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Produktdetails
  • Wolffs Broschur
  • Verlag: Friedenauer Presse
  • Seitenzahl: 144
  • Erscheinungstermin: Oktober 2007
  • Deutsch
  • Abmessung: 14mm x 123mm x 183mm
  • Gewicht: 170g
  • ISBN-13: 9783932109539
  • ISBN-10: 3932109538
  • Artikelnr.: 22809570
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2007

Beim Weißflankendunkeltyrann

Er wuchs unter Gauchos auf und gilt, obwohl er englisch schrieb, heute als argentinischer Nationaldichter und Pionier der modernen lateinamerikanischen Erzählliteratur: Zu entdecken ist W. H. Hudson.

Von Hans Christoph Buch

Leslie A. Fiedler, ein akademisches Enfant terrible und Vordenker der postmodernen Kulturwissenschaft, unterteilte die angloamerikanische Literatur in zwei miteinander verfeindete Volksstämme: Rothäute und Bleichgesichter. Auf der einen Seite Tramps wie Herman Melville und Jack London, die viele der in ihren Romanen erzählten Abenteuer selbst erlebten, auf der anderen Seite Stubenhocker wie Henry James oder T. S. Eliot, die aus Protest gegen das kulturlose Nordamerika nach England übersiedelten und nur ungern den Schreibtisch verließen.

So besehen ist W. H. Hudson, der mit Vornamen William Henry oder Guillermo Enrique hieß, der Häuptling der Rothäute und zugleich ein missing link zwischen Europa und Südamerika. Der Freund Joseph Conrads, Vorbild von John Galsworthy und Ford Madox Ford, war und ist einer der großen Unbekannten der angelsächsischen Literatur, obwohl oder weil Argentinien ihn zu seinen Nationaldichtern zählt und einen Anden-Gipfel nach ihm benannte - eine Ehre, die keinem anderen Schriftsteller widerfuhr. Wer auch nur eine Seite von ihm gelesen hat, versteht, warum Hemingway ihn als seinen Lieblingsautor bezeichnet und Joseph Conrad, sonst eher geizig mit Lob, Hudsons Stil so charakterisiert: "Er schreibt seine Worte nieder, wie der liebe Gott das grüne Gras wachsen lässt."

Der Vergleich ist gut gewählt, denn W. H. Hudson (1841 bis 1922) war der Prototyp eines outdoor man und fühlte sich unter freiem Himmel wohler als unter einem schützenden Dach: "Der Mann, der seinen Lebensweg dadurch beendet, dass er von seinem Pferd stürzt oder weggerissen wird und ertrinkt, wenn er einen angeschwollenen Fluss durchwatet, hat in den meisten Fällen ein glücklicheres Leben als der verbracht, der in einem Kontor oder Speisezimmer an Schlagfluss stirbt" - so hat Hudson sein literarisches Credo zusammengefasst. Nach seiner Kindheit und Jugend in der argentinischen Pampa, wo er unter Gauchos aufwuchs, begann er erst spät zu schreiben, in einer Sprache, die ihm fremd geworden war und die er sich mühsam neu aneignen musste. Vielleicht erklärt das seine Freundschaft zu expatriates wie dem englisch schreibenden Polen Jozef Korzeniowski alias Conrad, mit dem der von Buenos Aires nach London verpflanzte Sohn amerikanischer Eltern sich seelenverwandt fühlte.

Anders als Conrad aber war Hudson kein Seefahrer, sondern das genaue Gegenteil: ein Landmann im ursprünglichen Sinn des Worts, der gern vom Pferd stieg, um die Erde unter seinen Füßen zu spüren, und dem Argentinien, die grüne Pampa und die menschenleeren Einöden Patagoniens, zur zweiten Heimat geworden war, verklärte Kindheitserinnerung und verlorenes Paradies im utopischen wie auch erotischen Sinn: "Wenn wir zum erstenmal in einer Gegend, wo sonst nichts als ein Feigenblatt ,Eingang in die Seele gefunden hat', Männer und Frauen nackt und ohne sich zu schämen umhergehen sehen, empfinden wir einen leichten Schock, doch es liegt mehr Vergnügen darin als Pein."

Hudsons literarisches Werk entstand nach Beendigung seiner Lehr- und Wanderjahre in London, und es ist die unüberbrückbare Distanz zwischen Wildnis und Zivilisation, die seine Suche nach der verlorenen Kindheit so fruchtbar macht. Die zitierten Sätze stammen aus dem nun auch auf Deutsch erschienenen Buch "Müßige Tage in Patagonien", das wie Turgenjews "Aufzeichnungen eines Jägers" mehr ist als poetische Naturbeschreibung und romantischer Reisebericht: ein philosophischer Essay, ästhetische Grundlagenforschung, die sich als Betrachtung der Vogelwelt tarnt. Seine Leidenschaft war die Ornithologie, und bevor er zu schreiben begann, hatte W. H. Hudson sich durch Ausstopfen selbsterlegter Vögel, die er ans Smithsonian Institute nach Washington schickte, ein Zubrot verdient und in der Fachwelt einen Namen gemacht: Sein Buch "Birds of La Plata" gilt als Standardwerk, Hudsons Schilderungen der argentinischen Fauna gingen in "Brehms Tierleben" ein, und zwei Vogelarten wurden nach ihm benannt: der Weißflankendunkeltyrann (thaeotriccus hudsoni) und der Nördliche Flügelspiegelcanastero (asthenes hudsoni).

"Während ich sprach, nahm ich einen Revolver in die Hand; und mein Gefährte hatte gerade begonnen, mir zu erzählen, dass dies ein Revolver mit einer ganz besonderen Marotte sei, als das Ding mit einem schrecklichen Knall losging und mir eine Kugel ins linke Knie jagte." Mit diesem Missgeschick beginnt "Müßige Tage in Patagonien": Der Titel ist wörtlich gemeint, denn der Schuss ins eigene Bein zwingt Hudson zur Muße, und statt auf Pirsch zu gehen, liegt er untätig auf dem Rücken wie Gregor Samsa bei Kafka und beobachtet den Tanz der Fliegen, "welche sich in alle Richtungen wieder und wieder kreuzten, um eine Reihe fremdartiger Schriftzeichen in die Luft zu schreiben, die alle zusammen einen fremdartigen Satz bildeten - das Geheimnis aller Geheimnisse!"

"Das offenbare Geheimnis" heißt das Hauptwerk des für seine Sprachkunst gerühmten Insektenforschers Jean-Henri Fabre, eines Zeitgenossen von Hudson, dessen Romane mehr sind als exotische Kuriositäten oder ferne Echos aus einer versunkenen Welt: "Far away and long ago" (Weit weg und lange her) lautet der Titel seiner Autobiographie, Hemingways Lieblingsbuch, das hierzulande noch der Entdeckung harrt. Es handelt sich um Weltliteratur im klassischen und zugleich aktuellen Sinn, wie Hudsons großartiger Erzählband "El Ombú" beweist, der, von Rainer G. Schmidt kongenial übersetzt und kenntnisreich kommentiert, endlich auf Deutsch vorliegt. "Komm, Freund Nicandro", pflegte er zu sagen, "setzen wir uns in den Schatten und rauchen wir unsere Zigaretten und reden wir von unseren Tieren. Hier unter diesem alten Ombú gibt es keine Politik, keinen Ehrgeiz, keine Intrigen, keine Feindseligkeiten - keine Bitterkeit außer in den Blättern des Ombú."

Nicht der Autor, so scheint es - das raschelnde Laub des in der Pampa meilenweit sichtbaren Baums hat diese Geschichten erzählt, die so gut geschrieben, spannend und abgründig sind, dass sie Generationen von Lesern begeisterten. "Meistererzählungen" ist das richtige Wort dafür, obwohl oder weil die Texte das Stigma ihrer Epoche tragen. Ähnlich wie bei Conrad wird das Verhalten der Protagonisten von animalischen Instinkten gesteuert, eine vulgärdarwinistische Psychologie (obwohl Hudson an anderer Stelle gegen Darwin polemisiert), die den Menschen auf bloße Triebhaftigkeit reduziert, bis das aus dem Bewusstsein Verdrängte als reißende Bestie wiederkehrt. Über diese Art von Primitivismus, die sich gern mit Rassismus verband - man denke nur an "Wolfsblut" von Jack London oder die Tarzan-Romane von Edgar Rice Burroughs -, ging Hudson weit hinaus, weil er kein eifernder Ideologe, sondern ein Naturmystiker war, ein Schamane genauer gesagt, der Mensch und Tier die Plätze tauschen ließ und so den modernen lateinamerikanischen Roman vorwegnahm.

Der magische Realismus von García Márquez hat hier seine Wurzeln ebenso wie die phantastische Literatur von Borges, der Hudsons Buch "The Purple Land" der Gaucho-Poesie zurechnete und "als eines der ganz wenigen glücklichen Bücher auf Erden" bezeichnete. Die Eigenart dieses englisch-argentinischen Autors, dessen Lebensregel "Verhätschele niemanden - verfolge niemanden" hieß, wird noch deutlicher, wenn man liest, wie Hudsons Lektor 1901 "El Ombú" zur Veröffentlichung empfahl: "Ich sagte ihm, dass er ein Meisterwerk geschrieben habe. Seine ernste Schönheit, seine tragische Süße hätten mich bei der Lektüre gleichsam vom Erdboden abgehoben. Hudson starrte mich mit erstauntem Blick an, als ob er mich zu vernichten wünschte."

- W. H. Hudson: "Müßige Tage in Patagonien". Aus dem Englischen übersetzt von Rainer G. Schmidt. Achilla Presse Verlagsbuchhandlung, Butjadingen 2007. 240 S., geb., 18,- [Euro].

- W. H. Hudson: "El Ombú". Südamerikanische Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Rainer G. Schmidt. Friedenauer Presse, Berlin 2007. 152 S., br., 16,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als faszinierenden Autor, den es nicht nur hierzulande auch nach hundert Jahren noch zu entdecken gilt, preist Hans Christoph Buch den in England geborenen und in englischer Sprache schreibenden argentinischen Nationaldichter W.H. - für William Henry beziehungsweise Guillermo Enrique - Hudson. Hudson war Ernest Hemingways erklärter "Lieblingsautor", ein großer Vogelbeobachter, nach dem fachsprach-lateinisch auch der Weißflankendunkeltyrann (thaeotriccus hudsoni) benannt wurde. "Großartig" findet Buch die in diesem Band versammelten Erzählungen, denen es weder an Tiefe noch an Spannung fehlt, die sich aber auch lesen, als hätte "das raschelnde Laub" sie geschrieben und nicht irgendein Autor. Der Mensch tritt darin auf als von Trieben gesteuertes Wesen, was zwar "vulgärdarwinistisch" klingt (und wohl auch gemeint ist) - dennoch müsse man sich Hudson nicht als dem Rassismus, sondern einem ganz eigenen "Schamanismus" zuneigend vorstellen. Gewiss seien die Texte ihrer Zeit verhaftet, meint Buch - aber wie sie sie zugleich transzendieren, das beweise eben die ganze Meisterschaft ihres Autors.

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