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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Fritz J. Raddatz glaubt, mit seiner Rezension des sechsbändigen Werks von Karl Mickel einen zu Unrecht fast Unbekannten zu würdigen. In den Gedichten, den Essays und einem Romanfragment sei die DDR kritisch erfaßt, und Mickels Arbeiten hätten mit "gefälliger Wartezimmerlektüre" nichts gemein. Raddatz preist den Autor als herausragenden Lyriker, der eine ganz eigene "Poetik des Konkreten" zum Ausdruck bringe und dennoch seine geistesgeschichtlichen Wurzeln nicht verleugne. In seinen anspielungsreichen Gedichten, die Anlaß zu erbitterten Literaturdebatten gegeben hätten, artikuliere sich sein überragendes Sprachgefühl und in einer Gesellschaft, die den Optimismus zum politischen Programm gemacht habe, habe er den Mut zu seinem "Canto der Trauer" gehabt. In den Essays bewundert Raddatz seinen Wissensreichtum und seine Gedankenschärfe. Wenn er etwas am Gesamtwerk Mickels auszusetzen hat, dann nur, dass der abgedruckte Roman bisher Fragment geblieben ist. Und so fordert er zum Schluß vehement und ungeduldig dessen zweiten Teil.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.04.2000

Kein Trost nirgendwo, aber Lust des Erkennens
„Gelehrtenrepublik”: Karl Mickel bereichert mit seinen Aufsätzen und Studien die Deutsche Dichtungsgeschichte
Durch meine Lesetage der letzten neun Jahre ziehen sich die Gedanken Karl Mickels zur deutschen Verskunst im Besonderen und zur Dichtung im Allgemeinen. Das macht: Es gab da den Band 1363 bei Reclam Leipzig, Gelehrtenrepublik. Aufsätze und Studien, und wer Klopstock für unterschätzt hält und den Lyriker Mickel kennt, der musste natürlich gleich zu solchem Band greifen. Der drohte zunächst aber auch für mich im Strudel des untergehenden Buchmarktes der untergehenden DDR zu verschwinden; doch an einem scheußlichen Novembertag des Jahres 1991 fand ich gleich drei Exemplare dieses Titels von Karl Mickel in einer winzigen Buchhandlung in Potsdam. Der Band wurde zu einem Brevier mit Einsichten zur Dichtung von Brockes bis Gressmann, von Ewald von Kleist bis Thomas Rosenlöcher.
Wenn auch der Schwerpunkt von Mickels Band bei der „Verskunst” (nicht einfach: der Lyrik) zwischen 1750 bis 1850 liegt (nun gut, Benn und Brecht, Endler und Rainer Kirsch und B. K. Tragelehn kommen dann schon auch dazu), so ist er doch vor allem auch zu lesen als Sammlung von Beiträgen zum unvollendeten Projekt einer undogmatischen historisch-materialistischen Ästhetik. Für Mickel, geboren 1935, soll „undogmatisch” hier heißen, dass er unsystematisch vorgeht, nicht auf Theorie & Totalität aus ist, sondern angeleitet von seinem konkreten Interesse sowohl für Verse und deren Gesprochen-werden (er ist nicht umsonst Verslehrer, sozusagen: Prosodiker an der „Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch” in Berlin) als auch für Geschichte (er ist nämlich studierter Wirtschaftshistoriker). Nicht: Dichtung muss sich aus Geschichte „ableiten” lassen und verantworten, sondern: Aus Dichtung spricht Geschichte, Dichtungen sind Indices des jeweiligen Standes der Gesellschaft, als der Kämpfe, die sie durchtoben.
Also wird bei Mickel nicht einfach Lyrik erfahrbar, sondern Deutschland wird darin greifbar, von den Kriegen jenes Friedrich, den manche den Großen nennen, bis zum Zeitalter eines Kapitalismus, der einschränkungslos triumphiert zu haben scheint. (Gegenstand der Dichtung, sagt Mickel, ist nicht Politik, sondern Geschichte. )
Und da ist zu lernen: Von den Schäferpaaren der Anakreontik über die Gedichte Wilhelm Müllers und dann Philemon und Baucis wird dem „Hohen Paar” nachgegangen; der historische Materialist Mickel denkt nicht daran, den Fürstenfreund Goethe einfach abzufertigen, sondern führt mit „Kaltsinn” (einer seiner Lieblingsbegriffe), cool, mit fast gepresst disziplinierter Stimme die Abgründigkeit von Goethes Gedichten „Kriegsglück” und „Reisezehrung” vor; er zeigt die Dynamik Klopstocks und seine Hinterfotzigkeit etwa bei einem Gedicht, das öde-reines Fürstenlob zu sein scheint; er gibt eine Liebeserklärung an Major Ewald von Kleist ab und belegt, dass dieser Kleist mit vier Verszeilen des Gedichts „An Herrn Rittmeister Adler” auf der Höhe der Weltliteratur war; und schließlich analysiert Mickel ein Mörike-Gedicht, „Abreise”, dergestalt, dass dessen Unauffälligkeit sich zur Sensation verkehrt – plötzlich rückt es neben Goethes „Alexis und Dora” . . .
Stellt man solche Interpretationen und Reden, Programmheft-Texte und kleine Thesen-Kataloge neben die üblichen Zeugnisse der „Erbe-Pflege” der DDR, wird einem klar, wie unbotmäßig schon Mickels trockene, gestauchte Sprache bei der üblichen sozialistischen Soigniertheit und deren staatserhaltendem Duktus wirken musste: „ehrfürchtiges Gelächter” sei, sagt Mickel schon 1966, das richtige Verhältnis zu den Klassikern, und also kann vergnügt manchen Dichtungen Wielands der Charakter „heiterer Pornografie” bescheinigt werden, kann sachlich und unterspielt genüßlich über die Saftigkeit zweier Gedichte Thomas Rosenlöchers geredet werden; der Kenner von Legitimationsproblemen im Spätfeudalismus aber nimmt sich dann Goethes Natürliche Tochter vor, ein nicht gerade fortschrittliches Stück, ein obendrein kaum spielbares, marmorkühles (mit hinreißender Schönheit der Verse allerdings) – und dann erweist sich dies Stück als Beleg für das abgefeimte Durchschauen der abgründigen Legitimationsprobleme, vor welchen der Adel um 1800 stand, die aber nur zwei, die von außen blicken, nämlich damals Goethe und heute Mickel, sehen können, woran dann wiederum die simple Anklage Goethes als Fürstenknecht zu Schanden wird.
Und so fortan, nämlich über das Jahr 1990, in dem die Gelehrtenrepublik in zweiter Auflage bei Reclam erschien, hinaus bis zur Gegenwart. Denn Gelehrtenrepublik. Beiträge zur Deutschen Dichtungsgeschichte heißt nun der Band 5 der Schriften von Karl Mickel, eben im Mitteldeutschen Verlag in Halle als ein löblich gestaltetes, strahlend graues, mächtiges Buch erschienen, in einem Verlag, der mit unglaublicher Treue an seinem großen Autor festhält: Auch wenn die Zeiten mal schlechter sind und der Dichter sich gerade nicht in allgemeiner Aufmerksamkeit sonnen kann – verramscht wird nichts! Mickel hat Reden, Interviews und kleinere Texte zu Dichtern und zu Malern aus den letzten zehn Jahren hinzugefügt, und was wir nun haben, ist nicht einfach ein Band Literaturgeschichte, es sind auch nicht einfach nur Essays oder Ähnliches, sondern es ist ein Buch zur – im emphatischen Sinne – Deutschen Dichtungsgeschichte, die, schon indem sie so apostrophiert wird, etwas von ihrer Würde und ihrem Gewicht zurückbekommen soll. Wenn die Deutschen noch Wert darauf legten, etwas von ihrer Nationalkultur zu wissen, ja überhaupt eine zu haben, gehörte dieser Band dazu. „Frage: Kann das Gedächtnis der Klassiker aus den Köpfen der Deutschen getilgt werden? – Antwort: Ja. ,In Froschpfuhl all das Volck verbannt, / Das seine Meister je verkannt. ‘”
So steht es in Mickels „Albumblatt” von 1998, und wenn er zum Beispiel von „National-Autoren” spricht, ist er über jeden Chauvinismus-Verdacht erhaben; er provoziert im übrigen nicht das Ausland, sondern gewissermaßen das Inland, soweit es sich für die Geschichte und das Fortleben der eigenen Literatur interessiert, er spricht über Goethes Pandora und Wielands Peregrinus Proteus wie ein intensiv Liebender, wie eben einer spricht, der mit Tragelehn und Braun und den Kirschs und anderen die „Sächsische Dichterschule” bildete und als Lyriker innerhalb des literarischen Feldes der DDR so etwas wie ein ,Experimenteller‘ war und ist – man lese sein Gedicht „Odysseus in Ithaka” von 1965 oder, aus den letzten Jahren, das Montage-Gedicht „Grabung”, und man liest Dichtung, die auf Geschichte groß und genau reagiert, nicht auf Politik. Mickel will einen nachdrücklichen Begriff von Dichtung hochhalten, und er will sowohl bekennen wie Maßstäbe setzen: „Das gegenwärtig sich schließende Jahrhundert hinterlässt zwei klassische National-Autoren, Bertolt Brecht und Arno Schmidt. Brecht dichtete die Katastrophe als Idyll, Schmidt die Idyllen jenseits der Katastrophen. ” Da bleibt einem doch die Spucke weg – solche Einschätzung dann also neben einer Rede, in der Ernst Jünger und Arno Schmidt neben Gottfried Benn gerückt werden und in der Mickel sich erfrecht, eine kleine Korrektur in einem Vers von Benns Gedicht „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke” vorzunehmen!
Es rumort vor Energie in den Schriften Mickels, und das kommt daher, dass hier nicht Wahrheiten augenfällig gemacht werden, sondern in ihrem Zustandekommen vorgeführt werden: Die „Abenteuer des Erkenntnisprozesses” (mit ungewissem Ausgang, in der ganzen Nichtschlichtbarkeit der Widersprüche dieser Welt) werden dem Leser zugemutet, sowohl in Mickels Gedichten wie in seinen meist lakonischen, von Spott durchsetzten Beiträgen zur Dichtungsgeschichte. „Alterswerke besichtigen das Zeitalter. Die Besichtigung des 20. Jahrhunderts steht aus. ”
Ja, und die Besichtigung der Geschichte und Bestände der DDR, auch der Literatur der DDR, beginnt jetzt, im wachsenden Abstand, vielleicht gerade erst. In einem ganz anderen Sinn kann „Erbepflege”, Musterung der DDR-Bestände, jetzt einsetzen, und es wird sich lohnen, genauestens das Werk von Karl Mickel zu besichtigen, allem anderen voran diesen so unendlich instruktiven, überrumpelnden und beglückenden Brocken mit Karl Mickels Schriften zur – ja, zweimal mit großem „D”! – Deutschen Dichtungsgeschichte.
JÖRG DREWS
KARL MICKEL: Schriften, Band 5. Gelehrtenrepublik. Beiträge zur Deutschen Dichtungsgeschichte. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2000. 674 Seiten, 49 Mark.
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