sepoy-Soldaten eingestuften Aufstands von 1857, der in Indien aber zu Recht als erster Kampf um die Unabhängigkeit gilt. Der äußere Anlass für die Erhebung entstand durch die Einführung des neuen Enfield-Gewehrs, dessen Patronenhülsen angeblich mit Schweine- und Rinderfett eingeschmiert waren. Dass das Patronenende mit den Zähnen abgerissen werden sollten, war daher für muslimische wie Hindu-Soldaten eine Unerträglichkeit.
  Farrell, 1935 in Liverpool geboren und 1979 tragisch beim Angeln von einer Welle erfasst und getötet – wegen einer frühen Polioerkrankung konnte er nicht gut schwimmen –, fühlte sich als Mann zwischen den Welten. Für die Engländer war er ein Ire, für die Iren ein Engländer. Die Mutter stammte aus Irland, der Vater reiste als Buchhalter öfter in den Fernen Osten und nach Indien. 1945 zog die Familie nach Irland, Mitte der Fünfzigerjahre ging Farrell nach Kanada, studierte dann in Oxford, arbeitete danach als Sprachlehrer in Frankreich. Nach dem ersten Buch erhielt er ein zweijähriges Stipendium für New York. 1971 bereiste er Indien: Nach seinen Tagebüchern war er „verwirrt und, ja, ,sprachlos‘ angesichts der Fremdheit der Menschen und der Landschaft“, so Pankaj Mishra in seinem lesenswerten Nachwort. Als Indien tatsächlich unabhängig wurde, war Farrell zwölf Jahre alt und erlebte nun den endgültigen Zerfall des Empire mit.
  Fremdheit durchzieht den ganzen Roman, dessen Handlung sich an der echten Belagerung von Lucknow orientiert. Dort kam es zu erbitterten Kämpfen zwischen aufständischen Sepoy-Soldaten und den Briten. Und es breiteten sich in der belagerten Stadt, in der sich auch viele Zivilisten aufhielten, bald Hunger, Durst, Cholera und Ruhr aus. Mit letzter Kraft konnte Lucknow schließlich durch die Engländer befreit und die wenigen Überlebenden der Belagerung gerettet werden.
  All das schildert Farrell in seinem sich über vier Teile unwiderstehlich steigernden Roman, immer getragen von jener einzigartigen Mixtur aus Präzision und dem, bei aller Eleganz und scheinbarer Sanftheit, fast zynischen Sarkasmus. Etwa, wenn die Verteidiger Kartätschen aus der Kanone abfeuern, die sie vorher mit „Steinen, Klappmessern, Stücken von Blitzableitern, Ketten, Nägeln, dem gepunzten Silberbesteck aus dem Esszimmer“ und anderem gestopft haben. „Aber der größere Teil ihrer improvisierten Kartätsche war mit abgeschlagenen Marmorfragmenten von DER GEIST DER WISSENSCHAFT EROBERT UNWISSENHEIT UND VORURTEIL gefüllt.“
  Dementsprechend erzielt der Schuss so furchtbare wie grausig komische Wirkung, wenn „Der GEIST DER WISSENSCHAFT einem mit grünem Turban den Rücken zerschmettert“ hat, „andere niedergestreckt von Teelöffeln, von Fischmessern, von Murmeln“ sind, oder einer „mit der in sein Gehirn eingedrungenen silbernen Zuckerzange“ erledigt wird. Während wenigstens der Collector von Krishnapur (ein von Farrell erfundener Name) Mr. Hopkins von Beginn an die Anzeichen für die Rebellion ernst nimmt und Befestigungsarbeiten anweist, die von seinen Landsleuten mitleidig belächelt werden, verharren Fleury, Louise und andere aus dem Panoptikum der Amtsträger und Zivilisten in ihren Kolonialvorstellungen: hier sie, die Vertreter der leuchtenden victorianischen Zivilisation, die die Great Exhibition im Londoner Kristallpalast ermöglicht hat; dort diese merkwürdigen, unverständigen, weil weder Aufklärung noch christlicher Mission zugänglichen Eingeborenen eines rätselhaften heißen Landes, das in nichts an England erinnert.
  Glücklicherweise versucht Farrell nie, die Perspektive zu ändern, Indien ist fremd. Also gibt es keine pseudoindische Sicht, die Sepoy sind unindividuelle Menge. Selbst Hari, Sohn des Maharadscha von Krishnapur, der die Technik der Daguerreotypie beherrscht, bleibt im Vagen. Farrell beobachtet die Engländer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, wie sie sich in ihrem Empire so überlegen fühlten und benahmen. Es ist der entlarvende Blick des Nachgeborenen, der weiß, wie töricht und brutal diese Weltsicht war und wie blutig, dabei burlesk und lächerlich sie zerfiel.
        
James Gordon Farrell: Die Belagerung von Krishnapur. Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Mit einem Nachwort von Pankaj Mishra. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2015. 478 Seiten, 24,90 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Fremdheit durchzieht den
Roman, der sich orientiert an
der Belagerung von Lucknow
Holzschnitt mit
einer englischen Gruppe
im Sepoy-Aufstand
in Indien, 1857.
Foto: picture alliance/
Prisma Archiv
James Gordon Farrell (1935-1979) schildert in seiner „Empire Trilogy“ den Niedergang des britischen Weltreichs. Zeichnung: Falk Nordmann
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"Farrells buchstäblich schreiend komisches Buch über die abenteuerliche Situation der Belagerten, konsequent aus britischer Perspektive geschrieben, ist ein Zwitter aus minutiös recherchiertem historischem Roman und burlesker Parodie." - Dorothea Dieckmann, Deutschlandfunk, Juni 2016 Dorothea Dieckmann Deutschlandfunk 20160613