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Produktdetails
  • Verlag: VAT Verlag André Thiele
  • Seitenzahl: 108
  • Erscheinungstermin: 3. Februar 2009
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 134g
  • ISBN-13: 9783940884060
  • ISBN-10: 3940884065
  • Artikelnr.: 25623834
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2009

Ordentlich gepfeffert
Scherbengericht: Sechs Essays von André Thiele

Wissen wir eigentlich, was wir tun, wenn wir unseren Lieblingsbeschäftigungen, sagen wir: dem Kochen, nachgehen? Sind wir uns darüber bewusst, dass wir es hierbei mit einer hochpolitischen Tat zu tun haben, je nachdem, welche Ingredienzien wir wählen, welche Gewürze wir benutzen, welche Saucen wir kreieren? André Thieles Essay zur Économie du goût kommt das Verdienst zu, uns über diese Fragen aufzuklären. Seine "Motive einer historischen Theorie der Kochkunst" setzen in der Steinzeit an, wo man naturgemäß bodenständig kochte und die noch dampfende Leber des Wildes dem Hordenführer zustand. Thiele erläutert im Anschluss daran die später einsetzende Bedeutung der Eintöpfe, in denen man vieles verschwinden lassen konnte, was man nicht als Zehnten abzugeben geneigt war. Die zentrale Funktion von Fischlake, Öl und Honig in der Antike und die von den Römern in absurder Übertreibung durchgeführte soziale Distinktion im Kochen und Bewirten bildet nach Thiele einen Meilenstein in der politischen Theorie des Kochens. Dabei kommt er immer wieder zu äußerst griffigen Thesen: "Der Abstieg des Feudaladels und der Aufstieg des Bürgertums sind untrennbar verbunden mit dem Gewürzhandel. Der Adel hat das Bürgertum durch seine Lust auf Gewürze reich gemacht."

Solche Sätze haben es in sich, bündelt sich in ihnen doch der Blick durch die Geschichte in einer synoptischen Klarheit, die uns auf einen Schlag die mühsame Durchforstung ganzer Bibliotheken erspart. Man erfährt auf gerade einmal zehn Seiten dieses Essays so viel über das verwirrende Gourmetsystem der Franzosen, das anstrengende Leben der Trüffelschweine und die kreativen Perversionen der Nouvelle Cuisine, dass man endlich wieder weiß, weshalb es Essays eigentlich geben sollte. Doch Thiele geht noch weiter in seiner Bereitschaft zur Materialverdichtung, als man es aus der herkömmlichen Essayistik kennt. Die sechs Historien, aus denen sein Band besteht, lösen ihr jeweiliges Thema in kleine und kleinste Abschnitte auf, die oftmals nur noch aus einem Satz bestehen. Sie geben viel zu denken und noch mehr an Informationen und zerstreuen zugleich ihre Aussagen, Belege und Behauptungen sprunghaft über den gesamten Raum des Textes. Wer von den Essays dieses Bandes die logische und lineare Darlegung eines Zusammenhangs erwartet, wird sechsmal enttäuscht. Thiele produziert eine Welt in Scherben, die niemand so schnell wird zu einer homogenen Fläche zusammensetzen können.

Die Auswahl der Themen tut ein Übriges zu dieser exzentrischen Haltung, die bisweilen mit snobistischer Nonchalance daherkommt. Man erfährt dabei viel Neues, vor allem aus den Abseitigkeiten des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts. So über den Bauerndichter Hinrich Janssen aus dem Oldenburgischen, seinen Kampf um die Deichordnung und sein nach dem Tod einsetzendes Verkanntwerden als Naturdichter. Gottsched, der Janssen schätzte, tritt auf und wird mittels dreier an ihn adressierter Briefe als politischer Autor vorgestellt. Dann wird Saul Ascher, der vergessene Aufklärer und Kämpfer für die Rechte der Juden, als der gezeigt, der er in Thieles Augen ist: "Avantgarde des dialektischen Materialismus".

Thiele schreibt mit dem Impetus des klassischen Aufklärers, der bei aller Kunstfertigkeit vor allem auf Polemik und zuweilen Dogmatik setzt. Die Kombination aus artistischer Bewusstheit und unbeugsamer Rechthaberei ist aus der Mode gekommen, und so verwundert es nicht, dass Thiele für seine Vorstöße nur zwei Gewährsmänner gelten lässt, bei denen das meiste, was er mitzuteilen hat, zumindest anklingt: Arno Schmidt und vor allem Peter Hacks. Thiele, der bis zum Tod von Hacks im Jahr 2003 sein Adlatus gewesen ist, scheut sich nicht, Hacks immer wieder als denjenigen anzuführen, der all das schon gewusst und vor allem gesagt hat, was Thiele selbst zu sagen hat. Der Autor bekennt sich zu Hacks und zu seiner spezifischen Form der literarischen Aufklärung, die in seiner Perspektive ebenso viel mit Brecht wie mit Thomas Mann und der klassischen Moderne zu tun hat. Auch Hacks' Bekenntnis zur Klassik und seine Ablehnung der Romantik kehrt bei Thiele ungebrochen wieder. Wobei ihm das Wichtigste zu sein scheint, niemals hinter die von Hacks gelieferten Erkenntnisse zurückzufallen; einen Fehler, so Thiele, den sich die literaturwissenschaftliche Forschung ununterbrochen leiste.

Selbstverständlich gehört Polemik zum guten Ton des Essayisten, schon gar, wenn sie mit der Verve des Aufklärers einhergeht. Thieles der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts verpflichteter Intellektualismus dürfte allerdings unter diesem Gesichtspunkt in der heutigen Essayistik einmalig sein. Bei der Würzung seiner Argumente entdeckt man die spezielle Note, mit der auch schon Peter Hacks die Leserschaft polarisiert hat und mit der er bis heute ebenso leidenschaftliche Zustimmung bei den einen wie verständnislose Ablehnung bei den anderen auf sich zieht. Vielleicht muss man bei Hacks in die Schule gehen, um zu lernen, wie man es anstellt, in historischen Fragen auf jeden Fall recht zu behalten. Thiele bietet dafür einen ebenso extravaganten wie aufwühlenden Unterricht.

CHRISTIAN SCHÄRF

André Thiele: "Eine Welt in Scherben". Essays & Historien. Verlag André Thiele, Mainz 2008. 108 S., br., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wozu Essayistik eigentlich gut ist - nach dieser Lektüre weiß Christian Schärf es wieder. Dass Andre Thiele bei Peter Hacks einst die hohe Schule des Rechthabens sogar in historischen Fragen gelernt hat, dass er Aufklärer im Stil des 18. Jahrhunderts ist und die Polemik beherrscht, weiß Schärf jetzt auch. Das Buch hält er für ein so extravagantes wie aufwühlendes Beispiel für Materialverdichtung bei zugleich größtmöglicher Streuung der Informationen über sämtliche Seiten und Abschnitte des Bandes und äußerster Sprunghaftigkeit des Autor. Von der Bedeutung der Eintöpfe zum Bauerndichter Hinrich Janssen ist's hier nicht weit, und der Weg dorthin ist alles andere als linear oder logisch. Ganz wunderbar!, freut sich der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH