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Ein Dorf in Nordbayern Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger, Zonenrandgebiet. Im Mittelpunkt dieses Zeit- und Familienbuchs steht die Weltaneignung eines Jungen, sein Versuch, einen Platz in seiner Großfamilie zu finden. Seine Entwicklungen, Beobachtungen und Erfahrungen stehen in Korrespondenz mit dem großen Zeitdurcheinander um ihn und in ihm. Fast mittelalterlich wirkt das Ochsengespann auf dem Feld nebenan, das Kartoffelnachklauben, die schwer durchschaubaren Gesetze der Dorfgemeinschaft, faszinierend und erschreckend zugleich die Modernität der allgegenwärtigen Militärtechnik, der…mehr

Produktbeschreibung
Ein Dorf in Nordbayern Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger, Zonenrandgebiet. Im Mittelpunkt dieses Zeit- und Familienbuchs steht die Weltaneignung eines Jungen, sein Versuch, einen Platz in seiner Großfamilie zu finden. Seine Entwicklungen, Beobachtungen und Erfahrungen stehen in Korrespondenz mit dem großen Zeitdurcheinander um ihn und in ihm. Fast mittelalterlich wirkt das Ochsengespann auf dem Feld nebenan, das Kartoffelnachklauben, die schwer durchschaubaren Gesetze der Dorfgemeinschaft, faszinierend und erschreckend zugleich die Modernität der allgegenwärtigen Militärtechnik, der Raumfahrt, der Terroristenjagd mit Maschinenpistolen und Datenverarbeitung. Der Weltkrieg ist im Wortsinne unheimlich präsent: in eindrücklichen Erzählungen der Eltern, der Verwandten und in merkwürdigen Gegenständen; die aktuellen Kriege lassen dabei den Frieden als eine Art von Pause erscheinen, die bald vorbei sein wird.
Autorenporträt
Rolf-Bernhard Essig, geb. 1963, lebt als Publizist und Literatur -wissenschaftler in Bamberg und lehrt an den Universitäten Bamberg, Samara und Togliatti (Russland). Er schreibt u. a. für "DIE ZEIT", "Süddeutsche Zeitung", "Frankfurter Rundschau" sowie "Neue Zürcher Zeitung". Mit seinem unterhaltsamen Redensartenprogramm tourt er durch ganz Deutschland und ist regelmäßig in TV, Hörfunk und Printmedien mit seinen Sprachberatungen präsent.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.12.2013

Sand im Bauchnabel
Rolf-Bernhard Essigs großer Kindheitsroman
Marktplatzreden von Franz Josef Strauß, die Schleyer-Entführung, die Stürmung der Landshut in Mogadischu; 33er- und 45er-Schallplatten, „Spiel mir das Lied vom Tod“, „Fire“ und „Mamy Blue“, der erste Fernseher mit zwei Kanälen – die Generation der um 1960 Geborenen wird sich an vieles aus der eigenen Kindheit und Jugend erinnern bei der Lektüre des Romandebüts, das der Kritiker und Publizist Rolf-Bernhard Essig vorgelegt hat. Es ist ein autobiografisch geprägter Kindheits-, Heimat- und eigentlich Vaterroman, in dem der Autor seine Kindheit im bayerischen Zonenrandgebiet schildert.
  Die Verhältnisse sind nicht ärmlich, aber bescheiden, die Familie ist groß und mit vielen Brüdern und Halbbrüdern männlich dominiert. Der Vater ist Kriegsheimkehrer, dem erst spät eine Versehrtenrente ausgeschüttet wird und der als früher Hausmann die Familie versorgt; ein ehemaliger Nationalsozialist, der „Schwanz ab“ empfiehlt, wenn in der
Familie des Dorfidioten wieder einmal Nachwuchs ansteht, und der dem Sohn von den schmierigen Juden erzählt, mit denen er im Salon seiner Mutter zu tun gehabt habe. Ein prügelnder, aber nicht unempfindsamer Erzieher, gefürchtet und bewundert, kraftstrotzend trotz Herz-
schwäche; die Mutter immerfort in Tränen, nicht nur, wenn der Mann wieder einmal wütend nach dem Autoschlüssel greift und das Haus verlässt, keiner weiß, mit welchem Ziel (doch nicht ein Brückenpfeiler?).
  Man kann sich seine Kindheit und die Defekte, die man in ihr erleidet, nicht aussuchen. Der Junge, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, hat Angst vor einem leitmotivisch angelegten Schwarzen Mann, der ihm am Ende nicht das gefürchtete Glied, sondern eine grausige Kriegsverletzung zeigt. Ängste spielen in dieser Kindheit eine so große Rolle wie das Essen. Der Junge leidet unter einem latenten Dauerhunger, auch dem nach Aufmerksamkeit. Es gibt von allem immer gerade genug, aber nie etwas im Überfluss. Das Verhältnis zur Welt, die von diesem Vater regiert wird, ist agonal, man muss sich die Dinge erkämpfen oder doch erlisten. Der Junge, als gebürtiger Hanseat auch in der Region ein Außenseiter, entdeckt die Macht der Sprache und der gebildeten Rede, er wird ein kleiner Klugscheißer, aus der Sicht des dennoch immer recht behaltenden Vaters.
  Rolf-Bernhard Essig beschreibt diese Kindheit mit jener Gründlichkeit, die nach Thomas Manns Vorrede zum „Zauberberg“ die wahrhaft unterhaltende ist. Es heißt dort nicht: Mittags schlich sich das Kind manchmal an den Spirituosenschrank. Es heißt: „Er schlich sich, wenn alle Mittagsschlaf hielten, durch den Flur, was wegen der knarzenden Dielen schwierig war, und die Treppe hinunter. Die quietschte, lief er nicht am äußersten Stufenrand. Durch den unteren Flur bis zum Barfach im Wohnzimmer waren es nur dreißig Schritte. Den Magnetverschluß der großen Klappe, der beim Öffnen laut schnappte, überlistete er, indem er mit dem einen Arm dagegendrückte, während er mit dem anderen zog. So konnte er die Kraft gut dosieren, und es gab nur ein kleines ‚Klick‘. Rumtopf aß er dann, trank von dem Whisky aus der Toronto-Fernsehturm-Flasche, den Kirschlikör aus Dänemark, Marillenbrand oder Slivowitz. Eierlikör gab es fast nie, weil der schnell schlecht wurde.“
  Die akribisch genaue Erinnerung, mit der Essig die Kindheit seines nahverwandten Helden wiederauferstehen lässt, ist nicht der einzige Grund dafür, dass sein Debüt so bemerkenswert ist. Der andere ist der Wahrheitsmut. Zum Höhepunkt des Buches, auf den es hinkomponiert ist, kommt ein jüngerer Bruder des Jungen ums Leben; er ertrinkt am dänischen Ferienort. Allein dieser Passage wegen, in der die Unfähigkeit und Überforderung des Menschen, den Tod zu verstehen, aus der Sicht des Kindes geschildert wird – allein dieses Kapitels wegen wäre Essigs „Die Kunst, Wasser zu fegen“ ein großer Roman. So wenig es dem Zehnjährigen gelingt, an Gott zu glauben, so inbrünstig betet er am Strand, als er den Rettungshubschrauber sieht, und schreit in den Himmel, er werde immer artig sein und all sein Erspartes den Inderkindern geben. Auf der Heimfahrt im Zug machen die Brüder schon Witze darüber, ob der von den Eltern im Auto übergeführte Leichnam wohl von der Katze angeknabbert wird. Fünf Monate später hat er den kleinen Bruder fast vergessen.
  Beeindruckend wieder das Wahrheitsethos, wenn der Erzähler sich im Kapitel „Totes Kapital“ eingesteht, wie gern er später Gespräche unauffällig auf den Todesfall lenkt, um sich interessant zu machen und Mitleids-Bonipunkte zu kassieren. Wie leicht wäre es gewesen, solche psychologischen Details unter den Schreibtisch fallen zu lassen. Aber der Autor zwingt sich, wie auch beim Thema der erwachenden Sexualität, zu einer Aufrichtigkeit, die ihn stellenweise als einen sittsameren Bruder jener Charlotte Roche erscheinen lässt, die ihre familiäre Katastrophe in den „Schoßgebeten“ nicht weniger beeindruckend beschreibt.
  Essigs Kunst ist dabei ganz zurückgenommen, auch wenn sie prominent schon im Titel des Buches aufstrahlt. Die Kunst, Wasser zu fegen, das immer sich wandelnde Element apollinisch zu strählen – diese Kunst muss schon deshalb bescheiden auftreten, weil sie nur scheitern kann. Das Wasser wird sich am Ende nicht fegen lassen; das Leben in seinem ständig wechselnden Wellenspiel lässt sich nicht ins lineare Wort überführen. Die literarische Kunst, von der Essig allerhand versteht, ist hier darum eine, die sich nicht ausstellt, sondern versteckt; der Stil ist von jener sobrieté , für die es im Deutschen keine schöne Entsprechung gibt.
  Auch die Komposition ist diskret. Ein großer Zeitsprung am Schluss: Der Jugendliche ist inzwischen ein Mann der mittleren Jahre und kehrt nach langer Zeit zu dem Ort seiner Kindheit zurück, wo er, immer noch glaubenslos, an einer kirchlichen Zeremonie teilnimmt. Er streift über den Friedhof und weint vor dem Grabstein des Schwarzen Mannes. Erst zu spät fällt ihm ein: Er hat gar nicht das Familiengrab besucht. Soll er umkehren? Sein Vater hätte es nicht getan. Sein Vater war nie umgekehrt, aus Aberglauben nicht und aus Prinzip, selbst dann nicht, wenn er kurz nach der Abfahrt zu einem langen Auslandsaufenthalt merkt, dass er seine Herzmedikamente daheim vergessen hat.
  Aber, fragt sich der Held, ist es nicht auch Aberglaube, wenn man etwas nur darum tut, weil der Abergläubische es nicht täte? Er kehrt nicht um und lässt das Grab unbesucht. Mit dieser subtilen Coda endet das Buch, das selbst nichts anderes ist als ein Long Goodbye auf dem Friedhof, auf dem der Vater, der Bruder, die eigene Kindheit ruhen. Aber nein, noch endet es nicht. Das letzte Wort hat das Leben, nach einer Fast-Affäre startet der Held den Motor und verlässt die Stadt für immer.
  Und das allerletzte Wort hat die Mutter. Sie singt dem Kind am Bett Lieder vor. Der Sand in seinem Bauchnabel, ist es der Sand aus Dänemark, wo der Bruder ums Leben kam, nur weil der Junge vorzeitig den Strand verließ? Der Tod, die Schuld, der Trost, das mütterliche Prinzip, sie verschmelzen im Schluss dieses Romans, den man mit staunender Bewunderung aus den Händen legt.
MICHAEL MAAR
Auf der Heimfahrt im Zug
machen die Brüder schon Witze
über den Tod des kleinen Bruders
      
  
  
  
  
Rolf-Bernhard Essig: Die Kunst, Wasser zu fegen. Roman. Ch. Schroer Verlag, Lindlar 2013. 226 Seiten, 17,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit staunender Bewunderung legt Michael Maar dieses Romandebüt von Rolf-Bernhard Essig aus der Hand, das er für die besseren "Schoßgebete" hält. Allerdings sind die Passagen über die erwachende Sexualität des Erzählers, der sich an seine Kindheit und Jugend in einem bayerischen Flecken erinnert, nur ein kleiner Teil dessen, was den Rezensenten begeistert. Aufrichtig ist das Buch für ihn vor allem, da der autobiografische Ansatz auch vor den unangenehmen Wahrheiten nicht haltmacht. Ängste, die übermächtige Vaterfigur, die Tränen der Mutter, der Unfalltod des kleinen Bruders - all das wird laut Maar vom Autor geadelt durch diskrete Komposition und einen ebensolchen Stil, vor allem aber durch eine akribisch genaue Erinnerung.

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