Produktdetails
  • Verlag: Tropen Verlag
  • ISBN-13: 9783932170560
  • ISBN-10: 3932170563
  • Artikelnr.: 10637175
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002

Aus Liebe zum Nichts
Jonathem Lethem beschleunigt Teilchen / Von Verena Lueken

Das Nichts blieb als gefräßiger, gleichzeitig außerordentlich wählerischer Rest eines gescheiterten Versuchs zur Reproduktion des Urknalls über dem Tisch des Physiklabors schweben. "Leck" wurde dieses Nichts getauft, das so rätselhaft war und so wenig tat, was die Forscher ursprünglich von ihm erwartet hatten, daß es für eine Weile das am aufmerksamsten beobachtete Objekt am Institut für Quantenphysik eines College irgendwo in Amerika wurde und dann vom allgemeinen Interesse abrutschte in den Rang eines Beiprogramms für Besessene. Von ihm nicht lassen können ein von weit her angereister Dekonstruktivist, ein italienischer Physiker, vor allem aber die Teilchenforscherin Alice Coombs. Alice verliebt sich in das unfaßbare Objekt.

Objekt ist nicht ganz das richtige Wort, genauer (und kaum weniger hand- und fußlos) wäre es, das Nichts ein Loch im Kontinuum von Raum und Zeit, ein paralleles Universum also zu nennen, das sich nicht mit dem unseren verbinden will. Gleichwohl ist es da, und wenn jemand zum Beispiel einen Granatapfel, die Wohnungsschlüssel von Alice oder auch eine Katze über den Tisch schiebt, wird all dieses von Leck geschnappt und zum Verschwinden gebracht. Leck, das Vakuum, das weltliche Dinge in eine unsichtbare Gegenwelt verschleppt, entwickelt geheimnisvolle selektive Fähigkeiten. Was Leck nicht mag, läßt es interesselos vorbeigleiten und von der Tischkante auf den Boden plumpsen. Zum Beispiel Alice selbst. Dabei hat sie bereits für das Nichts ihren Lebensgefährten Philip verlassen.

Jonathem Lethem, der die Dreiecks-Liebesgeschichte mit dem Nichts in seinem Roman "Als sie über den Tisch kletterte" erzählt, führt seinen Leser ins Unterholz der Paradoxien, in ein Gestrüpp des Absurden. Doch an der Hand des Autors glaubt der Leser, alle von der Logik und dem Alltagsverstand aufgebauten Stolpersteine souverän zu überwinden - bis er versucht, von seinen Ausflügen seinerseits zu berichten, und steckenbleibt. Nur in der Sprache des Autors selbst gewinnt "Leck" und alles, was dieses Nichts anrichtet, eine überzeugende Gestalt.

Denn natürlich ist Lethems Buch keine physikalische Fallstudie, die sich jenseits seiner Erzählung reproduzieren ließe, sowenig wie sein Roman "Motherless Brooklyn" (jenes Buch, das Lethem in den Vereinigten Staaten und in Europa über einen Zirkel von Eingeweihten hinaus bekannt machte) eine psychopathologisch-neurologische Erkundung des Tourette-Syndroms war, das für den Sprachsalat im Mund des Helden sorgte. "Als sie über den Tisch kletterte" wurde 1997, zwei Jahre vor "Motherless Brooklyn" in den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Daß der Roman erst jetzt übersetzt vorliegt, wird hoffentlich keinen Leser dazu verleiten, ihn für den neuen Roman von Lethem zu halten. Er ist deutlich eine Studie für das spätere (und bessere) Buch, eine Studie, in der Lethem die Grenzen von Sprache austariert - jene Grenzen, hinter denen Wörter überhaupt nichts bedeuten. Gleichzeitig testet er hier die Dehnbarkeit von Sprache und probiert aus, was gerade noch sagbar ist, wenn es ums Nichts geht.

Die Form, die er dazu wählt, ist eine Campussatire, die keineswegs versteckte Anleihen bei Lewis Carrol nimmt. Dieses Genre folgt strengeren Regeln als zum Beispiel die Detektivgeschichte, mit der Lethem in "Motherless Brooklyn" experimentierte. Ohne Institutsparty, Kollegenzwist und Konfrontation des Lehrkörpers mit der Studentenschaft kommt kein Campusroman über die Runden. "Als sie über den Tisch kletterte" hat all diese Elemente, und ein Teil der Komik des Buchs entsteht natürlich dadurch, daß alle Lesererwartungen an das Genre selbst in dieser Geschichte ums Nichts erfüllt werden. Gleichzeitig gibt dieses strenge formale Gerüst dem Autor die Freiheit, seine aberwitzige Geschichte mit einigen tieferen Einsichten über die Liebe und über den Charakter des Sehens und Erkennens zu verbinden. Wobei das Sehen selbst in Frage steht. Über zwei Blinde, einen Schwarzen und einen Weißen, bringt Lethem die Frage in Umlauf, ob das Sehen nicht vielleicht allgemein überschätzt wird, weil es nichts anderes sei als eine weitverbreitete Sinnestäuschung über die Wirklichkeit.

Philip, der Ich-Erzähler und Lebensgefährte von Alice, ist ein Mann mit scharfem Verstand, dessen Doktorarbeit über die "Theorie als Neurose des Berufswissenschaftlers" ihn als professionellen Beobachter des Universitätslebens ausweist - und Lethem als DeLillo-Leser. "White Noise" ist neben "Alice im Wunderland" hier der deutlichste Einfluß. Philip ist es auch, der dafür sorgt, daß wir die zahllosen Bezüge auf Derrida, Foucault und so weiter nicht übersehen, wodurch das physikalische Experiment im Verlauf des Romans in die Humanwissenschaften hinübergleitet. Ist die wahre Liebe, in einer Art wissenschaftlich zu Ende gedachter Konsequenz des romantischen Ideals, möglicherweise die, in der - wie nach langer Qual Alice und auch Philip endlich verstehen - sich das liebende und das geliebte Objekt vollkommen angleichen? Und in dieser Auflösung von Unterschieden und Identitäten alles, die Liebenden wie die sichtbare Welt, zum Verschwinden bringt? Liegt die Erfüllung im Liebestod im Nichts?

Es ist das Wesen der Satire, daß diese Fragen zwar gestellt, aber keine Hinweise zu ihrer ernsthaften Beantwortung gegeben werden. Sie sterben nicht, die Liebenden bei Lethem. Aber sie verschwinden, zumindest vom Campus.

Jonathem Lethem: "Als sie über den Tisch kletterte". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Zöllner. Tropen Verlag, Köln 2002. 249 S., geb., 17,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Über den Tisch geklettert wird in dieser Mischung aus Campus- und Science-Fiction-Roman des New Yorker Schriftstellers Jonathan Lethem, im Original bereits 1997 erschienen, tatsächlich, berichtet Tobias Rapp. Nämlich über den Tisch des "Professors für Professorenforschung" Philipp Engstrand, dessen Lebensgefährtin, eine Teilchenphysikerin, versucht, ein hinter einem Tisch befindliches Leck, in dem manche Dinge verschwinden, andere nicht, zu erkunden. Das Buch ist, ähnlich wie die meisten anderen Werke Lethems, eine Mischung aus verschiedenen Genres, befindet der Rezensent. Ihm erscheint es außerdem als eine Vorarbeit zu dem ebenfalls gerade auf Deutsch erschienen Roman "Motherless Brooklyn", also als eine Art "Fingerübung" des Autors. Wäre der inzwischen durch "Motherless Brooklyn" nicht berühmt geworden, wäre der Roman in Deutschland wegen seiner Science-Fiction-Anklänge vermutlich nicht im "kleinen, aber feinen" Tropen Verlag erschienen, sondern allenfalls im "großen und weniger feinen" Heyne-Verlag, sinniert der Rezensent.

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