Marktplatzangebote
9 Angebote ab € 6,99 €
Produktdetails
  • Verlag: Keicher
  • Seitenzahl: 311
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 418g
  • ISBN-13: 9783932843303
  • ISBN-10: 3932843304
  • Artikelnr.: 10143102
Autorenporträt
Ludwig Greve (1924 - 1991), als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Berlin geboren, emigrierte 1939 mit seiner Familie nach Frankreich und Italien. 1944 wurden Vater und Schwester in Italien verhaftet und nach Auschwitz deportiert; seine Mutter und er konnten sich retten und wanderten 1945 nach Palästina aus. 1950 kehrte Greve nach Deutschland zurück. Er wurde 1957 Mitarbeiter des Deutschen Literaturarchivs, 1968 bis 1988 Leiter der dortigen Bibliothek. Im Sommer 1991 ertrank er vor Amrum. Der Dichter wurde 1988 mit dem Stuttgarter Literaturpreis ausgezeichnet und 1992 für sein Gesamtwerk mit dem Peter Huchel-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2002

Ein Unterton von Glück
Mitgenommene Bücher: Ludwig Greve besucht die Villa Sardi

Als Ludwig Greve, bevor er Leitender Bibliothekar am Deutschen Literaturarchiv in Marbach wurde, dort in seinen Anfangsjahren einen Band Prosa von Rudolf Borchardt aus dem Regal zog, machte er eine beunruhigende Entdeckung. Er stieß auf den Text "Villa" und fand darin einen Ort detailgenau beschrieben, an dem er schon einmal gewesen war. Mit der Erinnerung stellte sich Beklemmung ein. Er lebte damals in einer Klosterzelle von Lucca versteckt, war zu einem sorgenfreien Wochenende in dies gastliche toskanische Landhaus eingeladen worden, hatte sich mit dem Grafen Sardi in der Bibliothek angeregt unterhalten und beim Abschied ein Buch eingesteckt. Entliehen? Mitgehen lassen? Ihm schlug das Gewissen. Er spürte dem Buch nach.

Reinhard Tgahrt hat dieses nachgelassene Fragment als Titel für einen Band gewählt, der jetzt verstreut gedruckte Texte Ludwig Greves sammelt. Er trifft das Ganze. "Ein Besuch in der Villa Sardi" ist die heiterste Fassung von Greves Lebensgeschichte, raffiniert erzählt: hakenschlagend, zwischen Ernst und Witz wechselnd, sprunghaft, die Zeitebenen ineinanderschachtelnd, frei - beim Spaziergang im Garten hätte der flüchtige Fremde beinahe die Tochter des Hauses geküßt.

Ludwig Greve ist kein Geheimtip mehr. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß er demnächst, so zurückgezogen er lebte und so lange seine Berühmtheit sich auf seinen Freundeskreis beschränkt hat, zu der kleineren Zahl erstaunlicher Dichter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezählt wird. Vermutlich wird das um so erkennbarer, je deutlicher man ihn als Gegenüber von Paul Celan begreifen wird.

Er war ein ungewöhnlich formbewußter Autor, der es mit den Spielregeln der Gattung genau nahm. Gedichte und Prosa sind in seinem Fall zwei Welten. Gedichte schrieb er, indem er auf eine Seite nur eine Zeile setzte und das Gebilde so über lange Zeiträume Seite um Seite und Zeile um Zeile wachsen ließ. "Das Gedicht, an dem ich schrieb, war sowas wie mein Boden, mehr hatte ich nicht." Das Ergebnis fiel in den sechziger, siebziger Jahren so aus dem Rahmen, daß es nicht einmal Anstoß erregte. Die etwa vierzig Stücke, die er insgesamt gelten ließ, erschienen zuletzt 1992 unter dem Titel "Sie lacht und andere Gedichte".

In der Prosa stieg er herab und machte sich leicht. Hier herrscht das Understatement als Lebenshaltung, er wählt den mittleren Stil: Selbstkritik, Selbstironie gehören dazu, nirgends Sentimentalität, und nur, wo es zwingend ist, fällt ein schweres Wort. Die Sprache bekommt etwas Beiläufiges, einen mündlichen Klang. "Ich mußte doppelt und dreifach Lehrgeld zahlen, ehe mir aufging, daß das Leichte sich besser hält." - In diesem Ton ist die Fragment gebliebene Jugendgeschichte geschrieben, die 1939 in einem Kinderheim bei Paris mit der Kriegsmeldung abbricht. Er hat seit den siebziger Jahren bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 1991 daran geschrieben. Es fehlen Jahre, die er in Frankreich unter französischem Namen lebte, der Übergang über die Alpen, wo er an einem Januartag 1944 Schwester und Vater verliert, Italien. Von 1945 bis 1950 hat Greve in Palästina gelebt, dann kehrt er nach Deutschland zurück, in die Gegend um Stuttgart.

Der hier vorgelegte Band ist ein Dokument seiner leichthändigen, genauen Prosa. Man könnte ihn "Die Wiedereinbürgerung" nennen: Greve war auch im Umgang ein Erzähler, ein Porträtist, der die liebenswerten Eigenheiten seiner Freunde festhielt und sie gelegentlich nachahmte. Der Band enthält vorzügliche Porträts: Maria Kasack (die Witwe Hermann Kasacks), Max und Margot Fürst, die Marbacher Gründerfigur Bernhard Zeller, Eduard Berend. Ein vielfacher Dank gilt HAP Grieshaber. Freundschaft war die Brücke, auf der er wieder Vertrauen faßte.

Alle seine Texte, die Gedichte, die Jugendgeschichte, die Porträts, sind Bruchstücke einer anziehenden Biographie. Es gibt Notizen über Dichter und Gedichte: ein Aufsatz über Else Lasker-Schüler und ein unwirscher, ablehnender Kommentar zu dem berühmten Gedicht "Weltende" von Jakob von Hoddis stechen hervor. Eine andere Gruppe umfaßt Bemerkungen vor Bildern: 1955 hat Greve eine Ausstellung mit Zeichnungen und Plastiken von Günter Grass eröffnet; als Grass Jahrzehnte später Greves Gedichtband "Bei Tag in Marbach" kennenlernte, meinte er: "Du warst schon immer ein Tiefstapler." Ein souveränes Stück ist die Rede bei der Eröffnung der Gottfried-Benn-Ausstellung 1986: Nüchtern, mit kühler Treffsicherheit und äußerst kritischer Distanz nähert er sich, bei ernstem Respekt vor dem Exzeptionellen, das standhält, dem "beziehungslosen Ich" ("sagen wir zwei Drittel Nietzsche, ein Drittel La Paloma"); zugleich gelingt es ihm, den Verehrern Benns nicht zu nahe zu treten.

Die Freiburger Rede "Warum schreibe ich anders?" ist hier noch einmal abgedruckt, zu Recht - seine einzige poetologische Äußerung ist der dunkel grundierte Kontrapunkt zum Besuch in der Villa Sardi. Es war die Vorrede zu einer Lesung von Gedichten, der nahezu einzigen öffentlichen Lesung, die Greve am 7. Dezember 1979 vor etwa 25 Studenten in Freiburg gehalten hat. Man sollte sie in den ungeschriebenen Kanon aufnehmen und ihr die Büchnerpreisrede "Der Meridian", die Paul Celan 1960 in Darmstadt gehalten hat, gegenüberstellen. Die Parallele ist sehr merkwürdig; ob gewollt oder, was durchaus möglich scheint, unbeabsichtigt, Greves Rede ist ihr genaues Gegenstück.

Die Ausgangsposition war vergleichbar, die Antwort grundverschieden. Greve antwortet konkret, lebensgeschichtlich. "Daß ich leben wollte, machte mich schuldig, davon konnte mich niemand freisprechen." Das Gedicht ist ihm Sühne und Freispruch, die Form ein Halt und Widerstand: "Andere suchen Halt in einer Gruppe oder Überzeugung, ich fand ihn in der alten, immer neu zu gewinnenden Form der Ode. Anfangs scheute ich davor noch zurück, weniger aus Angst, einem Schulmuster zu unterliegen oder es zu parodieren, als aus dem Gefühl des Ungenügens; erst, als ich mich stellen mußte, in dem Gedicht an meinen Vater, faßte ich Mut zu ihr, weil sie der bald drängenden, bald stockenden Anrede Widerstand bot. Es zeigte sich, daß mir so eine Sprache, sagen wir, der Sterblichkeit gelang, die vielleicht vor beiden bestehen kann, den Opfern wie den Lebenden. Das gibt manchen Gedichten, ob ich auch schweren Mutes anfing, so einen Unterton von Glück, warum sollte ich das leugnen."

UWE PÖRKSEN

Ludwig Greve: "Ein Besuch in der Villa Sardi". Porträts. Gedenkblätter. Reden. Herausgegeben von Reinhard Tgahrt. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2001. 312 S., geb., 17,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ludwig Greve, der 1991 verstorbene leitende Bibliothekar am Deutschen Literaturarchiv in Marbach, ist, meint Uwe Pörksen, "kein Geheimtipp" mehr. Greve war nicht allein mit der Archivierung der Texte anderer beschäftigt, er schrieb auch selbst. Einen Teil seiner Schriften hat nun Reinhard Tgahrt zusammengestellt, berichtet der Rezensent, der überzeugt ist, dass Greve noch späte Ehrungen für sein Werk erwarten werden. Seine Texte habe Greve "ungewöhnlich formbewusst" geschrieben: Gedichte entstanden "über lange Zeiträume" Zeile um Zeile, während die Prosa leichter von der Hand gegangen sei. Die stecke voller Selbstkritik, Ironie, "Beiläufigkeit" und sei niemals sentimental, schwärmt Pörksen. Der Band enthalte, so der Rezensent, "vorzügliche Porträts" über Maria Kasack, Max und Margot Fürst, Bernhard Zeller und Eduard Berend, einen Aufsatz über Else Lasker-Schüler und einen "ablehnenden Kommentar" zu Jakob von Hoddis "berühmtem" Gedicht "Weltende" sowie eine "souveräne" Rede über Gottfried Benn, listet Pörksen eine kleine Auswahl von Kostbarkeiten aus dem Nachlassschatz des Marbacher Leiters auf.

© Perlentaucher Medien GmbH